Verwaltungsgericht München Urteil, 04. Sept. 2015 - M 11 K 14.50168
Gericht
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger ist seinen Angaben zufolge ein im Jahr 1995 geborener afghanischer Staatsangehöriger, der am
Mit Schreiben vom
Am
Mit Bescheid vom
Der Kläger erhob gegen den am
Gleichzeitig stellte er einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Gericht mit Beschluss vom 10. Juni 2014
Die Beklagte legte in einem Schriftsatz vom
die Klage abzuweisen.
Mit Schreiben vom
Am
Auf ein Anschreiben des Gerichts vom
Am
Mit Schreiben vom
Mit Schreiben vom
Mit Schriftsatz vom
Mit Schreiben vom
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des Klageverfahrens, der drei Eilverfahren und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Gründe
1. Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da sich alle Beteiligten - die Beklagte und die Regierung von Oberbayern durch allgemeine Prozesserklärungen - damit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
2. Die Klage hat Erfolg.
a) Die Klage ist zulässig. Insbesondere wurde die Klage wirksam rechtzeitig erhoben. Das innerhalb der zweiwöchigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylVfG - die Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylVfG gilt hier nicht und wäre im Übrigen ohnehin gewahrt - eingegangene Schreiben des Klägers vom 24. April 2014 ist (auch) als Klageschrift auszulegen. Es enthält im Betreff die beiden Bezeichnungen „Widerspruch“ und „Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO“. Auch wenn der Kläger im anschließenden Fließtext dann nur noch - und sachlich verfehlt - ausführt, er stelle einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung „gegen o. a. Klage“, ist das an das Gericht adressierte Schreiben des damals anwaltlich noch nicht vertretenen Klägers dennoch so auszulegen, dass sowohl Klage gegen den unter Angabe des Aktenzeichens bezeichneten Bescheid des Bundesamts erhoben als auch der zugehörige Eilantrag gestellt werden sollte.
b) Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid des Bundesamts vom
Der Asylantrag des Klägers ist nicht mehr unzulässig im Sinne des § 27 a AsylVfG; die ursprünglich gegebene Zuständigkeit Bulgariens für die Durchführung des Asylverfahrens (vgl. die Ausführungen auf Seite 5 des im Eilverfahren M 11 S 14.50169 ergangenen Beschlusses vom 10. Juni 2014) ist mittlerweile entfallen. Selbst wenn man zugunsten der Beklagten davon ausgeht, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin lll-VO mit der Zustellung des Beschlusses
Ein Tatbestand, der nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin lll-VO ausnahmsweise zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist führt, wurde weder von der Beklagten vorgetragen, noch ist ein solcher ersichtlich.
Ob der Umstand, dass sich der Kläger zeitweise im „Kirchenasyl“ befunden hat, dazu geführt hat, dass er im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin lll-VO „flüchtig“ gewesen ist, kann offen bleiben. Gute Gründe sprechen zunächst ohnehin gegen eine solche Gleichsetzung. Denn den Behörden war der Aufenthaltsort des Klägers durch die Adressmitteilung seiner Bevollmächtigten weiterhin bekannt, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger für die Behörden über einen erheblichen Zeitraum hinweg nicht auffindbar gewesen ist (VG München, U. v. 28.1.2015 - M 12 K 14.30463 - juris Rn. 26). Der Umstand allein, dass die für eine Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden es möglicherweise gescheut haben, gegen den Kläger unmittelbaren Zwang einzusetzen, solange er sich in den Räumen der Pfarrei aufhielt, führt nicht ohne weiteres dazu, dass eine solche Situation derjenigen gleichzusetzen ist, in der eine Person flüchtig ist. Ist eine Person flüchtig, so ist eine Überstellung nicht möglich. Das sog. „Kirchenasyl“ führt eine solche Unmöglichkeit der Überstellung nicht herbei. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen(n), aufgrund dessen die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden nach der Aufnahme in das „Kirchenasyl“ nicht ggf. auch hätten unmittelbaren Zwang anwenden dürfen, um eine Überstellung durchzuführen.
