Verwaltungsgericht Köln Urteil, 23. Sept. 2014 - 14 K 19/13.A

ECLI:ECLI:DE:VGK:2014:0923.14K19.13A.00
bei uns veröffentlicht am23.09.2014

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistungoder Hinterlegung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 23. Sept. 2014 - 14 K 19/13.A

Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 23. Sept. 2014 - 14 K 19/13.A

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16a


(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 98


Soweit dieses Gesetz nicht abweichende Vorschriften enthält, sind auf die Beweisaufnahme §§ 358 bis 444 und 450 bis 494 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden.
Verwaltungsgericht Köln Urteil, 23. Sept. 2014 - 14 K 19/13.A zitiert 6 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16a


(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 98


Soweit dieses Gesetz nicht abweichende Vorschriften enthält, sind auf die Beweisaufnahme §§ 358 bis 444 und 450 bis 494 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 412 Neues Gutachten


(1) Das Gericht kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn es das Gutachten für ungenügend erachtet. (2) Das Gericht kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein S

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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Urteil, 24. Juli 2014 - 5a K 5809/12.A

bei uns veröffentlicht am 24.07.2014

Tenor Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2012 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.Die Beklagte träg

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 27. Apr. 2010 - 10 C 5/09

bei uns veröffentlicht am 27.04.2010

Tatbestand 1 Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 16. März 2006 - A 2 K 10962/05

bei uns veröffentlicht am 16.03.2006

Tenor Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich Afghanistans begründet ist. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2005 w
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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Urteil, 20. Aug. 2015 - 5a K 4515/13.A

bei uns veröffentlicht am 20.08.2015

Tenor Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung von Ziffer 3. und vollständiger Aufhebung von Ziffer 4. des Bescheides vom 5. September 2013 verpflichtet, in Ansehu

Referenzen

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.

(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.

(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.

