Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 19. Juni 2013 - 2 BvR 1960/12

ECLI: ECLI:DE:BVerfG:2013:rk20130619.2bvr196012
published on 19/06/2013 00:00
Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 19. Juni 2013 - 2 BvR 1960/12
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Tenor

Das Urteil des Amtsgerichts Rotenburg (Wümme) vom 15. Mai 2012 - 5 C 122/12 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Rotenburg (Wümme) zurückverwiesen. Der Beschluss des Amtsgerichts Rotenburg (Wümme) vom 6. Juli 2012 - 5 C 122/12 - ist damit gegenstandslos.

...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob der Bürger das Risiko des Nichtzugangs einer an ihn adressierten Mitteilung des Gerichts trägt.

I.

2

Der Beschwerdeführer klagte vor dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme). Nach Eingang der Klageerwiderung der Beklagten verfügte das Amtsgericht die Übermittlung einer Durchschrift an den Beschwerdeführer. Dieser behauptet, ihn habe die Klageerwiderung nicht erreicht; ob sie ihm tatsächlich zugegangen ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Eine Replik durch den Beschwerdeführer erfolgte jedenfalls nicht. Mit Urteil vom 15. Mai 2012 wies das Amtsgericht die Klage ab, da der Beschwerdeführer im Hinblick auf verschiedene Umstände keinen Beweis angeboten beziehungsweise den Tatsachenvortrag der Beklagten nicht bestritten habe.

3

Der Beschwerdeführer erhob daraufhin Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und rügte, dass ihm die Klageerwiderung nicht zugegangen sei. Mit Beschluss vom 6. Juli 2012 wies das Amtsgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück, da letztlich unaufklärbar bleibe, ob die Klageerwiderung dem Beschwerdeführer zugegangen sei. Im Rahmen des § 321a ZPO sei es nicht ausreichend, wenn ein unterbliebener Zugang lediglich nicht auszuschließen sei.

II.

4

Mit seiner gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 15. Mai 2012 gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Die im Beschluss vom 6. Juli 2012 vertretene Rechtsauffassung des Gerichts sei unzutreffend, da es nicht möglich sei zu beweisen, dass ein Schriftsatz nicht eingegangen beziehungsweise anderweitig untergegangen sei. Dem Beschwerdeführer könne es nicht zugerechnet werden, wenn die Klageerwiderung auf dem Postweg verloren gegangen sei, da er nur für Fehler verantwortlich gemacht werden könne, die seiner Kontrolle unterlägen.

III.

5

Das Niedersächsische Justizministerium sowie die Beklagten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Äußerung.

6

Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

IV.

7

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Inhalt des Anspruches auf rechtliches Gehör durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde insoweit zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

8

1. Das Urteil vom 15. Mai 2012 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

9

a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist eng verknüpft mit dem Recht auf Information. Eine Art. 103 Abs. 1 GG genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Sie müssen sich bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 89, 28 <35>). Dabei erschöpft sich Art. 103 Abs. 1 GG nicht im Recht der Beteiligten, im Verfahren überhaupt gehört zu werden, sondern gewährleistet die Gelegenheit, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, also grundsätzlich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>; 49, 325 <328>). Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG scheidet daher nicht schon deshalb aus, weil sich eine Partei in einem früheren Stadium des Verfahrens hat äußern können und geäußert hat. Vielmehr darf ein Gericht seiner Entscheidung keine Tatsachen oder Beweisergebnisse zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern (vgl. BVerfGE 1, 418 <429>; 10, 177 <182 f.>; 64, 135 <144>; 84, 188 <190>). Von Gerichten übersandte Mitteilungen können verloren gehen; geschieht die Übersendung formlos, so besteht keine Vermutung für den Zugang. Der Bürger trägt weder das Risiko des Verlustes im Übermittlungswege noch eine irgendwie geartete Beweislast für den Nichtzugang (vgl. BVerfGE 36, 85 <88 f.>; 42, 243 <246>).

10

b) Nach diesen Maßstäben verletzt die angegriffene Entscheidung den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör. Das Amtsgericht hat der Entscheidung die Ausführungen aus der Klageerwiderung zugrunde gelegt, mit denen der Vortrag des Beschwerdeführers teilweise bestritten wurde, teilweise aber auch neue Tatsachen vorgetragen wurden. Die Übersendung der Klageerwiderung erfolgte formlos, so dass keine Vermutung für den Zugang besteht. Die im Beschluss vom 6. Juli 2012 geäußerte Rechtsauffassung des Amtsgerichts ist vor diesem Hintergrund offensichtlich unrichtig und willkürlich.

