Verwaltungsgericht Köln Beschluss, 12. Dez. 2014 - 16 L 2408/14.A
Gericht
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 16 K 6641/14.A gegen die Abschiebungsanordnung nach Bulgarien in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.11.2014 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe
2Der sinngemäße Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 16 K 6641/14.A gegen die Abschiebungsanordnung nach Bulgarien in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.11.2014 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG statthaft und zulässig. Danach sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Ob diese Frist hier eingehalten worden ist, lässt sich angesichts der im vorliegenden Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilen, die Klärung dieser Frage kann jedoch deshalb dahinstehen, weil der Antragstellerin (jedenfalls) Wiedereinsetzung in die (ggf.) versäumte Frist zu gewähren ist, weil sie ohne eigenes oder ihr zuzurechnendes Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten.
6Unverschuldet ist eine Fristversäumnis, wenn dem Betreffenden nach den gesamten Umständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die Frist versäumt hat, ihm also die Einhaltung der Frist nicht zumutbar war. Das erfordert, dass die Fristversäumnis auch bei Anwendung derjenigen Sorgfalt nicht zu vermeiden war, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Prozessführenden geboten und zuzumuten war.
7Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.08.1996 – 20 A 3523/95 –, juris.
8Nach diesem Maßstab ist die Frist hier nicht unter Außerachtlassung der von der Antragstellerin zu verlangenden angemessenen Sorgfalt versäumt worden. Nach ihrer schlüssigen, widerspruchsfreien Darstellung – auch die Antragsgegnerin hat keine Veranlassung gesehen, dieser Einlassung zu widersprechen – ist der Antrag deshalb erst am 02.12.2014 erhoben worden, weil die Antragstellerin erstmals nach Akteneinsicht am 28.11.2014 Kenntnis von dem am 18.11.2014 mit PZU zur Post gegebenem Bescheid vom 10.11.2014 erhalten hat, der sich nach derzeitiger Sachlage in den Akten des Bundesamtes mit dem Vermerk „Empfänger nicht zu ermitteln“ befindet, obwohl am Klingelbrett der Unterkunft der Antragstellerin ihr Name angebracht ist. Hiervon ausgehend kann der Antragstellerin nicht vorgehalten werden, sie habe keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen, dass sie die an sie gerichtete Post tatsächlich auch erreicht. Damit hat die Antragstellerin alles Erforderliche getan, um eine für einen geordneten Rechtsverkehr unerlässliche Kenntnisnahme von eingehender Post nicht in unvertretbarer Weise zu gefährden.
9Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.08.1996, a.a.O..
10Der Antrag ist auch begründet.
11Bei der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht das öffentliche Vollziehungs- und das private Aussetzungsinteresse gegeneinander abzuwägen und dabei die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Während bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfes ein schutzwürdiges Aussetzungsinteresse grundsätzlich nicht in Betracht kommt, besteht umgekehrt grundsätzlich kein öffentliches Interesse am Vollzug einer offensichtlich rechtswidrigen Verfügung. Lassen sich die Erfolgsaussichten abschätzen, ohne eindeutig zu sein, bildet der Grad der Erfolgschance ein wichtiges Element der vom Gericht vorzunehmenden Interessensabwägung.
12Gemessen an diesen Kriterien ist vorliegend die aufschiebende Wirkung anzuordnen, weil bei summarischer Prüfung nach dem derzeitigen Erkenntnisstand Überwiegendes für die Rechtswidrigkeit des Bescheides spricht.
13Bulgarien ist zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin zuständig und hat dem Ersuchen der Bundesrepublik vom 30.07.2014 mit Erklärung vom 29.09.2014 zugestimmt und seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages erklärt. Es liegen aber ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Bulgarien nicht an die zu fordernden und bei Einfügung des § 27 a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw. völkerrechtlichen Standards heranreichen und systemische Mängel des Asylverfahrens in Bulgarien bestehen.