(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich Afghanistans begründet ist.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2005 wird in seiner Nr. 3 und in Nr. 4, soweit dort die Worte „nach Afghanistan“ verwendet werden, aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt 5/6 der Kosten des Verfahrens, die Beklagte trägt 1/6 der Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt seine Anerkennung als Asylberechtigter und wendet sich gegen eine gegen ihn verfügte Abschiebungsandrohung.
Der Kläger ist nach eigenen Angaben ein 33 Jahre alter afghanischer Staatsangehöriger hinduistischen Glaubens. Er reiste im Juli 2005 in das Bundesgebiet ein. Er war dabei in Begleitung seiner Mutter, der Klägerin im Verfahren ..., seiner Großmutter, der Klägerin im Verfahren ... und seiner religiös verheirateten Frau und des gemeinsamen Sohnes der beiden, den Klägern im Verfahren ....
Er stellte, wie auch die anderen Familienmitglieder, am ... einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen dieses Verfahrens ist er am ... durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu seinem Begehren angehört worden. Dabei gab er im Wesentlichen an, bis zu seinem 12. Lebensjahr im alten Stadtteil von Kabul gelebt zu haben. Dann sei die Familie nach ... verzogen. Dort habe er bis November 2004 gelebt. Das Haus habe die Familie dann verkauft. Sie seien dann in ein Haus in der gleichen Straße, Hausnummer 3, gezogen, dass sie gemietet hätten. Dort seien sie bis zum 13.05.2005 geblieben. Von dort seien sie nach Jalalabad. Dort hätten sie sich bis ungefähr zum 27.05.2005 in einem Hindu-Tempel aufgehalten. Von einem Schleuser seien sie nach Pakistan gebracht worden. In Pakistan hätten sie sich an einem unbekannten Ort bei unbekannten Leuten aufgehalten. Am 02.07. seien sie zu einem unbekannten Ort gebracht worden. Von dort seien sie nach Deutschland geflogen. Sie seien gegen 13.00 Uhr angekommen. Wo das gewesen sei, wisse er nicht. Flugunterlagen besitze er nicht. Bei der Passkontrolle sei er nichts gefragt worden. Er sei von einem Cousin abgeholt worden.
Bis 1998 sei er in der Geldwechselstube tätig gewesen. Sie hätten von Ersparnissen und Goldschmuck gelebt. Sein Vater sei 1997 getötet worden. Die Reise habe 45.000 US-$ gekostet. Das Haus hätten sie für 50.000 US-$ in bar verkauft.
Ausgereist seien sie, weil es ihnen sehr schlecht gegangen sei. Sie hätten immer Angst gehabt und seien im Haus geblieben. Das sei deswegen so, weil sie Hindus seien. Die Regierung habe sie islamisieren wollen. Es seien viele Kinder entführt worden, um Geld zu erpressen. Davor hätten sie auch Angst gehabt. Die Frauen hätten auch keine Rechte. Sie seien die einzige Familie, die in Kabul zurückgeblieben sei. Sie seien unterdrückt worden. Sie hätten auch nicht in den Tempel gekonnt. Auf die Nachfrage, was konkret passiert sei, gab der Kläger an, dass sein Vater getötet worden sei. Auch heute würden Taliban in Kabul noch Hindus töten. So habe seine Mutter, seine Frau und er zum Tempel gewollt. Sie hätten einen Taxifahrer bestellt. Der habe sie aber nicht fahren wollen. Sie müssten in die Moschee, habe der gesagt. Wenn sie dies nicht befolgten, hole er einen Moslem, der seine Frau heiraten und islamisieren würde. Im Falle der Rückkehr befürchte er, dass sie die Familie festnehmen, seine Frau vergewaltigen, sein Kind entführen und ihn beseitigen würden.
Seine mit ihm religiös verheiratete Frau, die Klägerin zu 1 im Verfahren ..., wurde ebenfalls am ... durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu ihrem Asylbegehren angehört. Sie gab an, nicht mehr zu wissen, wie lange sie sich in dem zuletzt gemieteten Haus aufgehalten habe. Zuvor hätten sie im Haus Nr. 1 gewohnt. Sie habe keine Verwandten mehr in Afghanistan. Die seien alle ausgereist. Sie sei immer Hausfrau gewesen. Sie habe mit der Familie immer genügend Geld gehabt. Sie seien vor der Ausreise zwei Wochen in einem Tempel in Jalalabad gewesen. Dann seien sie einen Monat in Pakistan gewesen. Sie seien zu einem großen Platz vor dem Flughafen gebracht worden. Ihr Mann habe ihr gesagt, dass sie am 02.07.2005 auf einem ihr nicht bekannten Flughafen angekommen seien. Sie seien ausgereist, weil sie unterdrückt würden. Die Muslime hätten sie bedroht. Sie habe kein Kopftuch getragen und sei nicht in die Moschee gegangen, wie es die Muslime gewollt hätten. Seit einem Jahr habe sie nicht mehr zum Beten gehen können. Einmal, als sie mit dem Taxi zum Tempel hätten fahren wollen, habe der Taxifahrer gedroht, zu kommen und sie zu islamisieren. Er habe sie beschimpft. Da seien sie nach Hause gegangen.
Auch die Mutter des Klägers ist am ... durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angehört worden. Diese gab im Wesentlichen an, dass ihr Sohn die Ausreise geregelt habe. Sie seien von Jalalabad nach Pakistan gefahren. Sie seien über die offizielle Grenze, mit der Hilfe des Schleusers. Nach zwei Monaten seien sie nach Deutschland geflogen. Ausgereist seien sie, weil die Lage für Hindus nicht mehr so einfach sei. Sie habe Angst gehabt, die Moslems würden ihren Sohn genau so töten wie sie es mit ihrem Mann gemacht hätten. Sie entführten Frauen und Kinder.
Auch die Großmutter des Klägers wurde zu ihrem Begehren angehört. Sie gab an, dass ihr Sohn getötet worden sei. In Kabul töteten sie jetzt jeden. Sie wolle nicht, dass ihr Enkel auch noch getötet werde. Sie habe ihr Haus nicht verlassen dürfen. Sie legte ein Attest vor, nach welchem sie an einer Gastritis und einer Herzinsuffizienz sowie an einer beginnenden Demenz leide.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2005 wurde der Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt. Es wurde ferner festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Asylanerkennung des Klägers schon deswegen nicht in Betracht komme, weil er keine nachprüfbaren Angaben zur Einreise mache. Damit sei eine Ermittlung des Reiseweges von Amts wegen nicht möglich. Da er die Reiseunterlagen zur behaupteten Flugreise nicht vorlege und somit Mitwirkungspflichten verletze, sei zu seinen Lasten zu entscheiden. Zumindest durch eine unverzügliche Asylantragstellung bei der Grenzbehörde sei es dem Kläger möglich gewesen, seinen Reiseweg überprüfen zu lassen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG sei auch nicht festzustellen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Hindus führe zu keiner landesweiten Verfolgungsgefahr. Die Lage der ethnischen Minderheiten habe sich verbessert. Die afghanische Verfassung gewähre Religionsfreiheit. Es gebe nach Auskünften des Auswärtigen Amtes noch etwa 15.000 Hindus in Afghanistan. Auch bestünde kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Allgemeine Gefahren für Leib und Leben des Klägers könnten zwar aufgrund der Sicherheitslage in Afghanistan nicht völlig ausgeschlossen werden. Jedoch sei die Lage nicht derart schlecht, dass Rückkehrer dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wären. Ausweislich der Zustellungsurkunde ist dieser Bescheid am 11.11.2005 zugestellt worden.
10 
Der Kläger hat am 28.11.2005, einem Montag, Klage erhoben. Nachdem er am 28.12.2005 auf eine mögliche Verfristung der Klage hingewiesen worden war, legte er am 04.01.2006 in Kopie den Umschlag, in dem sich der Bescheid zum Zwecke der Zustellung befunden hatte, vor. Auf diesem ist durch die Deutsche Post AG der 12.11.2005 als Tag der Zustellung vermerkt. Einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellte der anwaltlich vertretene Kläger nicht.
11 
Zur Klagbegründung führt er im Wesentlichen aus, dass sich die Hindu- und Sikh-Minderheiten in Kabul nicht zu erkennen geben würden. Das folge aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes. Die Diskriminierung richte sich gegen die Ausübung der religiösen Sitten und Gebräuche. Hindus seien auch Opfer illegaler Landnahmen. Sie kämen als Rückkehrer häufig nur in den noch existierenden Tempeln unter. Die Frau des Klägers habe seit fünf Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen können. Sie seien mit einer Zwangsislamisierung bedroht worden. Die Familie des Klägers sei über Jahre hinweg eingeschüchtert und verängstigt worden. Es habe keine ordentliche Bestattung geben können.
12 
Im Falle seiner Rückkehr habe der Kläger keine Möglichkeit, sich im Heimatland eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Das Haus sei weit unter Wert verkauft worden.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2005 aufzuheben und die beklagte Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG vorliegen.
15 
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich unter Bezugnahme auf den angegriffenen Bescheid,
16 
die Klage abzuweisen.
17 
Ergänzend führt sie aus, dass die Klage wegen Verfristung unzulässig sei.
18 
Der Kläger sowie die weiteren Familienmitglieder sind in den gleichzeitig aufgerufenen Terminen zur mündlichen Verhandlung ergänzend informatorisch befragt worden. Dabei gab der Kläger auf die Frage, wer die Entscheidung zur Ausreise getroffen habe, an, dass sie diese Entscheidung zusammen getroffen hätten. Auf Nachfrage gab er weiter an, dass er habe gehen müssen, weil er ein bitteres Leben gehabt habe. Sein Vater sei getötet worden. Er sei der einzige Mann. Wenn er aus dem Haus gewesen sei, habe er Angst gehabt nicht wiederzukehren. Auch habe er um die Sicherheit seiner Familie gefürchtet.
19 
Seine Mutter führte auf Nachfrage aus, dass sie gar nicht aus dem Haus gekonnt hätte. Sie hätten nicht zur Gebetsstätte gehen können. Auf die Frage, wie die Trauerfeier für ihren verstorbenen Mann verlaufen sei, gab sie an, dass es ein Totengebet gegeben hätte. Auf weitere Nachfrage führte sie aus, dass sie an den Leichnam gekommen seien, als ein Sikh zu ihnen gekommen sei. Der habe gesagt, dass sie ihn haben könnten. Er sei zur Gebetsstätte gebracht worden. Es sei ja so, dass sie ihre Toten verrennen würden. Das sei aber verboten. Daher hätten sie eine provisorische Verbrennung vorgenommen. Auf Nachfrage, ob heute ihres Wissens nach Verbrennungen möglich seien, gab die Mutter des Klägers an, dass auch heute das Verbrennen von Leichen verboten sei. Auf Nachfrage, ob tatsächlich Leichen verbrannt würden, gab sie an, dass die Verbrennungsstätten kaputt seien. Sie würden die Verbrennungen inoffiziell durchführen. Der Kläger führte aus, dass früher in Qlatsha , in einem Vorort von Kabul, die Verbrennungen durchgeführt worden seien. Das gehe nun nicht mehr.
20 
Auf Nachfrage nach der eigenen Wohnung führte der Kläger aus, dass sie in Qala Fatala in einem eigenen Haus gelebt hätten. Dort seien wenig Moslems. Auf die Frage, von was die Familie gelebt habe, gab der Kläger an, dass sie gut begütert gewesen seien. Sein Vater habe gut verdient. Zum Schluss habe er jetzt aber Angst gehabt, dass einmal etwas Schlimmes passieren werde. Auf die Frage, ob seit dem Ende des Talibanregimes etwas Konkretes vorgefallen sei, gab der Kläger an, dass sie gemeinsam zum Gebet gewollt hätten. Sie hätten ein Taxi bestellt. Der Fahrer habe sich geweigert, sie zum Tempel zu fahren. Sie seien ohne Recht, in Afghanistan zu leben, habe er gesagt. Er habe damit gedroht, sie mit Gewalt zur Moschee zu bringen und seine Frau zwangsweise zu verheiraten.
21 
Auf ausdrücklichen Wunsch der Prozessbevollmächtigten des Klägers wurde dieser zu seinem Reiseweg befragt. Auf Frage an den Kläger zu seinem Reiseweg gab er dann an, Kabul am 13.05.2005 verlassen zu haben. Sie seien mit einem Lkw gefahren. Es sei ein kleiner Lkw gewesen. Es sei seine Familie und noch eine Hindufamilie dabei gewesen. Sie seien nach Jalalabad gefahren. Zwei Wochen seien sie dort in einer Gebetsstätte gewesen. Nach zwei Wochen sei der Schlepper dann mit einem eigenen Wagen gekommen. Sie seien über einen regulären Grenzübergang bei Throkhan . Sie seien dann nach Lahore gekommen. Sie hätten ein mittelgroßes Zimmer mit einem Benzinbrenner bekommen. Sie seien 36 Tage dort geblieben. Dann sei ein anderer gekommen. Es sei gegen 09.00 Uhr nachts gewesen. Er habe sie mitgenommen. Nach einer Stunde in etwa seien sie an einem anderen Ort gewesen Viele Menschen hätten dort gestanden. Er habe begriffen, dass das ein Flughafen sein müsse. Ihm sei von dem Schlepper gesagt worden, dass er mit niemanden sprechen dürfe. Weiter habe der gesagt, dass sie ihm schweigend folgen sollten. Sie seien einen tunnelähnlichen Gang gegangen. Die Menschen hätten ihre Sachen oben abgelegt. Er habe gemerkt, dass es ein Flugzeug sein müsse. Alle hätten geschaut, ob ihre Gurte zu seien. Dann sei man langsam geflogen. Sie hätten zum Essen und zum Trinken bekommen. Nach 8 ½ Stunden seien sie dann gelandet. Er habe Angst gehabt, nun eine Frage gestellt zu bekommen. Nach der Landung hätten die Menschen ihre Sachen von oben heraus genommen. Sie seien ausgestiegen. Der Schlepper habe weiter gesagt, dass sie mit niemanden reden dürften. Er sei vor ihnen gegangen. Es habe dort Polizisten gegeben. Denen habe er die Papiere gezeigt. Sie seien dem Mann gefolgt. Sie seien weiter gegangen. Sie seien aus dem Flughafen heraus. Es sei ein mittelgroßer Zug gewesen, mit dem sie dann gefahren seien. Sie seien eingestiegen und nach einer Stunde seien sie wieder ausgestiegen. Dort, am Ort des Ausstiegs, habe es Sessel gegeben. Sie hätten sich hingesetzt. Nach einer halben Stunde sei der Cousin gekommen. Er habe einen Pkw. Er habe gesagt, dass sie in Frankfurt seien. Jemand habe ihn angerufen und ihm gesagt, wo sie säßen. Daher hole er sie nun ab. Der Mann, der ihnen geholfen habe, sei nicht mehr da gewesen. Es sei ein Sonntag gewesen. Am nächsten Tag seien sie in Gießen zur Ausländerbehörde gegangen.
22 
Auf die Frage, wie sie vom Flughafen zum Zug gekommen seien, gab der Kläger an, dass es zu Fuß gewesen sei. Es sei ein mittlerer Weg, etwa 10 Minuten gewesen. Es sei ein sehr sauberer Weg aus Stein gewesen. Es sei in einem großen Gebäude gewesen. Auf Frage nach der Fluglinie führte der Kläger aus, dass das Flugzeug wohl grün gewesen sei. Mehr wisse er nicht. Auf Frage, wie und ob er mit den Stewardessen kommuniziert habe, gab er an, dass diese Englisch gekonnt hätten. Sie hätten das Essen gebracht. Wenn er es nicht gewollt habe, habe er es ihnen gezeigt. Auf Frage, ob es im Flugzeug Ansagen in englischer Sprache gegeben habe, führte der Kläger aus, die Stewardessen hätten häufiger „You want, you want?“ gefragt.
23 
Auf die Frage, wie er die Reise der Familie finanziert habe, gab der Kläger an, dass er für 45.000 US-$ das Haus verkauft habe. Einer seiner Glaubensbrüder habe den Verkauf vermittelt.
24 
Auf den Einwand, dass es der sichere Weg in die Kontrolle wäre, wenn eine Person für eine ganze Personengruppe von Erwachsenen die Papiere vorzeige, gab der Kläger an, dass der Schlepper die Oma vorgeschoben habe.
25 
Auf die Frage, wie er beim Hausverkauf an das Geld gekommen sei, gab der Kläger an, dass er das Geld von diesem Mann bekommen habe. Er habe das Papier unterschrieben und dafür das ganze Geld bekommen. Sei Haus sei eigentlich 85.000,- US-$ wert gewesen. Er habe aber Angst gehabt, umgebracht zu werden. Auf Frage, wie er den Schlepper bezahlt habe, gab der Kläger an, dass er 15.000 US-$ in Kabul bezahlt habe. Den Rest habe er im Flughafen an den Schlepper bezahlt.
26 
Auf die Frage, von was die Familie früher gelebt habe, gab der Kläger an, 100.000 bis 150.000 Afghani verdient zu haben. Das Einkommen sei gut gewesen. Er sei beim Militär gewesen. Als Vater gestorben sei, habe er bald die Bücher zu gemacht. Er habe sieben Jahre nicht mehr gearbeitet. Er sei nur zwei Mal auf dem Markt gewesen um zu handeln. Auf Nachfrage gab er an, von Rücklagen gelebt zu haben.
27 