Letztlich kommt es aber auf die Frage, ob aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger zumindest zeitweise im „Kirchenasyl“ befand, eine Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin lll-VO möglich gewesen wäre (so VG Regensburg, U. v. 20.2.2015 - RN 3 K 14.50264 - juris Rn. 56; VG Saarland, U. v. 6.3.2015 - 3 K 902/14 - juris Rn. 44 unter Verweis auf SaarOVG,
(M 11 S7 15.50189) geäußerten Auffassung fest, dass das Bundesamt nach Art. 29 Abs. 4 Dublin lll-VO i. V. m. Art. 9 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1560/2003 i. d. F. der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014 die bulgarischen Behörden über die Fristverlängerung vor Ablauf der Sechsmonatsfrist hätte informieren müssen (ebenso auch VG München, U. v. 06.08.2015 - M 17 K 14.50731). Dass dies geschehen ist, geht aus den Akten nicht hervor und wurde vom Bundesamt auch nicht behauptet, obwohl sich dem Bundesamt nach Zuleitung des Schreibens der Bevollmächtigten des Klägers vom 11. Dezember 2014, der zusätzlichen Anfrage des Gerichts mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 und insbesondere der Begründung des Beschlusses vom 11. März 2015 hätte aufdrängen müssen, darzulegen, dass eine solche Information der bulgarischen Behörden erfolgt sei. Das Gericht geht deshalb auch für das Hauptsacheverfahren davon aus, dass das Bundesamt die bulgarischen Behörden über eine etwaige Fristverlängerung nicht rechtzeitig informiert hat. Das Bundesamt hat auch nicht dargelegt, dass Bulgarien ungeachtet des Fristablaufs weiterhin bereit wäre, den Kläger wieder aufzunehmen.
Der Kläger kann folglich die Durchführung des Asylverfahrens durch die Beklagte beanspruchen. Er kann geltend machen, dass ein Festhalten am Bescheid nach Ablauf der Überstellungsfrist und Übergangs der Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland ihn in eigenen Rechten verletzt. Dem Zuständigkeitssystem nach der Dublin ll-VO bzw. der Dublin lll-VO liegt das Prinzip zugrunde, dass zeitnah geklärt werden soll, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des jeweiligen Asylantrags zuständig ist. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat der Mitgliedstaat, in dem sich ein Asylbewerber befindet, darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den betreffenden Asylantrag selbst prüfen (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C 411/10 u. a. - juris Rn. 98). Diesem Anspruch des Klägers auf Vermeidung eines überlangen Verfahrens widerspräche es, nach Ablauf der Überstellungsfrist und ohne erklärte Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaates eine Prüfung seines Asylbegehrens zurückzustellen (vgl. BayVGH, B. v. 20.5.2015 - 11 ZB 14.50036-juris Rn. 9; VGH BW, U. v. 29.4.2015-A 11 S 121/15-juris Rn. 32). Dem Erwägungsgrund Nummer 19 der Dublin lll-VO ist im Übrigen klar zu entnehmen, dass der wirksame Rechtsbehelf nicht nur die Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem Mitgliedstaat umfassen soll, in den der Betreffende überstellt wird, sondern auch die Prüfung der Anwendung der Dublin lll-VO selbst. Daraus gibt ergibt sich, dass der Betroffene gerade nicht darauf beschränkt ist, nur rügen zu können, dass im Zielstaat „systemische Mängel“ vorliegen.
Auch die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung betreffend den zunächst zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage des § 34a i. V. m. § 27a AsylVfG liegen nicht mehr vor, so dass der Bescheid vom 15. April 2014 insgesamt rechtswidrig geworden und aufzuheben ist. Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylVfG) verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 - 13a B 13.30295-juris Rn. 22).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. v. §§ 708 ff. ZPO.
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Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.
(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.