Historisches Urteil: Bundesverfassungsgericht kippt Gesetzesgrundlage für Wiederaufnahme von Strafverfahren gegen Freigesprochene
Entscheidung mit Tragweite: Verfassungswidrigkeit von § 362 Nr. 5 StPO festgestellt
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem wegweisenden Urteil die gesetzliche Grundlage zur Wiederaufnahme von Strafverfahren gegen bereits freigesprochene Personen für verfassungswidrig erklärt. Der betroffene Paragraf, § 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung (StPO), wurde erst im Dezember 2021 durch das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" eingeführt. Dieser kontroverse Paragraph ermöglicht die Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten liefern.
Einstimmige Entscheidung: Verstoß gegen Grundgesetz und Rückwirkungsverbot
Das Bundesverfassungsgericht urteilte einstimmig, dass § 362 Nr. 5 StPO nicht mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) und dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar ist. Die Regelung verstößt gegen das in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Prinzip, wonach niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), und stellt eine unzulässige Rückwirkung auf bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren dar.
Der Fall im Fokus: Freispruch von 1983 wird nichtig erklärt
Der konkrete Fall, der zu dieser bahnbrechenden Entscheidung führte, datiert zurück in das Jahr 1981. Ein Mann wurde damals beschuldigt, eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Im Februar 2022 wurde das Verfahren jedoch aufgrund neuer Beweismittel gemäß § 362 Nr. 5 StPO wieder aufgenommen. Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass diese Wiederaufnahme verfassungswidrig ist, und die entsprechenden Beschlüsse werden aufgehoben.
Klarer Standpunkt: Rechtssicherheit vor materieller Gerechtigkeit
Das Gericht unterstreicht, dass das Mehrfachverfolgungsverbot dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit einräumt. Die Anwendung von § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits vor seinem Inkrafttreten rechtskräftig waren, verstoße zudem gegen das Rückwirkungsverbot.
Weitreichende Auswirkungen: Klare Positionierung für die Rechtssicherheit
Weitreichende Auswirkungen: Klare Positionierung für die Rechtssicherheit und ethische Überlegungen
Die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sendet klare Signale über die Priorität der Rechtssicherheit im Spannungsfeld zwischen der Gewährleistung von Gerechtigkeit und den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Systems. Diese juristische Wegmarke wirft nicht nur die Frage auf, wie man die Balance zwischen der Verfolgung von Straftätern und dem Schutz vor einer möglichen Doppelbestrafung sicherstellt, sondern wirft auch ethische Überlegungen auf.
Die Betonung des Mehrfachverfolgungsverbots als schützenswertes Prinzip verdeutlicht, dass die rechtsstaatlichen Grundpfeiler nicht allein dem Streben nach materieller Gerechtigkeit geopfert werden dürfen. Die Unantastbarkeit rechtskräftiger Freisprüche wird somit als essentiell für die Gewährleistung der Rechtssicherheit erachtet, auch wenn dies in Einzelfällen zu einer scheinbaren Ungerechtigkeit führen mag.
Die weitreichenden Auswirkungen dieser Entscheidung erstrecken sich über den konkreten Einzelfall hinaus und stellen die Rechtsgemeinschaft vor die Herausforderung, den ständigen Balanceakt zwischen dem Verlangen nach Gerechtigkeit und der Sicherstellung der individuellen Rechte zu navigieren. Die Debatte darüber, wie man die Opfer schützt, ohne die Unschuldsvermutung und das Prinzip der rechtskräftigen Entscheidungen zu untergraben, wird zweifellos fortgeführt werden.
Insgesamt verdeutlicht dieses wegweisende Urteil die Bedeutung einer klaren und konsequenten Positionierung in Bezug auf die Grundprinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsstaats, und es stellt eine wegweisende Weichenstellung für die Zukunft der Strafrechtspflege in Deutschland dar.
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Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
- 1.
wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war; - 2.
wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat; - 3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat; - 4.
wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird; - 5.
wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
- 1.
wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war; - 2.
wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat; - 3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat; - 4.
wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird; - 5.
wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.