Seine Mutter wurde ebenfalls zum Reiseweg befragt. Sie gab an, Kabul am 13.05.2005 verlassen zu haben. Sie seien nach Jalalabad gefahren. Dort seien sie zwei Wochen gewesen. Sie seien in der Heilige Stätte gewesen. Von dort sei es dann nach Pakistan gegangen. Sie hätten sich dort ein Zimmer genommen und seien 36 Tage dort geblieben. Sie habe in dem Zimmer auch gekocht. Ihr Sohn habe dort jemanden angesprochen, der sich bereit erklärte, sie nach Deutschland zu bringen. Ihr Sohn habe dafür ja das Haus verkauft. Ihr Sohn habe die Verkaufsverhandlungen finanziert. Mit dem Erlös sei die Reise finanziert worden. Dieser Mann habe sie zum Flughafen gebracht. Dort sei es wie im Tunnel gewesen. Dann hätten die Leute ihre Gepäckstücke abgelegt. Sie hätten sich in den Tunnel gesetzt. Es sei das Flugzeug gewesen. Es sei für sie der erste Flug gewesen. Sie sei festgebunden worden. Um 12.00 Uhr sei das Flugzeug geflogen. Sie seien acht Stunden unterwegs gewesen. Es habe Essen und Trinken gegeben. Der Mann, der alles organisierte, habe dann gesagt, dass sie aussteigen müssten. Sie habe begriffen, dass sie in Frankfurt seien. Der Mann sei dann verschwunden. Sie seien mit dem Zug gefahren. Ihr Neffe sei informiert worden und habe sie abgeholt. Auf Frage, wie sie zum Zug gekommen seien, gab die Mutter des Klägers an, dass der Vermittler sie zum Zug gebracht habe. Auf die Frage, wie der Weg vom Flugzeug zum Zug zurückgelegt worden sei, gab die Mutter des Klägers an, dass sie mit dem Auto gefahren sei. Auf Nachfrage hierzu gab sie an, dass sie aus dem Flugzeug ausgestiegen seien. Dann seien sie zum Zug gebracht worden. Zum Zug sei sie auf den eigenen Füßen gebracht worden. Auf Nachfrage gab sie nunmehr an, nicht mit dem Auto unterwegs gewesen zu sein. Der Neffe habe aber ein Auto, mit dem er sie später mitgenommen habe. Die Frage, ob es Kontrollen gegeben habe, bejahte sie. Sie sagte, es habe Menschen in amtlichen Anzügen gegeben.
28 
Auch die nach religiösem Ritus mit dem Kläger verheiratete Klägerin im Verfahren ... wurde kurz zum Reiseweg befragt. Sie gab an, Kabul in Richtung Jalalabad verlassen zu haben. Von dort seien sie nach Pakistan und dann nach Deutschland. Die Reise habe etwa zwei Monate gedauert, Sie seien mit dem Flugzeug gekommen. Es habe einen Schlepper gegeben. Der habe sie in einen Tunnel gebracht. Dort hätten sie sich gesetzt. Dann seien sie los geflogen und angekommen.
29 
Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss der Kammer vom 17.02.2006 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
30 
Die Erkenntnismittel aus der Erkenntnismittelliste Afghanistan (Stand 01.02.2006) wurden zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht, ebenso der Bericht von Dr. Danesch an das VG Hamburg vom 25.01.2006
31 
Dem Gericht lagen die Behördenakten vor. Auf diese wird ebenso wie auf die Gerichtsverfahrensakten wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
32 
Der Rechtsstreit ist gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden, da er keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung hat.
33 
Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens von Beteiligten entscheiden, da diese in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
34 
Die Klage ist zulässig.
35 
Sie ist zwar verfristet erhoben worden. Jedoch ist dem Kläger von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Klagfrist zu gewähren.
36 
Die Frist für die Erhebung der Klage richtet sich nach § 74 Abs. 1 1. Var. AsylVfG. Sie beträgt demnach zwei Wochen ab Zustellung des Bescheids. Ausweislich der Postzustellungsurkunde ist der Bescheid am 11.11.2005 zugestellt worden, so dass die Klagfrist in Anwendung von § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 ZPO, §§ 187 ff. BGB mit Ablauf des 25.11.2005 abgelaufen war. Die Klagerhebung am 28.11.2005 erfolgte damit verspätet. Die Zustellung ist mit Hilfe der Zustellungsurkunde, welche eine öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 ZPO darstellt, auch voll bewiesen. Ein Gegenbeweis ist durch den Kläger nicht angetreten worden. Insbesondere ist der Vermerk auf dem Umschlag des zugestellten Bescheids nicht geeignet, den Gegenbeweis hinsichtlich des Zustellungstages zu erbringen.
37 
Jedoch ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 60 Abs. 1und Abs. 2 VwGO. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist demjenigen auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Kläger war ohne Verschulden daran gehindert, die Klagfrist des § 74 AsylVfG einzuhalten. Der Kläger ist nämlich durch die Deutsche Post AG mittels des Vermerks auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks fehlerhaft über den Zeitpunkt der erfolgten Zustellung informiert worden. Er hat sich am 12.11.2005 als Zustellungsdatum orientiert und auf dieses Datum bezogen rechtzeitig, nämlich am Montag, den 28.11.2005, Klage erhoben. Für ihn war nicht ersichtlich, dass die Zustellung, welche durch Niederlegung erfolgte, tatsächlich am 11.11.2005 erfolgt ist, so dass es ihm unmöglich war, die richtige Klagfrist zu bestimmen.
38 
Es ist unschädlich, dass der Kläger keinen ausdrücklichen Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt hat. Nach § 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO kann das Gericht ohne Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, wenn die versäumte Rechtshandlung binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt worden ist. Dies ist hier geschehen. Ein Grund, von der Möglichkeit der Gewährung der Wiedereinsetzung trotz Erfüllung aller materiellen Voraussetzungen keinen Gebrauch zu machen, ist für die Kammer nicht ersichtlich.
39 
Die zulässige Klage ist überwiegend unbegründet. Sie hat lediglich in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
40 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die mit dem Hauptantrag begehrten Verwaltungsakte, so dass deren Ablehnung nicht rechtswidrig war (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
41 
Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter scheitert schon daran, dass er nicht hinreichend hat darlegen können, dass er nicht aus einem so genannten sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
42 
Nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylVfG kann sich auf das Asylgrundrecht nicht berufen, wer nach Inkrafttreten dieser Regelungen am 30. Juni 1993 (vgl. Renner, AuslR, 7. Auflage Vorbemerkung AsylVfG, Rn. 18) aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem sicheren Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.
43 
Hinsichtlich des Nachweises des Reisewegs gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 29.06.1999 - 9 C 36/98 -, BVerwGE 109, 174 ff.) folgendes:
44 
Auch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess sind die Beteiligten verpflichtet, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Im Asylverfahren gilt dies in besonderem Maße für den Asylbewerber (vgl. §§ 15, 25 AsylVfG). Gleichwohl ist und bleibt es Aufgabe des Gerichts, von sich aus den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderlichen Sachverhaltsaufklärungen zu betreiben und sich seine eigene Überzeugung zu bilden ( § 86 Abs. 1 Satz 1 , § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ). Die Mitwirkungspflichten der Beteiligten entbinden das Gericht daher grundsätzlich nicht von seiner eigenen Aufklärungspflicht. Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch die Beteiligten kann allerdings die Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Gerichts herabsetzen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die gerichtliche Aufklärungspflicht dort ihre Grenze findet, wo das Vorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. So besteht im Asylrechtsstreit Anlass zu weiterer Sachaufklärung generell dann nicht, wenn der Asylbewerber unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflichten seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht unter Angabe genauer Einzelheiten schlüssig schildert.
45 
Ob bei einer vom Asylbewerber behaupteten, aber nicht belegten Einreise auf dem Luftweg weitere Ermittlungen durch das Gericht anzustellen sind, ist eine Frage der Ausübung tatrichterlichen Ermessens im Einzelfall. Ein Anlass zu weiterer Aufklärung ist beispielsweise dann zu verneinen, wenn der Asylbewerber keine nachprüfbaren Angaben zu seiner Einreise gemacht hat und es damit an einem Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen fehlt. Macht der Asylbewerber Angaben, so hat das Gericht diese zu berücksichtigen. Es kann in diesem Zusammenhang insbesondere frei würdigen, dass und aus welchen Gründen der Asylbewerber mit falschen Papieren nach Deutschland eingereist ist, dass und warum er - wie im vorliegenden Fall behauptet - Reiseunterlagen, die für die Feststellung seines Reiseweges bedeutsam sind, nach seiner Ankunft in Deutschland aus der Hand gegeben hat und schließlich, dass und weshalb er den Asylantrag nicht bei seiner Einreise an der Grenze, sondern Tage oder Wochen später an einem anderen Ort gestellt hat.
46 
Im Rahmen seiner Überzeugungsbildung ist das Gericht zwar aus Rechtsgründen nicht daran gehindert, die Angaben des Asylbewerbers auch ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen. Dies gilt insbesondere, wenn sich der Asylbewerber - wie typischerweise bei den Vorgängen im Verfolgerland - in Beweisnot befindet. Es bedarf jedoch keiner weiteren Darlegung, dass gerade in den Fällen, in denen der Asylbewerber die Weggabe wichtiger Beweismittel behauptet, also in den Fällen einer selbst geschaffenen Beweisnot, das Vorbringen besonders kritisch und sorgfältig zu prüfen ist. Den Asylsuchenden trifft insoweit zwar keine Beweisführungspflicht. Das Gericht kann aber bei der Feststellung des Reisewegs die behauptete Weggabe von Beweismitteln wie bei einer Beweisvereitelung zu Lasten des Asylbewerbers würdigen. Dies mag um so näher liegen, je weniger plausibel die Gründe erscheinen, die für das beweiserschwerende Verhalten angeführt werden. So kann etwa das Vorbringen, der Schleuser habe die Dokumente zur Wahrung seiner Interessen - namentlich zum Schutz vor Enttarnung und Bestrafung - wieder an sich genommen, regelmäßig weder erklären, weshalb der Flüchtling nach dem Passieren der Passkontrolle, also gleichsam unter den Augen der deutschen Grenzbehörden, zu seinem Nachteil Beweismittel aus der Hand gegeben hat, noch warum er sich nicht wenigstens ohne Papiere unverzüglich bei der Grenzbehörde im Flughafen gemeldet und dort um den begehrten asylrechtlichen Schutz nachgesucht hat.
47 
Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Asylbewerber - wie von ihm behauptet - auf dem Luftweg eingereist ist, kann es gleichzeitig aber auch nicht die Überzeugung gewinnen, dass er auf dem Landweg eingereist ist, und sieht es keinen Ansatzpunkt für eine weitere Aufklärung des Reisewegs, hat es die Nichterweislichkeit der behaupteten Einreise auf dem Luftweg („non liquet") festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Bleibt der Einreiseweg unaufklärbar, trägt der Asylbewerber die materielle Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaats nach Art. 16 a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG auf dem Luft- oder Seeweg nach Deutschland eingereist zu sein.
48 
Unter Anwendung dieser vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze ist der Kläger von einer Berufung auf Art. 16a Abs. 1 GG ausgeschlossen. Der Kläger hat wie auch die übrigen Mitglieder seiner Familie zunächst keine Beweisdokumente zum Einreiseweg vorlegen können. Die Begründung hierfür ist sehr allgemein gehalten. Es ist ihm nicht gelungen, die Einreise auf dem Luftweg in einer Weise detailliert zu schildern, dass ihm allein aufgrund seiner Einlassung geglaubt werden könnte. Die Einlassungen des Klägers und auch seiner Familie zum Verlassen Pakistans mit dem Flugzeug sind zur vollen Überzeugung des Gerichts auswendig gelernte, erfundene Schilderungen. Diese Überzeugung gründet sich darauf, dass die einheitliche Beschreibung, man habe sich in einen Tunnel gesetzt und dann gemerkt, dass es sich dabei um das Flugzeug handele, sich nur so erklären lassen kann. Zwar ist es nach den Grundsätzen der Aussageanalyse regelmäßig als Realkennzeichen zu werten, wenn eine Person ein Geschehen wiedergibt und es bei der wiedergebenden Schilderung deutlich wird, dass der wirkliche Sinnzusammenhang von der Person zunächst nicht richtig verstanden wird. Es handelt sich dabei um das so genannte Unverständnismerkmal (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1. 2. Aufl. 1995 Rn. 268), Jedoch ist es auffällig, dass hier von mehreren Familienmitgliedern übereinstimmend ein einheitliches Missverstehen der Situation angeben, das sich eigentlich nicht aufdrängt. Dies ist dann ein eindeutiges Indiz dafür, dass hier eine auswendig gelernte Schilderung, die so nicht der Realität entsprungen ist, dargeboten worden ist.
49 
Im Übrigen gilt es zu bedenken, dass aufgrund des wenig detaillierten Vortrags es selbst bei unterstellter Benutzung eines Flugzeugs zur Ausreise es ebenso wahrscheinlich ist, dass der Kläger und seine Familie in einem sicheren Drittstaat umgestiegen sind und er dort die Möglichkeit gehabt hätte, einen Asylantrag zu stellen wie es eine direkte Einreise in die Bundesrepublik ist. Die Angaben des Klägers und seiner Familie zur Einreise waren im Übrigen so wenig konkret, dass eine weitere Ermittlung des Reisewegs durch das Gericht schon gar nicht möglich ist. Somit bleibt der Reiseweg im Einzelnen letztlich nicht aufklärbar, so dass der Kläger die materielle Beweislast dafür trägt, ohne Berührung eines sicheren Drittstaats eingereist zu sein mit der Folge, dass er keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter haben kann.
50 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Dessen Voraussetzungen liegen nicht vor.
51 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese Voraussetzungen liegen nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bei sonstigen Ausländern, die im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebietes als ausländische Flüchtlinge i.S. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind vor. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellt außer in den Fällen des § 60 Abs. 1 Satz 2 fest, ob die Voraussetzungen des Abs. 1 vorliegen (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung nach Art. 16 a Abs. 1 GG einerseits und eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG andererseits sind nur teilweise deckungsgleich, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut sowie den politischen Charakter der Verfolgung betrifft. Hinsichtlich dieser Kriterien umfasst das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG alle Fallkonstellationen, die auch von Art. 16a Abs. 1 GG erfasst werden. Jedoch gehen die Regelungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowohl hinsichtlich der Verfolgungshandlungen als auch der Verfolgungssubjekte über den Schutz des Grundrechts auf Asyl hinaus. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von dem Staat (lit. a)), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (lit. b)) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (lit. c)). Nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.
52 
Der Kläger ist nicht verfolgt im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG aus Afghanistan ausgereist. Im Falle seiner Rückkehr droht ihm eine solche Verfolgung auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
53 