14Das Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung der 20. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln, die hierzu – zuletzt mit Beschluss vom 10.10.2014 – 20 L 1831/14.Q – u.a. ausgeführt hat:
15„Zahlreiche ... Berichte bestätigen die prekären Aufnahmebedingungen in Bulgarien. So hat UNHCR in seinem Bericht vom 2. Januar 2014 generell empfohlen, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen, da dort für Asylsuchende eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wegen systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens in dem Land bestehe (vgl. Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria, 02.01.2014...). Diese Empfehlung hat UNHCR in seinem jüngsten Update vom April 2014 zwar nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten und signifikante Verbesserungen im Aufnahmesystem und in der Durchführung der Asylverfahren konstatiert. Gleichwohl wurden weiterhin erhebliche Defizite festgestellt nicht nur hinsichtlich der Situation besonders schutzbedürftiger Personen, sondern darüber hinaus u.a. hinsichtlich der Verhältnisse in zwei von sieben Aufnahmezentren (Vrazdebhna und Voenna Rampa) und auch hinsichtlich der Qualität der Anerkennungsverfahren. Vor allem aber bestehen aus Sicht des UNHCR Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der unternommenen Anstrengungen, da zahlreiche Maßnahmen auf einer ad hoc-Basis mit massiver Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und des UNHCR selbst durchgeführt wurden und die dauerhafte Sicherstellung der erreichten Verbesserungen auf mittlere und lange Sicht durch das staatliche bulgarische Aufnahmesystem nicht gewährleistet ist (vgl. Observations on the current asylum system in Bulgaria, April 2014). Auf fortbestehende erheblich unzureichende Bedingungen in einigen Aufnahmezentren (Überbelegung, schlechte sanitäre Bedingungen, unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln) und Defizite im Asylverfahren weisen auch weitere Berichte von Nichtregierungsorganisationen hin ebenso wie auf begründete Zweifel hinsichtlich der Nachhaltigkeit der erzielten Verbesserungen (vgl. Amnesty international, Suspension of Asylum-seekers to Bulgaria must continue, März 2014; Ecre, Pressemitteilung vom 07.04.2014). Hinzukommt, dass die im ersten Quartal 2014 zu verzeichnenden Verbesserungen der Aufnahmebedingungen in Bulgarien maßgeblich auch auf einen deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen im Vergleich zu 2013 zurückzuführen sind, dieser wiederum bedingt durch eine massive Verstärkung der Grenzkontrollen und den Einsatz auch brutaler Push-backs an der türkischen Grenze (vgl. Observations on the current asylum system in Bulgaria, April 2014; Pro Asyl, Bulgarien: Brutale Push-backs an der türkischen Grenze, Bericht vom 25.04.2014). Ob dieser Rückgang der Zugangszahlen in Bulgarien angesichts der insgesamt zunehmenden Flüchtlingszahlen, vor allem aus Syrien, und der wachsenden Kritik an der Art und Weise der Grenzkontrollen beibehalten werden kann, ist eine offene Frage. Wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass alleine im Rahmen von anhängigen Dublin-Verfahren mit ca. 2000 Rückkehrern nach Bulgarien zu rechnen wäre (vgl. hierzu: Observations on the current asylum system in Bulgaria, April 2014), ist absehbar, dass das Aufnahmesystem alsbald erneut an seine Grenzen stoßen wird.“
16Neue Erkenntnismittel, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Anlass zu einer positiveren Neubewertung der Aufnahmebedingungen in Bulgarien geben würden, liegen nicht vor. Es gibt im Gegenteil weitere aktuelle Berichte von NGO’s, die ein anhaltend alarmierendes Bild der Situation der Flüchtlinge in Bulgarien zeichnen,
17vgl. Pro Asyl/Flüchtlingsrat Niedersachsen, Syrische Flüchtlinge in Bulgarien: Misshandelt, erniedrigt, im Stich gelassen, Bericht vom 23.05.2014; Bordermonitoring EU, Trapped in Europe’s Quagmire: The Situation of Asylum Seekers and Refugees in Bulgaria, Juli 2014; vgl. auch VG Stuttgart, Urteil vom 16.04.2014 – A 8 K 640/14 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 01.07.2014 – 12 B 1387/14 -.“
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.