11

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Anhörung des Beschwerdeführers zu einer anderen, ihm günstigeren Entscheidung geführt hätte (vgl. BVerfGE 7, 239 <241>; 18, 147 <150>; 112, 185 <206>). Nach dem Vortrag im Verfahren der Verfassungsbeschwerde hätte der Beschwerdeführer den Vortrag der Beklagten bestritten und streitige Behauptungen unter Beweis gestellt.

12

2. Gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ist die angegriffene Entscheidung aufzuheben und das Verfahren an das Amtsgericht Rotenburg (Wümme) zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen. Der Beschluss vom 6. Juli 2012 wird hierdurch gegenstandslos.

13

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge

Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG

(1) Auf die Rüge der durch die Entscheidung beschwerten Partei ist das Verfahren fortzuführen, wenn1.ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und2.das Gericht den Anspruch dieser Partei auf rechtliches G

(1) Erweist sich der Antrag auf Verwirkung der Grundrechte (§ 13 Nr. 1), die Anklage gegen den Bundespräsidenten (§ 13 Nr. 4) oder einen Richter (§ 13 Nr. 9) als unbegründet, so sind dem Antragsgegner oder dem Angeklagten die notwendigen Auslagen ein
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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge

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(1) Erweist sich der Antrag auf Verwirkung der Grundrechte (§ 13 Nr. 1), die Anklage gegen den Bundespräsidenten (§ 13 Nr. 4) oder einen Richter (§ 13 Nr. 9) als unbegründet, so sind dem Antragsgegner oder dem Angeklagten die notwendigen Auslagen ein
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Annotations

(1) Auf die Rüge der durch die Entscheidung beschwerten Partei ist das Verfahren fortzuführen, wenn

1.
ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und
2.
das Gericht den Anspruch dieser Partei auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Gegen eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung findet die Rüge nicht statt.

(2) Die Rüge ist innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben; der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Nach Ablauf eines Jahres seit Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung kann die Rüge nicht mehr erhoben werden. Formlos mitgeteilte Entscheidungen gelten mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Die Rüge ist schriftlich bei dem Gericht zu erheben, dessen Entscheidung angegriffen wird. Die Rüge muss die angegriffene Entscheidung bezeichnen und das Vorliegen der in Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 genannten Voraussetzungen darlegen.

(3) Dem Gegner ist, soweit erforderlich, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

(4) Das Gericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Rüge an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist erhoben ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Rüge als unzulässig zu verwerfen. Ist die Rüge unbegründet, weist das Gericht sie zurück. Die Entscheidung ergeht durch unanfechtbaren Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden.

(5) Ist die Rüge begründet, so hilft ihr das Gericht ab, indem es das Verfahren fortführt, soweit dies auf Grund der Rüge geboten ist. Das Verfahren wird in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befand. § 343 gilt entsprechend. In schriftlichen Verfahren tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Liegen die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b vor und ist die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, kann die Kammer der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist. Der Beschluß steht einer Entscheidung des Senats gleich. Eine Entscheidung, die mit der Wirkung des § 31 Abs. 2 ausspricht, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar oder nichtig ist, bleibt dem Senat vorbehalten.

(2) Auf das Verfahren finden § 94 Abs. 2 und 3 und § 95 Abs. 1 und 2 Anwendung.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so ist in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde. Das Bundesverfassungsgericht kann zugleich aussprechen, daß auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt.

(2) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgegeben, so hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung auf, in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 verweist es die Sache an ein zuständiges Gericht zurück.

(3) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben, so ist das Gesetz für nichtig zu erklären. Das gleiche gilt, wenn der Verfassungsbeschwerde gemäß Absatz 2 stattgegeben wird, weil die aufgehobene Entscheidung auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht. Die Vorschrift des § 79 gilt entsprechend.

(1) Erweist sich der Antrag auf Verwirkung der Grundrechte (§ 13 Nr. 1), die Anklage gegen den Bundespräsidenten (§ 13 Nr. 4) oder einen Richter (§ 13 Nr. 9) als unbegründet, so sind dem Antragsgegner oder dem Angeklagten die notwendigen Auslagen einschließlich der Kosten der Verteidigung zu ersetzen.

(2) Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde als begründet, so sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen ganz oder teilweise zu erstatten.

(3) In den übrigen Fällen kann das Bundesverfassungsgericht volle oder teilweise Erstattung der Auslagen anordnen.