Politische Verfolgung liegt vor, wenn dem einzelnen durch seinen Heimatstaat oder durch Maßnahmen Dritter, die diesem Staat zurechenbar sind, in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen (z.B. seine Volkszugehörigkeit), gezielt Rechtsgutverletzungen zugefügt werden, die ihn nach ihrer Intensität und Schwere nicht lediglich unerheblich beeinträchtigen, sondern ihn aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschl. v. 10. 07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 ff.). Staatlichkeit in diesem Sinne stellt ab auf das Vorhandensein einer in sich befriedeten Einheit, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise relativiert, dass diese unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeit des Einzelnen nicht in Frage stellen, insgesamt also die Friedensordnung nicht aufheben. Dazu dient staatliche Macht. Die Macht, zu schützen, schließt indes die Macht, zu verfolgen, mit ein. Daher hebt die Asylgewährleistung im Grundgesetz ganz auf die Gefahren ab, die aus einem bestimmt gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt erwachsen; sie will den Einzelnen vor gezielten, an asylerhebliche Merkmale anknüpfenden Rechtsverletzungen schützen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Darin liegt als Kehrseite beschlossen, dass Schutz vor den Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt nicht durch Art. 16a Abs. 1 GG versprochen ist (BVerfG, Urt. v. 10.08.2000 - 2 BvR 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 ff.). Das Element der "Staatlichkeit" oder "Quasi-Staatlichkeit" von Verfolgung darf nicht losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal des "politisch" Verfolgten betrachtet und nach abstrakten staatstheoretischen Begriffsmerkmalen geprüft werden. Es muss vielmehr in Beziehung gesetzt bleiben zu der Frage, ob eine Maßnahme den Charakter einer politischen Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG aufweist, vor der dem davon Betroffenen Schutz gewährt werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass politische Verfolgung von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist; politische Verfolgung ist somit grundsätzlich staatliche Verfolgung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. 07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, a.a.O.). Die Prüfung bestimmter staatstheoretischer Merkmale für die Annahme vorhandener oder neu entstehender Staatlichkeit kann mithin für die Beurteilung, ob Verfolgungsmaßnahmen die Qualität politischer Verfolgung haben, nicht schlechthin konstitutiv, sondern nur - wenn auch in gewichtiger Weise - indiziell sein. Maßgeblich für die Bewertung einer Maßnahme als politische Verfolgung ist, dass der Schutzsuchende einerseits in ein übergreifendes, das Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft durch Befehl und Zwang ordnendes Herrschaftsgefüge eingebunden ist, welches den ihm Unterworfenen in der Regel Schutz gewährt, andererseits aber wegen asylerheblicher Merkmale von diesem Schutz ausgenommen und durch gezielt zugefügte Rechtsverletzungen aus der konkreten Gemeinschaft ausgeschlossen wird, was ihn in eine ausweglose Lage bringt, der er sich nur durch die Flucht entziehen kann (vgl. zum Ganzen BVerfG, Urt. v. 10.08.2000 - 2 BvR 1353/98 -, a.a.O.).
54 
Aus den Einlassungen des Klägers und seiner Familie kann auf das Vorliegen einer individuellen Verfolgung oder der Gefahr einer solchen Verfolgung im Falle der Rückkehr nicht geschlossen werden. Der Kläger konnte lediglich angeben, einmal von einem ihm nicht näher bekannten Taxifahrer bedroht worden zu sein. Damit ist erforderliche Intensität einer Bedrohung für eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht erreicht. Die Angaben des Klägers zur Frage der Schikane hinsichtlich der Religionsausübung sind sehr allgemein gehalten, so dass die Feststellung einer individuellen Bedrohung in diesem Bereich auch nicht in Betracht kommt.
55 
Eine Verfolgung kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Religionsgemeinschaft der Hindus in Afghanistan in Betracht.
56 
Das Grundrecht auf Asyl ist ebenso wie das Recht auf Anerkennung als Flüchtling aus § 60 Abs. 1 AufenthG ein Individualrecht. Nur derjenige kann es in Anspruch nehmen, der selbst - in seiner Person - Verfolgung erlitten hat; dabei steht der eingetretenen Verfolgung die unmittelbar drohende Gefahr der Verfolgung gleich. Die Gefahr eigener Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich aus gegen den Asylsuchenden selbst gerichteten oder ihm unmittelbar drohenden Maßnahmen des Verfolgers, der ihn bereits im Blick hat, ergeben. Sie kann sich aber auch aus gegen Angehörige einer Gruppe gerichteten Maßnahmen des Verfolgers ergeben, wenn diese Gruppe wegen eines nach § 60 Abs. 1 AufenthG erheblichen Merkmals verfolgt wird, das der Asylsuchende mit deren Angehörigen teilt, und wenn sich dieser nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit in einer mit ihnen vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen eher zufällig erscheint (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 ff.; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200 ff. m.w.N.). In welchem Maße dies der Fall ist, wird je nach den tatsächlichen Verhältnissen, unter denen sich politische Verfolgung in den Herkunftsländern ereignet, unterschiedlich zu beurteilen sein. Die historische und zeitgeschichtliche Entwicklung lehrt, dass für den Einzelnen die Gefahr, selbst verfolgt zu werden, um so größer und - hinsichtlich ihrer Aktualität - um so unkalkulierbarer ist, je weniger sie von individuellen Umständen abhängt oder geprägt ist und je mehr sie unter Absehung hiervon überwiegend oder ausschließlich an kollektive, dem Einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Sieht der Verfolger von individuellen Merkmalen gänzlich ab, weil seine Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher gilt, so kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 -, a.a.O). Richtet sich die Verfolgung gegen Gruppen von Menschen, die durch gemeinsame Merkmale wie etwa Rasse, Religion oder politische Überzeugung verbunden sind, so ist in aller Regel davon auszugehen, dass sich diese Verfolgung gegen jeden Angehörigen der verfolgten Gruppe richtet. Ob dies der Fall ist, richtet sich letztlich nach dem inhaltlichen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen und nach dem äußerlich erkennbaren Verhalten des Verfolgerstaates. Angesichts der Vielgestaltigkeit tatsächlicher Erscheinungsformen politischer Einzel- und Gruppenverfolgung kommt es mithin darauf an, wer bei realitätsgerechter Ermittlung und Bewertung des gesamten Verfolgungsgeschehens zum Kreis der gefährdeten Personen zu rechnen ist. Daher sind grundsätzlich bei der Abgrenzung einer kollektiv gefährdeten Gruppe alle Personen einzubeziehen, gegen die der Verfolgerstaat - objektiv gesehen - seine Verfolgung betreibt oder voraussichtlich betreiben wird. Das können sämtliche Träger des dem Verfolgerstaat missliebigen, ihn zur Verfolgung veranlassenden Persönlichkeitsmerkmals, etwa einer bestimmten Ethnie oder Religion sein. Der Verfolger kann aber hiervon wiederum bestimmte Untergruppen ausnehmen, etwa wegen bei ihnen zusätzlich vorhandener Merkmale oder Umstände, beispielsweise eines Merkmals, das sie in seinen Augen „rehabilitiert". Welche zusätzlichen Umstände oder Merkmale in diesem Sinne zur Abgrenzung der verfolgten Gruppe im Einzelnen heranzuziehen sind, ist nach der tatsächlichen Reichweite des Verfolgungsgeschehens zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 171/95 -, BVerwGE 101, 134 ff.).
57 
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte „Verfolgungsdichte" voraus, welche die „Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungsmaßnahmen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Dies gilt gleichermaßen für die mittelbare wie auch für die unmittelbare Gruppenverfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, a.a.O.) Erhebliche Unterschiede können sich insoweit aber im Hinblick auf die prinzipielle Überlegenheit staatlicher Machtmittel sowie daraus ergeben, dass die Annahme einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung voraussetzt, dass mit ihr eigene staatliche Ziele durchgesetzt werden sollen und dass diese Ziele - offen oder verdeckt - von eigenen staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat dazu berufene oder doch autorisierte Kräfte durchgesetzt werden können. Im Unterschied zur mittelbaren Gruppenverfolgung kann daher eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung schon dann anzunehmen sein, wenn zwar „Referenz-" oder Vergleichsfälle durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden „Wiederholungsgefahr" nicht im erforderlichen Umfang oder überhaupt (noch) nicht festgestellt werden können, aber hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht. Das kann etwa der Fall sein, wenn festgestellt werden kann, dass der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten physisch vernichten oder ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. In derartigen extremen Situationen bedarf es nicht erst der Feststellung einzelner Vernichtungs- oder Vertreibungsschläge, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgung darzutun. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. „Referenzfälle" politischer Verfolgung sowie ein „Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, a.a.O.).
58 
Das Vorliegen der erforderlichen Verfolgungsdichte ist zu verneinen. Auch ist kein taugliches Verfolgungssubjekt im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG als Verantwortlicher für die geltend gemachten Verfolgungshandlungen festzustellen.
59 
Die Lage der Minderheit der Hindus in Afghanistan stellt sich für das Gericht bei Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wie folgt dar:
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Dr. Danesch führt in seinem Sachverständigengutachten für das VG Hamburg vom 25.01.2006 unter anderem aus:
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„In Afghanistan lebten während der Zeit des Präsidenten Najibullah - je nach Quelle - zwischen 130.000 bis 200.000 Hindus und Sikhs, d.h. sie waren die größte religiöse Minderheit im Land. Insgesamt leben heute in Afghanistan noch 1.500 - 2.000 Hindus und Sikhs. Nach meiner intensiven Recherche leben in Kabul heute ca. 1.000 -1.300 Hindus und Sikhs. In Kandahar, im „Shekarpour"-Bazar, leben heute ca. 45 Hindu-Familien, etwa 150 bis 200 Personen. Einst existierte hier eine große Hindu und Sikh-Gemeinschaft von mehreren tausend Menschen. Einige der heutigen Bewohner leben in Privathäusern und haben sich nach außen hin vollkommen assimiliert. Der Rest lebt im Tempel unter äußerst provisorischen Bedingungen, die sich von den Lebensverhältnissen in Kabul nicht unterscheiden. In Jalalabad, im Osten des Landes, leben ungefähr 85 Familien (ca. 400 Personen) in einem ehemaligen Schulgebäude der Hindus und Sikhs, um sich gegenseitig zu unterstützen. Auch hier lebten vor Jahren noch mehrere Tausend Hindus und Sikhs, meist Geschäftsleute. In Khost, ebenfalls im Osten Afghanistans, lebten einst 400 Hindu-Familien, eine Gemeinschaft von ca. 2400 bis 3000 Menschen. Heute sind es noch ca. 30 Familien (120-150 Personen), die im Viertel „Kalay-e Hindu" im Zentrum der Stadt leben. Schulen gibt es dort nicht mehr; die Hindu-Kinder werden nur von ihren Eltern in ihrer Religion unterwiesen und wachsen ansonsten als Analphabeten auf, so dass die wenigen verbliebenen Hindus eine Zukunft in den untersten Bereichen der Gesellschaft erwartet. Auch dort haben sich, ähnlich wie in Kabul, alle in den Tempel zurückgezogen und werden derart bedroht und drangsaliert, dass sie sich bewaffnet haben, um sich notfalls zu verteidigen. Viele von ihnen sind in den letzten Jahren in die Hauptstadt geflüchtet. Man kann davon ausgehen, dass diese Hindu-Gemeinde bald nicht mehr existieren wird. In den Städten Ghazni, Gardez und Kunduz im Norden leben insgesamt etwa 100-150 Personen. Nachdem die Regierung Karsai im Dezember 2001 die Macht in Kabul übernahm und den Minderheiten in Afghanistan religiöse Freiheiten und Rechte versprach, veranlasste dies etliche Hindus und Sikhs, die nach Indien geflüchtet waren, zur Rückkehr, in der Hoffnung, gleichberechtigte Bürger Afghanistans zu sein und ihr Eigentum an Häusern und Firmen zurückzubekommen. Gerade diese Rückkehrer wurden aber in jeder Hinsicht enttäuscht, als die religiöse und ethnische Verfolgung sich fortsetzte. Sie flüchteten nun abermals aus dem Land. Nur die Ärmsten der Armen, die nicht über die nötigen Fluchtmittel verfügten, blieben im Lande zurück. ...
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Zunächst möchte ich ausführen, dass die Hindus und Sikhs von der muslimischen Bevölkerung - und auch von der afghanischen Regierung - als Atheisten und Götzendiener betrachtet werden, In den Augen der Muslime sind sie damit „Unreine", weshalb sie auch keine Aufnahme in den für Muslime vorgesehenen Flüchtlingslagern finden können. Als einzige Zufluchtsmöglichkeiten für abgeschobene Hindus bleiben damit nur ihre noch im Lande befindlichen Tempelanlagen. Dort können sie dann ihr Leben in Isolation von der Allgemeinheit fristen. Bereits die Mujahedin hatten die Infrastruktur der Hindu- und Sikh-Gemeinden zerschlagen und den Großteil der einst einflussreichen Minderheit aus dem Land vertrieben. Schon nach 1992 waren bis auf wenige Menschen, die sich eine Flucht aus finanziellen Gründen nicht leisten konnten, praktisch alle afghanischen Hindus und Sikhs geflüchtet. Auch die Taleban betrieben nach ihrer Machtübernahme (Einmarsch in Kabul 1996; Beherrschung praktisch des ganzen Landes ab 1998) gegenüber den wenigen noch im Land verbliebenen Hindus eine äußerst restriktive Politik. Hindus und Sikhs mussten Zeichen an ihrer Kleidung tragen, um sie kenntlich zu machen und besser kontrollieren zu können. Während der Taleban-Herrschaft waren die Hindus und Sikhs sowohl religiös als auch ethnisch motivierter Verfolgung ausgesetzt: zum einen als „Gottlose" und „Götzendiener", die den extrem fundamentalistischen Taleban womöglich noch verhasster waren als den Mujahedin; zum anderen wurden sie von den paschtunischen Taleban, deren politisches Ziel die Wiederherstellung der alten paschtunischen Vorherrschaft in Afghanistan war, auch als ethnische Minderheit diskriminiert. Im ganzen Land waren nur einige hundert Familien verblieben, die weit verstreut lebten und versuchten, sich der afghanischen Bevölkerung anzupassen, um nicht aufzufallen. Speziell in Kandahar wurden Hindus und Sikhs derart drangsaliert, dass sie versuchten, sich zu assimilieren, afghanische Kleidung trugen und Pashtu sprachen. Wenn man heute solche Menschen trifft, kann man verleugnet haben, um ihr Leben zu retten. Bereits an dieser Stelle möchte ich vorwegnehmen, dass sich mit der Vertreibung der Taleban und dem Einsetzen der Karsai-Regierung die Lage der Hindus und Sikhs nicht entscheidend geändert hat. Während meiner jüngsten Reise zwischen dem 10.12. und dem 26.12.2005 habe ich mich intensiv mit der Lebenssituation und politischen Lage der Hindus und Sikhs, besonders in Kabul, beschäftigt. Dabei kam mir zu statten, dass ich die Stadt seit beinahe dreißig Jahren gut kenne und - speziell auf diese Thematik bezogen - den direkten Vergleich zwischen der „Blütezeit" der Hindu-Gemeinden in den 1980er Jahren und ihrer heutigen Lage ziehen kann. Kabul ist eine Stadt, in der traditionell die verschiedenen Ethnien bestimmte Wohnviertel bevorzugen, beispielsweise lebten seit altersher im Westen mehrheitlich afghanische Schiiten. So stellten auch die Hindus und Sikhs in bestimmten Stadtgebieten traditionell die Mehrheit und besaßen dort ihre Tempel und Kultstätten. Viele der materiell gut gestellten Hindus und Sikhs waren Hausbesitzer und betrieben selbstständig größere oder kleinere Firmen oder waren im Handel tätig. Früher fand dort ein reiches kulturelles Leben statt. Die wohlhabenden Gemeinden waren auch in der Lage, eigene Schulen zu betreiben, an denen die junge Generation eine qualifizierte, staatlich anerkannte Ausbildung erhielt.
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Die materiellen Lebensverhältnisse der afghanischen Hindus und Sikhs sind heute dadurch gekennzeichnet, dass ihr Haus- und Grundbesitz enteignet wurde. Ihre einzige Zuflucht sind ihre ehemaligen Tempel in ihren alten Wohngebieten. Im Zuge meiner Recherchen suchte ich daher alle Viertel in der Hauptstadt auf, die traditionell von Hindus bewohnt wurden, wobei ich mich von zwei Hindu-Informanten begleiten ließ. In dem Viertel „Shur Bazar" im Süden Kabuls lebten von der Zeit Zahir Schahs bis zur Najibullah-Ära ca. 35.000 Hindus und Sikhs, die meisten aus der unteren und der Mittelschicht, darunter viele Ladenbesitzer. Heute ist es ein Armenviertel, in dem mehrere hunderttausend Menschen leben, jedoch praktisch keine Hindus und Sikhs mehr. Die Einwohner sind heute Muslime, unter ihnen viele ehemalige Mujahedin. Von der Hindu-Gemeinde ist im Straßenbild nichts mehr zu entdecken. Einst hatte es in diesem Viertel acht größere Tempel gegeben, Diese wollte ich aufsuchen, um festzustellen, ob in den Tempelbezirken noch Hindus lebten. Diese Tempel sind die einzigen Stellen, an die sich ein abgeschobener afghanischer Hindu wenden kann; abgesehen von der einmaligen 12-Dollar-Hilfe der UNO, die er als afghanischer Staatsangehöriger einfordern kann.
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Auf dem Gehweg zu einem der Tempel, der am Ende einer Gasse liegt, wurden wir von mehreren Mujahedin angehalten und angegriffen, da sie glaubten, wir kämen, um Ansprüche auf enteignete Häuser zu erheben. Insbesondere griffen sie meine Begleiter, zwei Hindus, tätlich an, beschimpften sie als Gottlose und verlangten zu wissen, was sie hierzu suchen hätten. Vor ihrem Angriff flüchteten wir in den Tempel, wo ich tatsächlich einige Hindu- und Sikh-Familien antraf. Auch in dem zweiten ehemaligen Tempel des Viertels leben noch wenige Personen. Von diesen Hindus im „Shur Bazar"-Viertel erhielt ich folgende Auskunft: Die ehemaligen Bewohner des Viertels seien fast alle nach Indien, manche auch nach Europa und Übersee geflüchtet. Von den einst acht Hindu-Tempeln sind vier so stark zerschossen, dass sie praktisch nur noch Ruinen darstellen. Trotzdem leben dort noch einige Familien. In zwei weiteren Tempeln leben auch einige Familien; die Mehrzahl der verbliebenen Hindus dieses Viertels konzentriert sich auf die vier Tempel, die ich aufsuchte. Doch auch diese sind durch den Krieg stark zerstört; ein Wiederaufbau hat bisher nicht stattgefunden.
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Die Tempel, in denen die Hindus und Sikhs nun zwangsweise leben, liegen durch die Kriegszerstörungen praktisch in Trümmern und sind völlig zerschossen. Wenige unzerstörte Räume ohne Türen und Fenster und ohne Einrichtung dienen den Bewohnern als Wohn- und Schlafräume, in denen einige zerfetzte Decken und ein paar Kochstellen die gesamte Ausstattung bilden. Besonders Frauen und Kinder sind sichtlich von Krankheiten und Mangelernährung gezeichnet. Man erklärte mir, die Menschen in dem von mir zuerst besuchten Tempel stammten aus der Stadt Khost, wo die Zustände so schlimm seien, dass sie in Kabul Zuflucht gesucht hätten, Die ca. siebzig Kinder, die im Tempel leben, wagen nicht, das Gelände zu verlassen, weil sie außerhalb ihrer Zuflucht von ihren muslimischen Altersgenossen beschimpft und mit Steinen beworfen werden.
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Teilweise leben dort auch verarmte muslimische Flüchtlinge, mit denen die Hindus sich wohl oder übel arrangieren müssen. In ihrer Blütezeit waren die Hindu-Tempel mit ihren prachtvollen Fassaden und ihrer herrlichen Ausstattung geradezu ein Symbol der afghanischen Kultur. Doch während der Jahre der Kämpfe - zwischen den Mujahedin und später während der Belagerung der Taleban - lagen die Tempel ständig in der Schusslinie, so dass ihre Architektur vollkommen zerstört wurde. Heute ist ihre Umgebung dazu noch unbeschreiblich schmutzig und offensichtlich die Abfallhalde der Nachbarschaft. Eine Kanalisation gibt es nicht; wenn es im Winter regnet, watet man dort zwanzig Zentimeter tief in stinkendem Schlamm. Die afghanische Regierung unternimmt nichts zu ihrer Restaurierung. Ich bin überzeugt davon, dass sie in wenigen Jahren nur noch Schutthaufen darstellen werden, die man abträgt, um neue Häuser für muslimische Afghanen zu bauen; dann wird dieses kulturelle Erbe unwiederbringlich verloren sein. In einem der Tempel sprach ich einen Familienvater direkt an und wollte von ihm wissen, wie seine Familie überlebe. Er gab mir folgende Auskunft, die auch für alle anderen Hindus gilt: „Ich hatte einen Gewürzladen im Bazar. Die Mujahedin haben ihn mir weggenommen, mich geschlagen und aus dem Bazar vertrieben. Ich hatte kein Geld, um aus dem Land zu fliehen, und musste hier bleiben. Inzwischen habe ich eine Frau und vier Kinder. Ich wohne in diesen Trümmern." Er zeigte mir einen Raum mit Betonboden, auf sich nur einige zerfetzte Decken, ein Gaskocher und etwas Blechgeschirr befand. Dort lebten sechs Personen. Seine Frau und seine Kinder wagten nicht, den Tempel zu verlassen. Über Tag hockten sie auf dem Hof, um sich in der Sonne zu wärmen. Auf die Frage, ob sie sich bei Nacht - bei Temperaturen bis minus zehn Grad - irgendwie wärmen könnten, lachte er nur. Sie hätten keine Möglichkeit, an Brennmaterial für ein Feuer zu kommen. Für genügend Brennholz müsste er das gesamte Geld, das er als Tagelöhner verdient, ausgeben. Nach dem Dunkelwerden werde trockenes Brot gegessen, und dann versuchten die Bewohner, ohne Licht und Wärme Schlaf zu finden. Auf Nachfrage erklärte er, manchmal finde er Arbeit als Tagelöhner, oft allerdings auch nicht. Wenn, dann verdiene er 100, mit Glück gelegentlich 150 Afghani am Tag (2 bzw. 3 Dollar) - für einen Arbeitstag von zwölf Stunden. Von diesem Geld könne er nur trockenes Brot für seine Kinder kaufen, damit sie wenigstens drei Mal am Tag etwas zu essen bekämen. Ganz selten gebe es Tee, der ein Almosen des Tempels sei. Fleisch, Obst, Gemüse, ja sogar Zucker für den Tee seien inzwischen Fremdwörter für sie. Auch er berichtete, von in- oder ausländischen Hilfsorganisationen hätten sie noch nie etwas gesehen. Seit drei Jahren appellierten die Hindus ständig an die Hilfsorganisationen, bekämen aber stets die Antwort, sie seien noch nicht an der Reihe. Manche gäben ihnen auch die zynische Antwort, sie seien doch Hindus, daher solle Indien ihnen helfen.
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Zusammenfassend ist festzustellen, dass nicht einmal die Versorgung der Hindus und Sikhs mit einem existenziellen Minimum an Lebensmitteln gesichert ist. Weder der Staat noch ausländische Hilfsorganisationen gewähren den Hindus und Sikhs die geringste Unterstützung. Die Tempel versuchen ihre Gemeindemitglieder, durch Mittel aus Almosen zu unterstützen, doch diese sind sehr gering und retten die Bewohner kaum vor dem Verhungern. Offensichtlich ist es die Politik der afghanischen Regierung, das Problem zu ignorieren und darauf zu warten, dass sich die Hindu-Frage sozusagen auf „demographische" Weise von selbst löst, indem die Mischung aus offiziellem Ignorieren, gesellschaftlicher Diskriminierung und kultureller und religiöser Unterdrückung die Hindus zwingt, sich entweder vollkommen anzupassen oder das Land zu verlassen. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, ist wahrscheinlich, dass die Hindus als eigenständige Minderheit in Afghanistan innerhalb weniger Jahre ausgelöscht sein werden. Insgesamt sind die Bedingungen, unter denen die Hindus und Sikh in ihren ehemaligen Tempeln leben, so katastrophal, dass eine Abschiebung in der Tat - so das Kriterium deutscher Gerichte - bedeuten würde, Rückkehrer „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen [auszuliefern]".
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Die Hindus und Sikhs in Afghanistan sind auch einer expliziten Diskriminierung ausgesetzt, die eindeutig zum Ziel hat, sie als religiöse und kulturelle Minderheit innerhalb kürzester Zeit auszulöschen, ihre Schulen sind geschlossen. Hindus berichteten mir, sie hätten sich nach dem Antritt der Regierung Karsai an das Bildungsministerium gewandt und gebeten, wieder eigene Schulen für ihre Kinder einzurichten und mit Finanzen und Lehrern auszustatten; jedoch ohne die geringste Reaktion. Darüber hinaus haben die Hindus und Sikhs keinerlei theoretische oder praktische Möglichkeit, ihren während der Herrschaft der Mujahedin und der Taleban enteigneten Besitz zurück zu erlangen. Um den Hindus und Sikhs ihre Lebensgrundlage zu entziehen, hatten bereits die Mujahedin eine systematische Enteignungspolitik betrieben. Mujahedin- Kommandanten eigneten sich die Firmen, Läden und Privathäuser der Sikhs und Hindus an. Seitdem war es ihnen weder unter der Mujahedin-Herrschaft noch seit dem Amtsantritt der Regierung Karsai möglich, ihr Eigentum zurückzuerhalten. Daher leben heute die wenigen Hindus und Sikhs, die in Afghanistan verblieben sind, so gut wie ausschließlich in den ehemaligen Tempelbezirken ihrer Gemeinden. Sie müssen also ein Leben in der Isolation führen. Über die Enteignungen unmittelbar nach der Machtübernahme der Mujahedin berichteten mir einige alt eingesessene muslimische Händler im Geldbazar „Saray~e Schazdeh", der einst von Hindus dominiert wurden. Als die Mujahedin kamen, überfielen sie den Geldbasar, trieben Hunderte von Hindus zusammen, schlugen sie und konfiszierten ihre Läden und ihr Eigentum. Ihre Geschäfte wurden von Mujahedin übernommen, die dort heute als Händler sitzen und sich als „Ehrenmänner" geben und begreifen. Die Hindus haben keinerlei Aussicht, ihren Besitz zurück zu bekommen. Einige Beispiele sollen belegen, dass - anders, als die Hindus nach dem Amtsantritt der Karsai-Regierung gehofft hatten - auch die heutige Regierung nicht bereit ist, die Enteignungen der Mujahedin- und Taleban-Zeit rückgängig zu machen. Am 11.12.2005 traf ich im Laden eines der Bazarhändler, der mir Auskünfte gegeben hatte, zufällig einen Hindu. Er berichtete mir, sein Haus im Viertel „Ka!a-e Fatullah" sei von dem ehemaligen Handelsminister Mostafa Kazemi konfisziert worden. Er habe sogar gewagt, vor Gericht zu gehen. Gerade heute Morgen sei der Prozess zu Ende gegangen, und das Gericht hätte dem Minister das Haus zugesprochen. Dieser Kazemi war einer der wichtigsten Männer im Kabinett von Karsai und hat noch heute als Parlamentsabgeordneter eine wichtige Position. Dieser Kazemi ist eine so wichtige Person, dass er bei der Petersberg-Konferenz zur Neuordnung Afghanistans im Dezember 2001 wichtige Fäden im Hintergrund zog.
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Ein weiteres Beispiel aus Kabul: Der Sikh Rawinda Singh erklärte mir, er habe ein Haus in Kart-e Parwan besessen. Dieses sei vor zehn Jahren von einem bekannten Mujahedin-Kommandanten aus der Umgebung von Ahmad Schah Masud namens Gajum Somorod beschlagnahmt worden. Ihn und seine Familie habe man aus dem Haus vertrieben, geschlagen und mit dem Tod bedroht. Dieser Gajum sei später durch Kämpfe zwischen den Mujahedin-Fraktionen zu Tode gekommen. Heute lebe dort dessen Bruder, ein wichtiger Mann der Karsai-Regierung. Einmal habe er gewagt, Anspruch auf sein Haus zu erheben; doch der heutige Besitzer habe ihn mit dem Tod bedroht, wenn er noch einmal wagen würde, sein Eigentum zu beanspruchen.
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Einige Hindus erklärten, vor etwa einem Jahr hätten sie eine Delegation, die bei der Regierung vorstellig wurde und die Rückgabe ihres konfiszierten Eigentums verlangte. Doch man schickte sie nur in das Viertel „Shur Bazar" zu den Ältesten der Moscheen, die angeblich darüber entscheiden konnten. Dort jedoch begegneten sie nur bewaffneten Mujahedin, die ihnen mit dem Tod drohten, falls sie nicht verschwänden. In ihrer Religionsausübung werden die Hindus und Sikhs ebenfalls massiv behindert. Nach der Machtübernahme der Mujahedin mussten die Hindus miterleben, wie viele ihrer Tempel entweiht wurden. Beispielsweise benutzten die Mujahedin unter Präsident Rabbani einen Tempel in Kabul lange als militärischen Stützpunkt der „Schoray-e Nezar", des militärischen Arms der „Djamiat-e Islami'-Partei; zur großen Empörung der Hindus, die ihr Gotteshaus entweiht sahen. Bezeichnend, dass heute neben mehreren Hindu-Tempeln große Moscheen stehen. Diese haben ihre Lautsprecher so auf die Hindu-Tempel ausgerichtet, dass diese ständig mit den Gebetsrufen beschallt werden - eine interessante Mischung zwischen Bekehrungsversuch und Psychoterror. Nur noch in dem Tempel von Kart-e Parwan werden noch religiöse Zeremonien durchgeführt, allerdings möglichst verstohlen, um nicht die Aufmerksamkeit der muslimischen Umgebung auf sich zu ziehen, während noch in der Najibullah-Zeit die religiösen Feste öffentlich und mit großem Prunk begangen wurden.
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Die Bewohner von „Kart-e Parwan" berichteten, unter Najibullah hätten sie eine Verbrennungsstätte außerhalb des Stadtgebiets gehabt, im Süden von Kabul im Viertel „ Kalatsche ". Doch die dortige, muslimische Bevölkerung gestatte ihnen heute nicht mehr, ihre Toten dort zu verbrennen. Mehrmals hätten sie dies versucht, doch sie wären geschlagen und von dem Areal vertrieben worden. Auf Beschwerden beim Innenministerium erklärte man den Hindus und Sikhs, sie sollten Polizeischutz für ihre Zeremonien anfordern. Sie mussten jedoch erleben, dass die Polizei nicht auftauchte und sie - unter Mitnahme ihrer toten Angehörigen - vor eine aufgebrachten muslimischen Menge flüchten mussten.
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Da die Regierung ihnen keinen Ersatz zur Verfügung stelle und ihr Anliegen ignoriere, hätten sie sonst nur die Möglichkeit, ihre Toten in Pakistan oder insgeheim irgendwo in Afghanistan zu verbrennen, ein beschwerliches und teures Unternehmen. Daher seien sie darauf angewiesen, ihre Toten im Tempel von Kart-e Parwan zu verbrennen, ein Verfahren, das im Übrigen ihren religiösen Geboten widerspricht. Doch sogar dies sei ihnen offiziell verboten. Die Menschen, die ihnen ihre Häuser geraubt hätten, ließen dies nicht zu. Einer davon sei der ehemalige Verteidigungsminister Fahim. Er habe ihnen gedroht, ihren Tempel zerstören zu lassen, wenn sie noch einmal eine Verbrennung dort abhielten. Nicht einmal diese Zeremonie, die in ihrer Religion von zentraler Bedeutung ist, können die Hindus also in Afghanistan abhalten. Ich suchte die ehemalige Verbrennungsstätte im Süden von Kabul auf und befragte die Anwohner. Diese bestätigten mir die Berichte. Hindus und Sikhs sind also eindeutig religiöser Diskriminierung ausgesetzt, die sie daran hindert, ihre religiösen Riten auszuüben und deren Ge- und Verbote einzuhalten.
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Am bedeutsamsten jedoch für die fortgesetzte Existenz der Hindus und Sikhs als kulturell eigenständige Minderheit und für ihr Überleben in der Zukunft ist jedoch die Politik, die in Afghanistan gegenüber der jungen Generation betrieben wird. Ganz abgesehen von dem humanitären Aspekt des Leidens der Kinder wird hier systematisch versucht, sie von jedem Zugang zu Bildung fernzuhalten. Der Druck auf die Gemeinden geht sogar bis zur Zwangsbekehrung von Kindern. Insgesamt befinden sich in Kabul noch ca. 120 Hindu- und Sikh-Kinder. Sie sind schwer traumatisiert, völlig verängstigt und fürchten sich, das Gelände ihrer Tempel zu verlassen, um nicht von den muslimischen Kindern drangsaliert und geschlagen zu werden. Die Hälfte von ihnen besucht die so genannte Hindu-Schule. Diese ist allerdings nicht staatlich anerkannt; die Kinder werden dort nur in Religion und in ihrer eigenen Sprache unterrichtet. Die Schule hat kaum Einrichtung und Lehrmittel und nur eine einzige Klasse für Kinder von 6 bis 12 Jahren. Die Regierung stellt weder Gelder noch Lehrer. Die Hindu-Gemeinde ist, wie der Schuldirektor erklärte, nicht mehr in der Lage - wie in ihrer Blütezeit unter Najibullah -, aus eigenen Mitteln für die Schulausbildung der Kinder zu sorgen. Für ihr Leben in Afghanistan können die Kinder mit dieser Schulbildung nichts anfangen; in der afghanischen Sprache sind sie dennoch Analphabeten und erlangen keinen Schulabschluss. Diese einzige Schule befindet sich in Kart-e Parwan. Der so genannte Direktor, Otar Singh - der einzige Lehrer - erklärte, vor zweieinhalb Jahren seien einmal Vertreter von zwei NGOs dort gewesen und hätten ihnen zugesagt, beim Erziehungsministerium vorstellig zu werden, damit ihnen geholfen werde. Doch auf Hilfe warteten sie bis heute. „Es ist eine Lüge, wenn die UNO oder andere erzählen, sie hätten uns geholfen", sagte er wörtlich. Seiner Einschätzung nach sei es die Politik der Regierung, die Hindus so unter Druck zu setzen, dass sie entweder das Land verließen, oder die nächste Generation sich vollkommen assimiliere. Damit sei dann für die Afghanen das Problem gelöst. In den letzten zwei Jahren seien seiner Kenntnis nach in Kabul sieben Hindu-Kinder verhungert. Die Kinder in den anderen Vierteln haben nicht einmal Zugang zu dieser Schule, da sie nicht die Möglichkeit haben, den weiten Weg dorthin zurückzulegen. Familien haben auch immer wieder versucht, ihre Kinder in die muslimischen Schulen einzuschulen, um sie nicht als Analphabeten aufwachsen zu lassen. Doch dort wurden sie geschlagen, als Gottlose beschimpft und gezwungen, am Koranunterricht teilzunehmen. Die staatlichen Schulen versuchten ganz offen, sie zum Islam zu bekehren.
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Zusammenfassend lässt sich also zu Ihrer Frage 5 Folgendes festhalten: In der Tat erreicht die religiös motivierte Verfolgung von Hindus und Sikhs im heutigen Afghanistan asylrelevante Intensität. Hindus und Sikhs sind in ihrer Religionsausübung und kulturellen Identität in einem derartigen Ausmaß eingeschränkt, dass ihre Existenz als eigenständige Minderheit akut bedroht ist. Insbesondere muss der häufig getroffenen Einschätzung des Bundesamts widersprochen werden, die Regierung Karsai sei in der Lage oder bereit, Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung zu gewährleisten. An verschiedenen Punkten - keine Zurückerstattung enteigneten Besitzes, Verbot religiöser Zeremonien, Verweigerung der Unterstützung der Gemeinden in ihren Bildungsbestrebungen, Zwangsbekehrungen mit Rückendeckung der staatlichen Justiz usw. -wurde nachgewiesen, dass die Regierung Karsai die Hindu- und Sikh-Minderheit nicht nur nicht schützt, sondern sich aktiv an ihrer Verfolgung beteiligt. Insofern kann man für die Hindu- und Sikh-Minderheit tatsächlich von einer nichtstaatlichen wie einer staatlichen oder zumindest doch staatlich sanktionierten Verfolgung sprechen. Gegen diese und gegen gezielte Diskriminierungen und Behinderungen haben die Hindus keinerlei Möglichkeit, sich zu wehren, weder individuell noch durch Appelle an den Staat oder auf juristischem Wege.“
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Das Auswärtige Amt kommt in seinem Lagebericht vom 24.11.2005 zu folgender Einschätzung (S. 22 f.):
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„Nach offiziellen Schätzungen sind etwa 84 % der afghanischen Bevölkerung sunnitische Muslime, ca. 15 % schiitische Muslime. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften (wie z. B. Sikhs, Hindus, Christen) machen nicht mehr als einen Prozent der Bevölkerung aus.
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Artikel 2 der neuen afghanischen Verfassung bestimmt in Absatz 1, dass der Islam Staatsreligion Afghanistans ist. Absatz 2 der Vorschrift räumt Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht ein, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Somit gibt es in Afghanistan das Recht auf freie Religionswahl und -ausübung. Dieses Recht steht unter einem Gesetzesvorbehalt. Er ist nach Kenntnis der Auswärtigen Amts bislang nicht konkretisiert worden. Am 17.09.2003 hat Präsident Karzai die Einsetzung eines islamischen religiösen Rates (Shura) per Dekret genehmigt. Die Shura, in der Religionsgelehrte aller Provinzen vertreten sein sollen, umfasst rund 2.600 Mitglieder. Die Religionsgelehrten sollen dafür Sorge tragen, dass die Gebote des Islam eingehalten werden und insbesondere auch der Propaganda entgegenwirken, die zum Heiligen Krieg gegen die Übergangsregierung aufruft. Bislang ist dieser Rat lediglich mit der Ausarbeitung einer Resolution in Erscheinung getreten, in der die einflussreichen Religionsgelehrten aufgerufen werden, die Übergangsregierung zu unterstützen. Im Religionsministerium wurde eine Abteilung zur "Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften" mit fünf Unterabteilungen (Ursprung islamischer Wissenschaften, "Einladung zum Islam und Hinweisung", soziale Reformen, Erkennen von Unglauben sowie "Einladung zum Islam und Hinweisung für Frauen") gegründet. Die Abteilung verfügt nicht über polizeiliche Befugnisse. Leiter der Abteilung ist Sayed Ababas Quasimi, ein im Iran ausgebildeter Islamwissenschaftler, der auch zeitweise Architektur in Hamburg studiert hat. Als Schwerpunkt der Abteilung sieht er die grundlegende Information von Bürgern über Fragen der Hygiene, des Umweltschutzes, des Zusammenlebens in der Familie u. a. wie auch die Rechte und Pflichten in der Gesellschaft auf der Grundlage des Islam. Als Leitlinie wurde zudem die Verhinderung der Diskriminierung von Frauen und Ermutigung zu ihrer Fortbildung und stärkerer Teilnahme an der Gesellschaft genannt. Schlechte finanzielle und Sachausstattung verstärken den Eindruck, dass die Einrichtung der Abteilung kein prioritäres Anliegen der Regierung ist.
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Die früher in Kabul lebende Hindu- und Sikh-Minderheit (zusammen deutlich unter ein Prozent der Bevölkerung) gibt sich gegenwärtig praktisch nicht zu erkennen. Nach Angaben einer indischen Nachrichtenagenturleben etwa 5.000 Hindus und Sikhs in Afghanistan. Nach Auskunft der "Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft", die sehr enge Beziehungen in die afghanische Hindu-Gemeinde unterhält, gibt es gravierende Fälle von Diskriminierung gegen Hindus. Die Handlungen richten sich gegen die Ausübung der religiösen Sitten und Gebräuche der Hindu-Minderheit.
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Hindus werden auch Opfer illegaler Landnahme. Häuser und Grundstücke werden von Kommandeuren und deren bewaffneter Gefolgschaft besetzt. Dem Auswärtigen Amt sind zudem Fälle bekannt, in denen Hindus illegal von einzelnen Kommandeuren aus ihren Häusern vertrieben wurden, bzw. nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland nicht ihren rechtmäßigen Grundbesitz erhalten haben. Diese illegale Landnahme geht nicht selten einher mit massiven Einschüchterungen gegen die rechtmäßigen Eigentümer. Hierbei handelt sich allerdings nicht um ein spezifisch gegen Hindus gerichtetes Phänomen. Auch andere Bevölkerungsgruppen sind davon betroffen. Hindu-Rückkehrer kommen häufig nur in den noch existierenden Hindu-Tempeln unter und leben unter äußerst schwierigen Bedingungen. Ursache dafür ist nach Angaben der "Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft" der Umstand, dass die meisten Hindus ihre Häuser und Geschäfte verloren haben. Im Oktober 2005 verlief in Kabul das neuntägige Hindu-Fest Navratna, das in den Tempeln der Stadt gefeiert wurde, nach Meldung der „Hindustan Times Indo-Asian News Service Kabul“ hingegen ohne Zwischenfälle.“
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Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist auch unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers und seiner Familie, die bis Mai 2005 in Afghanistan lebte, eine Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan nicht festzustellen. Die Lage der Hindus stellt sich zwar in der Tat als dramatisch schlecht dar und ist noch verheerender als die Lage der anderen Afghanen. Jedoch lassen sich nicht genügend gezielte Übergriffe gegen Hindus in Afghanistan feststellen, die asylerheblich wären, um auf eine Verfolgung der gesamten religiösen Minderheit schließen zu können. Der eindrucksvolle Bericht von Dr. Danesch enthält neben aktuellen Schilderungen auch immer wieder Rückgriffe auf die Zeit vor der Machtübernahme der Taliban und auf die Zeit unter den Taliban. Diese Darstellungen sind zwar geeignet, die allgemein ablehnende Haltung der Mehrheit gegenüber den Hindus und Sikhs zu illustrieren. Für die Frage aber, ob augenblicklich eine Gruppenverfolgung festzustellen ist, haben diese „Referenzfälle“ jedoch außer Betracht zu bleiben. Allgemeine Diskriminierungen vermögen eine im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Verfolgung aufgrund der Religion der Hindus nicht zu begründen. Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Verfolgungshandlung ist, dass die Eingriffe und Beeinträchtigungen eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 ua. -, BVerfGE 76, 143 ff.). Dies ist bei einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden Erkenntnisse nicht der Fall. Die erbärmlichen Lebensverhältnisse für die Mehrzahl der Hindus ergibt sich daraus, dass sie, als Angehörige einer Glaubensrichtung, die in erschreckender Weise von der afghanischen Gesellschaft ausgegrenzt wird, damit von der Möglichkeit, sich eine menschenwürdige Existenz durch Arbeit zu sichern, ferngehalten wird. Dies ist aber keine gezielte Rechtsgutsverletzung zu Lasten der Gruppe der Hindus. Es ist vielmehr die Kombination von Ausgrenzung und Abgrenzung auf der einen Seite und den allgemein katastrophalen Lebensbedingungen in Afghanistan auf der anderen Seite. Nur diese Kombination führt zu den nicht mehr als menschenwürdig zu bezeichnenden Lebensbedingungen der Hindus, die schon vor 2003 schweren Übergriffen ausgesetzt waren, ohne dass dies damals für jeden Hindu gleich die Gefahr des schlichten Verhungerns bedeutet hätte. Dass den Hindus jegliches „religiöses Existenzminium“ genommen würde, lässt sich trotz der dahingehenden Behauptung in der Stellungnahme von Dr. Danesch nicht feststellen. Einmal sprechen die Angaben des Klägers und seiner Familienangehörigen selbst dagegen. Sie haben nämlich einheitlich angegeben, dass die Verbrennung ihrer Toten, wenn auch nicht am dafür eigentlich vorgesehenen Ort, weiterhin stattfinden könne. Auch spricht der Hinweis des Auswärtigen Amtes, dass das Navratna-Fest öffentlich gefeiert werden konnte, gegen einen Entzug des so genannten religiösen Existenzminimums. Ein Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung, das auch in erheblichen Maße zu Übergriffen führt, ließe die Durchführung eines solchen Festes wohl nicht zu.
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Ein weiterer Grund, weshalb eine Gruppenverfolgung nicht zu bejahen ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass sich ein Verfolgungssubjekt nicht feststellen lässt, so dass selbst dann, wenn die Verfolgungsintensität entgegen den obigen Ausführungen zu bejahen wäre, die Klage hinsichtlich § 60 Abs. 1 AufenthG keinen Erfolg haben kann. Eine unmittelbare staatliche Verfolgung scheidet nach den tatsächlichen Feststellungen aus. Es ist nicht zu erkennen, dass der afghanische Staat unter Ausnutzung seiner Machtinstrumente gezielt gegen Hindus in Afghanistan vorgehen würde. Auch eine mittelbarer staatliche Verfolgung lässt sich nicht feststellen. Dafür müsste eine Duldung oder gar wohlwollende Unterstützung von Übergriffen gegen Hindus festzustellen sein. Bei Betrachtung der von Dr. Danesch geschilderten Einzelschicksale lässt sich zwar erkennen, dass die Hindus seitens der Regierung nicht im rechtlich gebotenen Maße unterstützt werden. Hilfe gegen bereits vor zehn Jahren erfolgte Enteignungen wird verweigert. Ein gezieltes Untätigbleiben gegen aktuelle Übergriffe lässt sich jedoch nicht als Regelfall erkennen, so dass auch eine mittelbare staatliche Verfolgung nicht bejaht werden kann. Schließlich ist auch eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure nicht zu bejahen. Es fehlt hier an einer fest umrissenen Gruppe nichtstaatlicher Akteure. Die nichtstaatlichen Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG bedürfen eines gewissen Organisationsgrades (Wenger, in: Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 1. Aufl. 2005 § 60 AufenthG Rn. 4). Damit wird einerseits ausgeschlossen, dass spontane Übergriffe Einzelner schon zum Anspruch auf Schutz durch den Aufnahmestaat führen. Andererseits wird mit dieser Auslegung auch erreicht, dass nicht eine pauschale Zurechnung von Gewalttaten zu Lasten ganzer Volksgruppen erfolgt, weil eine Volksgruppe als solche nicht über den erforderlichen Organisationsgrad verfügen kann (VG Sigmaringen, Urt. v. 18.07.2005 - A 2 K 11678/03). Die auch in den sachverständigen Äußerungen nie näher konkretisierten „Teile der moslemischen Bevölkerung“ verfügen nicht über einen gewissen Organisationsgrad. Es handelt sich hier um viele Einzelne, welchen eine Organisation gerade fehlt. Daher scheidet die Annahme einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch aus rechtlichen Gründen aus (a.A zur Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan: VG Wiesbaden, Urt. v. 17.02.2006 7 E 559/05.A(1) -, AuAS 2006, 90 ff.).
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Die Klage ist auch in ihrem zulässigen Hilfsantrag - teilweise - unbegründet. Es bestehen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Weder besteht für den Kläger die konkrete Gefahr, der Folter unterworfen zu werden (§ 60 Abs. 2 AufenthG), noch droht ihm wegen irgend einer Straftat die Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Nach § 60 Abs. 5 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht in einen Heimatstaat abgeschoben werden, in dem ihm grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Für das Vorliegen eines dieser Abschiebungsverbote ist nichts ersichtlich.
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Die Klage hat allerdings Erfolg, soweit mit ihr die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückkehr eine erhebliche und konkrete Gesundheits- und Lebensgefahr aufgrund der desolaten Versorgungslage der Hindus in Afghanistan.
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Dies ergibt sich zwingend aus dem oben Ausgeführten und aus den angeführten Stellungnahmen. Dem Kläger ist es nicht mehr möglich, als Hindu im Falle seiner Rückkehr seine Existenz zu sichern. Ein Überleben ohne Gesundheitsschädigungen ist ihm aufgrund der desolaten Versorgungslage sehr wahrscheinlich nicht möglich, so dass eine konkrete und erhebliche Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG zu bejahen ist.
85 
Es handelt sich bei den zurückkehrenden Hindus um eine Bevölkerungsgruppe nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, mit der Folge, dass grundsätzlich eine Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG durch die oberste Landesbehörde vorrangig ist. Hieraus ergibt sich, dass in den Fällen, in denen bei einer allgemeinen Gefahrenlage eine Anordnung nach § 60a Abs.1 AufenthG fehlt, ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann bejaht werden kann, wenn die Gefahrenlage landesweit so beschaffen ist, dass jeder von einer Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - Buchholz 402.240 Nr. § 53 Nr. 11, Urt. v. 29.03.1996 - 9 C 116.95 -, Buchholz 402.240 § 53 Nr. 31, Urt. v. 19.11 1996 - 1 C 6 95 -. Buchholz 402.240 § 53 Nr. 5). Eine solche Gefahrenlage besteht hier, wie dargestellt, für zurückkehrende Hindus, da für sie nur ein Überlebenskampf in einem Tempel als Möglichkeit bleibt und die drohende Unterernährung schwerste Gesundheitsrisiken zwangsläufig mit sich bringen muss.
86 
Im Übrigen gilt die Feststellung, dass Rückkehrer im Falle ihrer Abschiebung schwersten Gesundheitsschädigungen überantwortet würden, nicht nur für Angehörige der Religionsgemeinschaft der Hindus. Die Aussage gilt darüber hinaus auch für jeden anderen Rückkehrer, der über keine funktionierende Familienstruktur verfügt, die ihn auffangen könnte. Dies ergibt sich aus den weiteren Ausführungen von Dr. Danesch in seinem Gutachten vom 25.01.2006 (vgl. VG Sigmaringen, Urt. v. 16.03.2006 - A 2 K 10688/05). Auch zu dieser Gruppe gehört der Kläger, nachdem seine gesamte Familie derzeit mit ihm in Deutschland weilt und niemand der anderen Familienmitglieder in der Lage ist, in Afghanistan für sich selbst, geschweige denn für andere, zu sorgen. Vielmehr sind die anderen von dem Arbeitseinsatz des Klägers abhängig.
87 
Die Abschiebungsandrohung erweist sich damit als teilweise rechtswidrig. Sie verletzt den Kläger in eigenen Rechten und ist insoweit aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
88 
Die Ermächtigungsgrundlage für die Abschiebungsandrohung findet sich in den §§ 34 Abs. 1 Satz 1, 38 AsylVfG, 59 AufenthG. Dem Erlass steht das Vorliegen eines Abschiebungsverbot auch nicht entgegen, § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Jedoch darf Afghanistan nicht als Zielstaat der Abschiebung, welche dem Kläger angedroht wird, bezeichnet sein, da zu seinen Gunsten insoweit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greift. Auch wenn Afghanistan damit eigentlich als Staat, in den die Abschiebung nicht erfolgen darf, ausdrücklich bezeichnet werden müsste (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG), bleibt nach der Aufhebung der Zielstaats die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).
89 
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 1 VwGO. Sie vollzieht das anteilige Unterliegen und Obsiegen der Beteiligten nach. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Gründe

 
32 
Der Rechtsstreit ist gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden, da er keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung hat.
33 
Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens von Beteiligten entscheiden, da diese in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
34 
Die Klage ist zulässig.
35 
Sie ist zwar verfristet erhoben worden. Jedoch ist dem Kläger von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Klagfrist zu gewähren.
36 
Die Frist für die Erhebung der Klage richtet sich nach § 74 Abs. 1 1. Var. AsylVfG. Sie beträgt demnach zwei Wochen ab Zustellung des Bescheids. Ausweislich der Postzustellungsurkunde ist der Bescheid am 11.11.2005 zugestellt worden, so dass die Klagfrist in Anwendung von § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 ZPO, §§ 187 ff. BGB mit Ablauf des 25.11.2005 abgelaufen war. Die Klagerhebung am 28.11.2005 erfolgte damit verspätet. Die Zustellung ist mit Hilfe der Zustellungsurkunde, welche eine öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 ZPO darstellt, auch voll bewiesen. Ein Gegenbeweis ist durch den Kläger nicht angetreten worden. Insbesondere ist der Vermerk auf dem Umschlag des zugestellten Bescheids nicht geeignet, den Gegenbeweis hinsichtlich des Zustellungstages zu erbringen.
37 
Jedoch ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 60 Abs. 1und Abs. 2 VwGO. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist demjenigen auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Kläger war ohne Verschulden daran gehindert, die Klagfrist des § 74 AsylVfG einzuhalten. Der Kläger ist nämlich durch die Deutsche Post AG mittels des Vermerks auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks fehlerhaft über den Zeitpunkt der erfolgten Zustellung informiert worden. Er hat sich am 12.11.2005 als Zustellungsdatum orientiert und auf dieses Datum bezogen rechtzeitig, nämlich am Montag, den 28.11.2005, Klage erhoben. Für ihn war nicht ersichtlich, dass die Zustellung, welche durch Niederlegung erfolgte, tatsächlich am 11.11.2005 erfolgt ist, so dass es ihm unmöglich war, die richtige Klagfrist zu bestimmen.
38 
Es ist unschädlich, dass der Kläger keinen ausdrücklichen Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt hat. Nach § 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO kann das Gericht ohne Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, wenn die versäumte Rechtshandlung binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt worden ist. Dies ist hier geschehen. Ein Grund, von der Möglichkeit der Gewährung der Wiedereinsetzung trotz Erfüllung aller materiellen Voraussetzungen keinen Gebrauch zu machen, ist für die Kammer nicht ersichtlich.
39 
Die zulässige Klage ist überwiegend unbegründet. Sie hat lediglich in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
40 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die mit dem Hauptantrag begehrten Verwaltungsakte, so dass deren Ablehnung nicht rechtswidrig war (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
41 
Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter scheitert schon daran, dass er nicht hinreichend hat darlegen können, dass er nicht aus einem so genannten sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
42 
Nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylVfG kann sich auf das Asylgrundrecht nicht berufen, wer nach Inkrafttreten dieser Regelungen am 30. Juni 1993 (vgl. Renner, AuslR, 7. Auflage Vorbemerkung AsylVfG, Rn. 18) aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem sicheren Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.
43 
Hinsichtlich des Nachweises des Reisewegs gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 29.06.1999 - 9 C 36/98 -, BVerwGE 109, 174 ff.) folgendes:
44 
Auch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess sind die Beteiligten verpflichtet, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Im Asylverfahren gilt dies in besonderem Maße für den Asylbewerber (vgl. §§ 15, 25 AsylVfG). Gleichwohl ist und bleibt es Aufgabe des Gerichts, von sich aus den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderlichen Sachverhaltsaufklärungen zu betreiben und sich seine eigene Überzeugung zu bilden ( § 86 Abs. 1 Satz 1 , § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ). Die Mitwirkungspflichten der Beteiligten entbinden das Gericht daher grundsätzlich nicht von seiner eigenen Aufklärungspflicht. Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch die Beteiligten kann allerdings die Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Gerichts herabsetzen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die gerichtliche Aufklärungspflicht dort ihre Grenze findet, wo das Vorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. So besteht im Asylrechtsstreit Anlass zu weiterer Sachaufklärung generell dann nicht, wenn der Asylbewerber unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflichten seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht unter Angabe genauer Einzelheiten schlüssig schildert.
45 
Ob bei einer vom Asylbewerber behaupteten, aber nicht belegten Einreise auf dem Luftweg weitere Ermittlungen durch das Gericht anzustellen sind, ist eine Frage der Ausübung tatrichterlichen Ermessens im Einzelfall. Ein Anlass zu weiterer Aufklärung ist beispielsweise dann zu verneinen, wenn der Asylbewerber keine nachprüfbaren Angaben zu seiner Einreise gemacht hat und es damit an einem Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen fehlt. Macht der Asylbewerber Angaben, so hat das Gericht diese zu berücksichtigen. Es kann in diesem Zusammenhang insbesondere frei würdigen, dass und aus welchen Gründen der Asylbewerber mit falschen Papieren nach Deutschland eingereist ist, dass und warum er - wie im vorliegenden Fall behauptet - Reiseunterlagen, die für die Feststellung seines Reiseweges bedeutsam sind, nach seiner Ankunft in Deutschland aus der Hand gegeben hat und schließlich, dass und weshalb er den Asylantrag nicht bei seiner Einreise an der Grenze, sondern Tage oder Wochen später an einem anderen Ort gestellt hat.
46 
Im Rahmen seiner Überzeugungsbildung ist das Gericht zwar aus Rechtsgründen nicht daran gehindert, die Angaben des Asylbewerbers auch ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen. Dies gilt insbesondere, wenn sich der Asylbewerber - wie typischerweise bei den Vorgängen im Verfolgerland - in Beweisnot befindet. Es bedarf jedoch keiner weiteren Darlegung, dass gerade in den Fällen, in denen der Asylbewerber die Weggabe wichtiger Beweismittel behauptet, also in den Fällen einer selbst geschaffenen Beweisnot, das Vorbringen besonders kritisch und sorgfältig zu prüfen ist. Den Asylsuchenden trifft insoweit zwar keine Beweisführungspflicht. Das Gericht kann aber bei der Feststellung des Reisewegs die behauptete Weggabe von Beweismitteln wie bei einer Beweisvereitelung zu Lasten des Asylbewerbers würdigen. Dies mag um so näher liegen, je weniger plausibel die Gründe erscheinen, die für das beweiserschwerende Verhalten angeführt werden. So kann etwa das Vorbringen, der Schleuser habe die Dokumente zur Wahrung seiner Interessen - namentlich zum Schutz vor Enttarnung und Bestrafung - wieder an sich genommen, regelmäßig weder erklären, weshalb der Flüchtling nach dem Passieren der Passkontrolle, also gleichsam unter den Augen der deutschen Grenzbehörden, zu seinem Nachteil Beweismittel aus der Hand gegeben hat, noch warum er sich nicht wenigstens ohne Papiere unverzüglich bei der Grenzbehörde im Flughafen gemeldet und dort um den begehrten asylrechtlichen Schutz nachgesucht hat.
47 
Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Asylbewerber - wie von ihm behauptet - auf dem Luftweg eingereist ist, kann es gleichzeitig aber auch nicht die Überzeugung gewinnen, dass er auf dem Landweg eingereist ist, und sieht es keinen Ansatzpunkt für eine weitere Aufklärung des Reisewegs, hat es die Nichterweislichkeit der behaupteten Einreise auf dem Luftweg („non liquet") festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Bleibt der Einreiseweg unaufklärbar, trägt der Asylbewerber die materielle Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaats nach Art. 16 a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG auf dem Luft- oder Seeweg nach Deutschland eingereist zu sein.
48 
Unter Anwendung dieser vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze ist der Kläger von einer Berufung auf Art. 16a Abs. 1 GG ausgeschlossen. Der Kläger hat wie auch die übrigen Mitglieder seiner Familie zunächst keine Beweisdokumente zum Einreiseweg vorlegen können. Die Begründung hierfür ist sehr allgemein gehalten. Es ist ihm nicht gelungen, die Einreise auf dem Luftweg in einer Weise detailliert zu schildern, dass ihm allein aufgrund seiner Einlassung geglaubt werden könnte. Die Einlassungen des Klägers und auch seiner Familie zum Verlassen Pakistans mit dem Flugzeug sind zur vollen Überzeugung des Gerichts auswendig gelernte, erfundene Schilderungen. Diese Überzeugung gründet sich darauf, dass die einheitliche Beschreibung, man habe sich in einen Tunnel gesetzt und dann gemerkt, dass es sich dabei um das Flugzeug handele, sich nur so erklären lassen kann. Zwar ist es nach den Grundsätzen der Aussageanalyse regelmäßig als Realkennzeichen zu werten, wenn eine Person ein Geschehen wiedergibt und es bei der wiedergebenden Schilderung deutlich wird, dass der wirkliche Sinnzusammenhang von der Person zunächst nicht richtig verstanden wird. Es handelt sich dabei um das so genannte Unverständnismerkmal (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1. 2. Aufl. 1995 Rn. 268), Jedoch ist es auffällig, dass hier von mehreren Familienmitgliedern übereinstimmend ein einheitliches Missverstehen der Situation angeben, das sich eigentlich nicht aufdrängt. Dies ist dann ein eindeutiges Indiz dafür, dass hier eine auswendig gelernte Schilderung, die so nicht der Realität entsprungen ist, dargeboten worden ist.
49 
Im Übrigen gilt es zu bedenken, dass aufgrund des wenig detaillierten Vortrags es selbst bei unterstellter Benutzung eines Flugzeugs zur Ausreise es ebenso wahrscheinlich ist, dass der Kläger und seine Familie in einem sicheren Drittstaat umgestiegen sind und er dort die Möglichkeit gehabt hätte, einen Asylantrag zu stellen wie es eine direkte Einreise in die Bundesrepublik ist. Die Angaben des Klägers und seiner Familie zur Einreise waren im Übrigen so wenig konkret, dass eine weitere Ermittlung des Reisewegs durch das Gericht schon gar nicht möglich ist. Somit bleibt der Reiseweg im Einzelnen letztlich nicht aufklärbar, so dass der Kläger die materielle Beweislast dafür trägt, ohne Berührung eines sicheren Drittstaats eingereist zu sein mit der Folge, dass er keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter haben kann.
50 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Dessen Voraussetzungen liegen nicht vor.
51 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese Voraussetzungen liegen nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bei sonstigen Ausländern, die im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebietes als ausländische Flüchtlinge i.S. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind vor. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellt außer in den Fällen des § 60 Abs. 1 Satz 2 fest, ob die Voraussetzungen des Abs. 1 vorliegen (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung nach Art. 16 a Abs. 1 GG einerseits und eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG andererseits sind nur teilweise deckungsgleich, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut sowie den politischen Charakter der Verfolgung betrifft. Hinsichtlich dieser Kriterien umfasst das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG alle Fallkonstellationen, die auch von Art. 16a Abs. 1 GG erfasst werden. Jedoch gehen die Regelungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowohl hinsichtlich der Verfolgungshandlungen als auch der Verfolgungssubjekte über den Schutz des Grundrechts auf Asyl hinaus. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von dem Staat (lit. a)), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (lit. b)) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (lit. c)). Nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.
52 
Der Kläger ist nicht verfolgt im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG aus Afghanistan ausgereist. Im Falle seiner Rückkehr droht ihm eine solche Verfolgung auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
53 
Politische Verfolgung liegt vor, wenn dem einzelnen durch seinen Heimatstaat oder durch Maßnahmen Dritter, die diesem Staat zurechenbar sind, in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen (z.B. seine Volkszugehörigkeit), gezielt Rechtsgutverletzungen zugefügt werden, die ihn nach ihrer Intensität und Schwere nicht lediglich unerheblich beeinträchtigen, sondern ihn aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschl. v. 10. 07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 ff.). Staatlichkeit in diesem Sinne stellt ab auf das Vorhandensein einer in sich befriedeten Einheit, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise relativiert, dass diese unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeit des Einzelnen nicht in Frage stellen, insgesamt also die Friedensordnung nicht aufheben. Dazu dient staatliche Macht. Die Macht, zu schützen, schließt indes die Macht, zu verfolgen, mit ein. Daher hebt die Asylgewährleistung im Grundgesetz ganz auf die Gefahren ab, die aus einem bestimmt gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt erwachsen; sie will den Einzelnen vor gezielten, an asylerhebliche Merkmale anknüpfenden Rechtsverletzungen schützen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Darin liegt als Kehrseite beschlossen, dass Schutz vor den Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt nicht durch Art. 16a Abs. 1 GG versprochen ist (BVerfG, Urt. v. 10.08.2000 - 2 BvR 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 ff.). Das Element der "Staatlichkeit" oder "Quasi-Staatlichkeit" von Verfolgung darf nicht losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal des "politisch" Verfolgten betrachtet und nach abstrakten staatstheoretischen Begriffsmerkmalen geprüft werden. Es muss vielmehr in Beziehung gesetzt bleiben zu der Frage, ob eine Maßnahme den Charakter einer politischen Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG aufweist, vor der dem davon Betroffenen Schutz gewährt werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass politische Verfolgung von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist; politische Verfolgung ist somit grundsätzlich staatliche Verfolgung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. 07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, a.a.O.). Die Prüfung bestimmter staatstheoretischer Merkmale für die Annahme vorhandener oder neu entstehender Staatlichkeit kann mithin für die Beurteilung, ob Verfolgungsmaßnahmen die Qualität politischer Verfolgung haben, nicht schlechthin konstitutiv, sondern nur - wenn auch in gewichtiger Weise - indiziell sein. Maßgeblich für die Bewertung einer Maßnahme als politische Verfolgung ist, dass der Schutzsuchende einerseits in ein übergreifendes, das Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft durch Befehl und Zwang ordnendes Herrschaftsgefüge eingebunden ist, welches den ihm Unterworfenen in der Regel Schutz gewährt, andererseits aber wegen asylerheblicher Merkmale von diesem Schutz ausgenommen und durch gezielt zugefügte Rechtsverletzungen aus der konkreten Gemeinschaft ausgeschlossen wird, was ihn in eine ausweglose Lage bringt, der er sich nur durch die Flucht entziehen kann (vgl. zum Ganzen BVerfG, Urt. v. 10.08.2000 - 2 BvR 1353/98 -, a.a.O.).
54 
Aus den Einlassungen des Klägers und seiner Familie kann auf das Vorliegen einer individuellen Verfolgung oder der Gefahr einer solchen Verfolgung im Falle der Rückkehr nicht geschlossen werden. Der Kläger konnte lediglich angeben, einmal von einem ihm nicht näher bekannten Taxifahrer bedroht worden zu sein. Damit ist erforderliche Intensität einer Bedrohung für eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht erreicht. Die Angaben des Klägers zur Frage der Schikane hinsichtlich der Religionsausübung sind sehr allgemein gehalten, so dass die Feststellung einer individuellen Bedrohung in diesem Bereich auch nicht in Betracht kommt.
55 
Eine Verfolgung kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Religionsgemeinschaft der Hindus in Afghanistan in Betracht.
56 
Das Grundrecht auf Asyl ist ebenso wie das Recht auf Anerkennung als Flüchtling aus § 60 Abs. 1 AufenthG ein Individualrecht. Nur derjenige kann es in Anspruch nehmen, der selbst - in seiner Person - Verfolgung erlitten hat; dabei steht der eingetretenen Verfolgung die unmittelbar drohende Gefahr der Verfolgung gleich. Die Gefahr eigener Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich aus gegen den Asylsuchenden selbst gerichteten oder ihm unmittelbar drohenden Maßnahmen des Verfolgers, der ihn bereits im Blick hat, ergeben. Sie kann sich aber auch aus gegen Angehörige einer Gruppe gerichteten Maßnahmen des Verfolgers ergeben, wenn diese Gruppe wegen eines nach § 60 Abs. 1 AufenthG erheblichen Merkmals verfolgt wird, das der Asylsuchende mit deren Angehörigen teilt, und wenn sich dieser nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit in einer mit ihnen vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen eher zufällig erscheint (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 ff.; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200 ff. m.w.N.). In welchem Maße dies der Fall ist, wird je nach den tatsächlichen Verhältnissen, unter denen sich politische Verfolgung in den Herkunftsländern ereignet, unterschiedlich zu beurteilen sein. Die historische und zeitgeschichtliche Entwicklung lehrt, dass für den Einzelnen die Gefahr, selbst verfolgt zu werden, um so größer und - hinsichtlich ihrer Aktualität - um so unkalkulierbarer ist, je weniger sie von individuellen Umständen abhängt oder geprägt ist und je mehr sie unter Absehung hiervon überwiegend oder ausschließlich an kollektive, dem Einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Sieht der Verfolger von individuellen Merkmalen gänzlich ab, weil seine Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher gilt, so kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 -, a.a.O). Richtet sich die Verfolgung gegen Gruppen von Menschen, die durch gemeinsame Merkmale wie etwa Rasse, Religion oder politische Überzeugung verbunden sind, so ist in aller Regel davon auszugehen, dass sich diese Verfolgung gegen jeden Angehörigen der verfolgten Gruppe richtet. Ob dies der Fall ist, richtet sich letztlich nach dem inhaltlichen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen und nach dem äußerlich erkennbaren Verhalten des Verfolgerstaates. Angesichts der Vielgestaltigkeit tatsächlicher Erscheinungsformen politischer Einzel- und Gruppenverfolgung kommt es mithin darauf an, wer bei realitätsgerechter Ermittlung und Bewertung des gesamten Verfolgungsgeschehens zum Kreis der gefährdeten Personen zu rechnen ist. Daher sind grundsätzlich bei der Abgrenzung einer kollektiv gefährdeten Gruppe alle Personen einzubeziehen, gegen die der Verfolgerstaat - objektiv gesehen - seine Verfolgung betreibt oder voraussichtlich betreiben wird. Das können sämtliche Träger des dem Verfolgerstaat missliebigen, ihn zur Verfolgung veranlassenden Persönlichkeitsmerkmals, etwa einer bestimmten Ethnie oder Religion sein. Der Verfolger kann aber hiervon wiederum bestimmte Untergruppen ausnehmen, etwa wegen bei ihnen zusätzlich vorhandener Merkmale oder Umstände, beispielsweise eines Merkmals, das sie in seinen Augen „rehabilitiert". Welche zusätzlichen Umstände oder Merkmale in diesem Sinne zur Abgrenzung der verfolgten Gruppe im Einzelnen heranzuziehen sind, ist nach der tatsächlichen Reichweite des Verfolgungsgeschehens zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.1996 - 9 C 171/95 -, BVerwGE 101, 134 ff.).
57 
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte „Verfolgungsdichte" voraus, welche die „Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungsmaßnahmen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Dies gilt gleichermaßen für die mittelbare wie auch für die unmittelbare Gruppenverfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, a.a.O.) Erhebliche Unterschiede können sich insoweit aber im Hinblick auf die prinzipielle Überlegenheit staatlicher Machtmittel sowie daraus ergeben, dass die Annahme einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung voraussetzt, dass mit ihr eigene staatliche Ziele durchgesetzt werden sollen und dass diese Ziele - offen oder verdeckt - von eigenen staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat dazu berufene oder doch autorisierte Kräfte durchgesetzt werden können. Im Unterschied zur mittelbaren Gruppenverfolgung kann daher eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung schon dann anzunehmen sein, wenn zwar „Referenz-" oder Vergleichsfälle durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden „Wiederholungsgefahr" nicht im erforderlichen Umfang oder überhaupt (noch) nicht festgestellt werden können, aber hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht. Das kann etwa der Fall sein, wenn festgestellt werden kann, dass der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten physisch vernichten oder ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. In derartigen extremen Situationen bedarf es nicht erst der Feststellung einzelner Vernichtungs- oder Vertreibungsschläge, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgung darzutun. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. „Referenzfälle" politischer Verfolgung sowie ein „Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, a.a.O.).
58 
Das Vorliegen der erforderlichen Verfolgungsdichte ist zu verneinen. Auch ist kein taugliches Verfolgungssubjekt im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG als Verantwortlicher für die geltend gemachten Verfolgungshandlungen festzustellen.
59 
Die Lage der Minderheit der Hindus in Afghanistan stellt sich für das Gericht bei Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wie folgt dar:
60 
Dr. Danesch führt in seinem Sachverständigengutachten für das VG Hamburg vom 25.01.2006 unter anderem aus:
61 
„In Afghanistan lebten während der Zeit des Präsidenten Najibullah - je nach Quelle - zwischen 130.000 bis 200.000 Hindus und Sikhs, d.h. sie waren die größte religiöse Minderheit im Land. Insgesamt leben heute in Afghanistan noch 1.500 - 2.000 Hindus und Sikhs. Nach meiner intensiven Recherche leben in Kabul heute ca. 1.000 -1.300 Hindus und Sikhs. In Kandahar, im „Shekarpour"-Bazar, leben heute ca. 45 Hindu-Familien, etwa 150 bis 200 Personen. Einst existierte hier eine große Hindu und Sikh-Gemeinschaft von mehreren tausend Menschen. Einige der heutigen Bewohner leben in Privathäusern und haben sich nach außen hin vollkommen assimiliert. Der Rest lebt im Tempel unter äußerst provisorischen Bedingungen, die sich von den Lebensverhältnissen in Kabul nicht unterscheiden. In Jalalabad, im Osten des Landes, leben ungefähr 85 Familien (ca. 400 Personen) in einem ehemaligen Schulgebäude der Hindus und Sikhs, um sich gegenseitig zu unterstützen. Auch hier lebten vor Jahren noch mehrere Tausend Hindus und Sikhs, meist Geschäftsleute. In Khost, ebenfalls im Osten Afghanistans, lebten einst 400 Hindu-Familien, eine Gemeinschaft von ca. 2400 bis 3000 Menschen. Heute sind es noch ca. 30 Familien (120-150 Personen), die im Viertel „Kalay-e Hindu" im Zentrum der Stadt leben. Schulen gibt es dort nicht mehr; die Hindu-Kinder werden nur von ihren Eltern in ihrer Religion unterwiesen und wachsen ansonsten als Analphabeten auf, so dass die wenigen verbliebenen Hindus eine Zukunft in den untersten Bereichen der Gesellschaft erwartet. Auch dort haben sich, ähnlich wie in Kabul, alle in den Tempel zurückgezogen und werden derart bedroht und drangsaliert, dass sie sich bewaffnet haben, um sich notfalls zu verteidigen. Viele von ihnen sind in den letzten Jahren in die Hauptstadt geflüchtet. Man kann davon ausgehen, dass diese Hindu-Gemeinde bald nicht mehr existieren wird. In den Städten Ghazni, Gardez und Kunduz im Norden leben insgesamt etwa 100-150 Personen. Nachdem die Regierung Karsai im Dezember 2001 die Macht in Kabul übernahm und den Minderheiten in Afghanistan religiöse Freiheiten und Rechte versprach, veranlasste dies etliche Hindus und Sikhs, die nach Indien geflüchtet waren, zur Rückkehr, in der Hoffnung, gleichberechtigte Bürger Afghanistans zu sein und ihr Eigentum an Häusern und Firmen zurückzubekommen. Gerade diese Rückkehrer wurden aber in jeder Hinsicht enttäuscht, als die religiöse und ethnische Verfolgung sich fortsetzte. Sie flüchteten nun abermals aus dem Land. Nur die Ärmsten der Armen, die nicht über die nötigen Fluchtmittel verfügten, blieben im Lande zurück. ...
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Zunächst möchte ich ausführen, dass die Hindus und Sikhs von der muslimischen Bevölkerung - und auch von der afghanischen Regierung - als Atheisten und Götzendiener betrachtet werden, In den Augen der Muslime sind sie damit „Unreine", weshalb sie auch keine Aufnahme in den für Muslime vorgesehenen Flüchtlingslagern finden können. Als einzige Zufluchtsmöglichkeiten für abgeschobene Hindus bleiben damit nur ihre noch im Lande befindlichen Tempelanlagen. Dort können sie dann ihr Leben in Isolation von der Allgemeinheit fristen. Bereits die Mujahedin hatten die Infrastruktur der Hindu- und Sikh-Gemeinden zerschlagen und den Großteil der einst einflussreichen Minderheit aus dem Land vertrieben. Schon nach 1992 waren bis auf wenige Menschen, die sich eine Flucht aus finanziellen Gründen nicht leisten konnten, praktisch alle afghanischen Hindus und Sikhs geflüchtet. Auch die Taleban betrieben nach ihrer Machtübernahme (Einmarsch in Kabul 1996; Beherrschung praktisch des ganzen Landes ab 1998) gegenüber den wenigen noch im Land verbliebenen Hindus eine äußerst restriktive Politik. Hindus und Sikhs mussten Zeichen an ihrer Kleidung tragen, um sie kenntlich zu machen und besser kontrollieren zu können. Während der Taleban-Herrschaft waren die Hindus und Sikhs sowohl religiös als auch ethnisch motivierter Verfolgung ausgesetzt: zum einen als „Gottlose" und „Götzendiener", die den extrem fundamentalistischen Taleban womöglich noch verhasster waren als den Mujahedin; zum anderen wurden sie von den paschtunischen Taleban, deren politisches Ziel die Wiederherstellung der alten paschtunischen Vorherrschaft in Afghanistan war, auch als ethnische Minderheit diskriminiert. Im ganzen Land waren nur einige hundert Familien verblieben, die weit verstreut lebten und versuchten, sich der afghanischen Bevölkerung anzupassen, um nicht aufzufallen. Speziell in Kandahar wurden Hindus und Sikhs derart drangsaliert, dass sie versuchten, sich zu assimilieren, afghanische Kleidung trugen und Pashtu sprachen. Wenn man heute solche Menschen trifft, kann man verleugnet haben, um ihr Leben zu retten. Bereits an dieser Stelle möchte ich vorwegnehmen, dass sich mit der Vertreibung der Taleban und dem Einsetzen der Karsai-Regierung die Lage der Hindus und Sikhs nicht entscheidend geändert hat. Während meiner jüngsten Reise zwischen dem 10.12. und dem 26.12.2005 habe ich mich intensiv mit der Lebenssituation und politischen Lage der Hindus und Sikhs, besonders in Kabul, beschäftigt. Dabei kam mir zu statten, dass ich die Stadt seit beinahe dreißig Jahren gut kenne und - speziell auf diese Thematik bezogen - den direkten Vergleich zwischen der „Blütezeit" der Hindu-Gemeinden in den 1980er Jahren und ihrer heutigen Lage ziehen kann. Kabul ist eine Stadt, in der traditionell die verschiedenen Ethnien bestimmte Wohnviertel bevorzugen, beispielsweise lebten seit altersher im Westen mehrheitlich afghanische Schiiten. So stellten auch die Hindus und Sikhs in bestimmten Stadtgebieten traditionell die Mehrheit und besaßen dort ihre Tempel und Kultstätten. Viele der materiell gut gestellten Hindus und Sikhs waren Hausbesitzer und betrieben selbstständig größere oder kleinere Firmen oder waren im Handel tätig. Früher fand dort ein reiches kulturelles Leben statt. Die wohlhabenden Gemeinden waren auch in der Lage, eigene Schulen zu betreiben, an denen die junge Generation eine qualifizierte, staatlich anerkannte Ausbildung erhielt.
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Die materiellen Lebensverhältnisse der afghanischen Hindus und Sikhs sind heute dadurch gekennzeichnet, dass ihr Haus- und Grundbesitz enteignet wurde. Ihre einzige Zuflucht sind ihre ehemaligen Tempel in ihren alten Wohngebieten. Im Zuge meiner Recherchen suchte ich daher alle Viertel in der Hauptstadt auf, die traditionell von Hindus bewohnt wurden, wobei ich mich von zwei Hindu-Informanten begleiten ließ. In dem Viertel „Shur Bazar" im Süden Kabuls lebten von der Zeit Zahir Schahs bis zur Najibullah-Ära ca. 35.000 Hindus und Sikhs, die meisten aus der unteren und der Mittelschicht, darunter viele Ladenbesitzer. Heute ist es ein Armenviertel, in dem mehrere hunderttausend Menschen leben, jedoch praktisch keine Hindus und Sikhs mehr. Die Einwohner sind heute Muslime, unter ihnen viele ehemalige Mujahedin. Von der Hindu-Gemeinde ist im Straßenbild nichts mehr zu entdecken. Einst hatte es in diesem Viertel acht größere Tempel gegeben, Diese wollte ich aufsuchen, um festzustellen, ob in den Tempelbezirken noch Hindus lebten. Diese Tempel sind die einzigen Stellen, an die sich ein abgeschobener afghanischer Hindu wenden kann; abgesehen von der einmaligen 12-Dollar-Hilfe der UNO, die er als afghanischer Staatsangehöriger einfordern kann.
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Auf dem Gehweg zu einem der Tempel, der am Ende einer Gasse liegt, wurden wir von mehreren Mujahedin angehalten und angegriffen, da sie glaubten, wir kämen, um Ansprüche auf enteignete Häuser zu erheben. Insbesondere griffen sie meine Begleiter, zwei Hindus, tätlich an, beschimpften sie als Gottlose und verlangten zu wissen, was sie hierzu suchen hätten. Vor ihrem Angriff flüchteten wir in den Tempel, wo ich tatsächlich einige Hindu- und Sikh-Familien antraf. Auch in dem zweiten ehemaligen Tempel des Viertels leben noch wenige Personen. Von diesen Hindus im „Shur Bazar"-Viertel erhielt ich folgende Auskunft: Die ehemaligen Bewohner des Viertels seien fast alle nach Indien, manche auch nach Europa und Übersee geflüchtet. Von den einst acht Hindu-Tempeln sind vier so stark zerschossen, dass sie praktisch nur noch Ruinen darstellen. Trotzdem leben dort noch einige Familien. In zwei weiteren Tempeln leben auch einige Familien; die Mehrzahl der verbliebenen Hindus dieses Viertels konzentriert sich auf die vier Tempel, die ich aufsuchte. Doch auch diese sind durch den Krieg stark zerstört; ein Wiederaufbau hat bisher nicht stattgefunden.
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Die Tempel, in denen die Hindus und Sikhs nun zwangsweise leben, liegen durch die Kriegszerstörungen praktisch in Trümmern und sind völlig zerschossen. Wenige unzerstörte Räume ohne Türen und Fenster und ohne Einrichtung dienen den Bewohnern als Wohn- und Schlafräume, in denen einige zerfetzte Decken und ein paar Kochstellen die gesamte Ausstattung bilden. Besonders Frauen und Kinder sind sichtlich von Krankheiten und Mangelernährung gezeichnet. Man erklärte mir, die Menschen in dem von mir zuerst besuchten Tempel stammten aus der Stadt Khost, wo die Zustände so schlimm seien, dass sie in Kabul Zuflucht gesucht hätten, Die ca. siebzig Kinder, die im Tempel leben, wagen nicht, das Gelände zu verlassen, weil sie außerhalb ihrer Zuflucht von ihren muslimischen Altersgenossen beschimpft und mit Steinen beworfen werden.
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Teilweise leben dort auch verarmte muslimische Flüchtlinge, mit denen die Hindus sich wohl oder übel arrangieren müssen. In ihrer Blütezeit waren die Hindu-Tempel mit ihren prachtvollen Fassaden und ihrer herrlichen Ausstattung geradezu ein Symbol der afghanischen Kultur. Doch während der Jahre der Kämpfe - zwischen den Mujahedin und später während der Belagerung der Taleban - lagen die Tempel ständig in der Schusslinie, so dass ihre Architektur vollkommen zerstört wurde. Heute ist ihre Umgebung dazu noch unbeschreiblich schmutzig und offensichtlich die Abfallhalde der Nachbarschaft. Eine Kanalisation gibt es nicht; wenn es im Winter regnet, watet man dort zwanzig Zentimeter tief in stinkendem Schlamm. Die afghanische Regierung unternimmt nichts zu ihrer Restaurierung. Ich bin überzeugt davon, dass sie in wenigen Jahren nur noch Schutthaufen darstellen werden, die man abträgt, um neue Häuser für muslimische Afghanen zu bauen; dann wird dieses kulturelle Erbe unwiederbringlich verloren sein. In einem der Tempel sprach ich einen Familienvater direkt an und wollte von ihm wissen, wie seine Familie überlebe. Er gab mir folgende Auskunft, die auch für alle anderen Hindus gilt: „Ich hatte einen Gewürzladen im Bazar. Die Mujahedin haben ihn mir weggenommen, mich geschlagen und aus dem Bazar vertrieben. Ich hatte kein Geld, um aus dem Land zu fliehen, und musste hier bleiben. Inzwischen habe ich eine Frau und vier Kinder. Ich wohne in diesen Trümmern." Er zeigte mir einen Raum mit Betonboden, auf sich nur einige zerfetzte Decken, ein Gaskocher und etwas Blechgeschirr befand. Dort lebten sechs Personen. Seine Frau und seine Kinder wagten nicht, den Tempel zu verlassen. Über Tag hockten sie auf dem Hof, um sich in der Sonne zu wärmen. Auf die Frage, ob sie sich bei Nacht - bei Temperaturen bis minus zehn Grad - irgendwie wärmen könnten, lachte er nur. Sie hätten keine Möglichkeit, an Brennmaterial für ein Feuer zu kommen. Für genügend Brennholz müsste er das gesamte Geld, das er als Tagelöhner verdient, ausgeben. Nach dem Dunkelwerden werde trockenes Brot gegessen, und dann versuchten die Bewohner, ohne Licht und Wärme Schlaf zu finden. Auf Nachfrage erklärte er, manchmal finde er Arbeit als Tagelöhner, oft allerdings auch nicht. Wenn, dann verdiene er 100, mit Glück gelegentlich 150 Afghani am Tag (2 bzw. 3 Dollar) - für einen Arbeitstag von zwölf Stunden. Von diesem Geld könne er nur trockenes Brot für seine Kinder kaufen, damit sie wenigstens drei Mal am Tag etwas zu essen bekämen. Ganz selten gebe es Tee, der ein Almosen des Tempels sei. Fleisch, Obst, Gemüse, ja sogar Zucker für den Tee seien inzwischen Fremdwörter für sie. Auch er berichtete, von in- oder ausländischen Hilfsorganisationen hätten sie noch nie etwas gesehen. Seit drei Jahren appellierten die Hindus ständig an die Hilfsorganisationen, bekämen aber stets die Antwort, sie seien noch nicht an der Reihe. Manche gäben ihnen auch die zynische Antwort, sie seien doch Hindus, daher solle Indien ihnen helfen.
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Zusammenfassend ist festzustellen, dass nicht einmal die Versorgung der Hindus und Sikhs mit einem existenziellen Minimum an Lebensmitteln gesichert ist. Weder der Staat noch ausländische Hilfsorganisationen gewähren den Hindus und Sikhs die geringste Unterstützung. Die Tempel versuchen ihre Gemeindemitglieder, durch Mittel aus Almosen zu unterstützen, doch diese sind sehr gering und retten die Bewohner kaum vor dem Verhungern. Offensichtlich ist es die Politik der afghanischen Regierung, das Problem zu ignorieren und darauf zu warten, dass sich die Hindu-Frage sozusagen auf „demographische" Weise von selbst löst, indem die Mischung aus offiziellem Ignorieren, gesellschaftlicher Diskriminierung und kultureller und religiöser Unterdrückung die Hindus zwingt, sich entweder vollkommen anzupassen oder das Land zu verlassen. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, ist wahrscheinlich, dass die Hindus als eigenständige Minderheit in Afghanistan innerhalb weniger Jahre ausgelöscht sein werden. Insgesamt sind die Bedingungen, unter denen die Hindus und Sikh in ihren ehemaligen Tempeln leben, so katastrophal, dass eine Abschiebung in der Tat - so das Kriterium deutscher Gerichte - bedeuten würde, Rückkehrer „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen [auszuliefern]".
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Die Hindus und Sikhs in Afghanistan sind auch einer expliziten Diskriminierung ausgesetzt, die eindeutig zum Ziel hat, sie als religiöse und kulturelle Minderheit innerhalb kürzester Zeit auszulöschen, ihre Schulen sind geschlossen. Hindus berichteten mir, sie hätten sich nach dem Antritt der Regierung Karsai an das Bildungsministerium gewandt und gebeten, wieder eigene Schulen für ihre Kinder einzurichten und mit Finanzen und Lehrern auszustatten; jedoch ohne die geringste Reaktion. Darüber hinaus haben die Hindus und Sikhs keinerlei theoretische oder praktische Möglichkeit, ihren während der Herrschaft der Mujahedin und der Taleban enteigneten Besitz zurück zu erlangen. Um den Hindus und Sikhs ihre Lebensgrundlage zu entziehen, hatten bereits die Mujahedin eine systematische Enteignungspolitik betrieben. Mujahedin- Kommandanten eigneten sich die Firmen, Läden und Privathäuser der Sikhs und Hindus an. Seitdem war es ihnen weder unter der Mujahedin-Herrschaft noch seit dem Amtsantritt der Regierung Karsai möglich, ihr Eigentum zurückzuerhalten. Daher leben heute die wenigen Hindus und Sikhs, die in Afghanistan verblieben sind, so gut wie ausschließlich in den ehemaligen Tempelbezirken ihrer Gemeinden. Sie müssen also ein Leben in der Isolation führen. Über die Enteignungen unmittelbar nach der Machtübernahme der Mujahedin berichteten mir einige alt eingesessene muslimische Händler im Geldbazar „Saray~e Schazdeh", der einst von Hindus dominiert wurden. Als die Mujahedin kamen, überfielen sie den Geldbasar, trieben Hunderte von Hindus zusammen, schlugen sie und konfiszierten ihre Läden und ihr Eigentum. Ihre Geschäfte wurden von Mujahedin übernommen, die dort heute als Händler sitzen und sich als „Ehrenmänner" geben und begreifen. Die Hindus haben keinerlei Aussicht, ihren Besitz zurück zu bekommen. Einige Beispiele sollen belegen, dass - anders, als die Hindus nach dem Amtsantritt der Karsai-Regierung gehofft hatten - auch die heutige Regierung nicht bereit ist, die Enteignungen der Mujahedin- und Taleban-Zeit rückgängig zu machen. Am 11.12.2005 traf ich im Laden eines der Bazarhändler, der mir Auskünfte gegeben hatte, zufällig einen Hindu. Er berichtete mir, sein Haus im Viertel „Ka!a-e Fatullah" sei von dem ehemaligen Handelsminister Mostafa Kazemi konfisziert worden. Er habe sogar gewagt, vor Gericht zu gehen. Gerade heute Morgen sei der Prozess zu Ende gegangen, und das Gericht hätte dem Minister das Haus zugesprochen. Dieser Kazemi war einer der wichtigsten Männer im Kabinett von Karsai und hat noch heute als Parlamentsabgeordneter eine wichtige Position. Dieser Kazemi ist eine so wichtige Person, dass er bei der Petersberg-Konferenz zur Neuordnung Afghanistans im Dezember 2001 wichtige Fäden im Hintergrund zog.
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Ein weiteres Beispiel aus Kabul: Der Sikh Rawinda Singh erklärte mir, er habe ein Haus in Kart-e Parwan besessen. Dieses sei vor zehn Jahren von einem bekannten Mujahedin-Kommandanten aus der Umgebung von Ahmad Schah Masud namens Gajum Somorod beschlagnahmt worden. Ihn und seine Familie habe man aus dem Haus vertrieben, geschlagen und mit dem Tod bedroht. Dieser Gajum sei später durch Kämpfe zwischen den Mujahedin-Fraktionen zu Tode gekommen. Heute lebe dort dessen Bruder, ein wichtiger Mann der Karsai-Regierung. Einmal habe er gewagt, Anspruch auf sein Haus zu erheben; doch der heutige Besitzer habe ihn mit dem Tod bedroht, wenn er noch einmal wagen würde, sein Eigentum zu beanspruchen.
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Einige Hindus erklärten, vor etwa einem Jahr hätten sie eine Delegation, die bei der Regierung vorstellig wurde und die Rückgabe ihres konfiszierten Eigentums verlangte. Doch man schickte sie nur in das Viertel „Shur Bazar" zu den Ältesten der Moscheen, die angeblich darüber entscheiden konnten. Dort jedoch begegneten sie nur bewaffneten Mujahedin, die ihnen mit dem Tod drohten, falls sie nicht verschwänden. In ihrer Religionsausübung werden die Hindus und Sikhs ebenfalls massiv behindert. Nach der Machtübernahme der Mujahedin mussten die Hindus miterleben, wie viele ihrer Tempel entweiht wurden. Beispielsweise benutzten die Mujahedin unter Präsident Rabbani einen Tempel in Kabul lange als militärischen Stützpunkt der „Schoray-e Nezar", des militärischen Arms der „Djamiat-e Islami'-Partei; zur großen Empörung der Hindus, die ihr Gotteshaus entweiht sahen. Bezeichnend, dass heute neben mehreren Hindu-Tempeln große Moscheen stehen. Diese haben ihre Lautsprecher so auf die Hindu-Tempel ausgerichtet, dass diese ständig mit den Gebetsrufen beschallt werden - eine interessante Mischung zwischen Bekehrungsversuch und Psychoterror. Nur noch in dem Tempel von Kart-e Parwan werden noch religiöse Zeremonien durchgeführt, allerdings möglichst verstohlen, um nicht die Aufmerksamkeit der muslimischen Umgebung auf sich zu ziehen, während noch in der Najibullah-Zeit die religiösen Feste öffentlich und mit großem Prunk begangen wurden.
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Die Bewohner von „Kart-e Parwan" berichteten, unter Najibullah hätten sie eine Verbrennungsstätte außerhalb des Stadtgebiets gehabt, im Süden von Kabul im Viertel „ Kalatsche ". Doch die dortige, muslimische Bevölkerung gestatte ihnen heute nicht mehr, ihre Toten dort zu verbrennen. Mehrmals hätten sie dies versucht, doch sie wären geschlagen und von dem Areal vertrieben worden. Auf Beschwerden beim Innenministerium erklärte man den Hindus und Sikhs, sie sollten Polizeischutz für ihre Zeremonien anfordern. Sie mussten jedoch erleben, dass die Polizei nicht auftauchte und sie - unter Mitnahme ihrer toten Angehörigen - vor eine aufgebrachten muslimischen Menge flüchten mussten.
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Da die Regierung ihnen keinen Ersatz zur Verfügung stelle und ihr Anliegen ignoriere, hätten sie sonst nur die Möglichkeit, ihre Toten in Pakistan oder insgeheim irgendwo in Afghanistan zu verbrennen, ein beschwerliches und teures Unternehmen. Daher seien sie darauf angewiesen, ihre Toten im Tempel von Kart-e Parwan zu verbrennen, ein Verfahren, das im Übrigen ihren religiösen Geboten widerspricht. Doch sogar dies sei ihnen offiziell verboten. Die Menschen, die ihnen ihre Häuser geraubt hätten, ließen dies nicht zu. Einer davon sei der ehemalige Verteidigungsminister Fahim. Er habe ihnen gedroht, ihren Tempel zerstören zu lassen, wenn sie noch einmal eine Verbrennung dort abhielten. Nicht einmal diese Zeremonie, die in ihrer Religion von zentraler Bedeutung ist, können die Hindus also in Afghanistan abhalten. Ich suchte die ehemalige Verbrennungsstätte im Süden von Kabul auf und befragte die Anwohner. Diese bestätigten mir die Berichte. Hindus und Sikhs sind also eindeutig religiöser Diskriminierung ausgesetzt, die sie daran hindert, ihre religiösen Riten auszuüben und deren Ge- und Verbote einzuhalten.
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Am bedeutsamsten jedoch für die fortgesetzte Existenz der Hindus und Sikhs als kulturell eigenständige Minderheit und für ihr Überleben in der Zukunft ist jedoch die Politik, die in Afghanistan gegenüber der jungen Generation betrieben wird. Ganz abgesehen von dem humanitären Aspekt des Leidens der Kinder wird hier systematisch versucht, sie von jedem Zugang zu Bildung fernzuhalten. Der Druck auf die Gemeinden geht sogar bis zur Zwangsbekehrung von Kindern. Insgesamt befinden sich in Kabul noch ca. 120 Hindu- und Sikh-Kinder. Sie sind schwer traumatisiert, völlig verängstigt und fürchten sich, das Gelände ihrer Tempel zu verlassen, um nicht von den muslimischen Kindern drangsaliert und geschlagen zu werden. Die Hälfte von ihnen besucht die so genannte Hindu-Schule. Diese ist allerdings nicht staatlich anerkannt; die Kinder werden dort nur in Religion und in ihrer eigenen Sprache unterrichtet. Die Schule hat kaum Einrichtung und Lehrmittel und nur eine einzige Klasse für Kinder von 6 bis 12 Jahren. Die Regierung stellt weder Gelder noch Lehrer. Die Hindu-Gemeinde ist, wie der Schuldirektor erklärte, nicht mehr in der Lage - wie in ihrer Blütezeit unter Najibullah -, aus eigenen Mitteln für die Schulausbildung der Kinder zu sorgen. Für ihr Leben in Afghanistan können die Kinder mit dieser Schulbildung nichts anfangen; in der afghanischen Sprache sind sie dennoch Analphabeten und erlangen keinen Schulabschluss. Diese einzige Schule befindet sich in Kart-e Parwan. Der so genannte Direktor, Otar Singh - der einzige Lehrer - erklärte, vor zweieinhalb Jahren seien einmal Vertreter von zwei NGOs dort gewesen und hätten ihnen zugesagt, beim Erziehungsministerium vorstellig zu werden, damit ihnen geholfen werde. Doch auf Hilfe warteten sie bis heute. „Es ist eine Lüge, wenn die UNO oder andere erzählen, sie hätten uns geholfen", sagte er wörtlich. Seiner Einschätzung nach sei es die Politik der Regierung, die Hindus so unter Druck zu setzen, dass sie entweder das Land verließen, oder die nächste Generation sich vollkommen assimiliere. Damit sei dann für die Afghanen das Problem gelöst. In den letzten zwei Jahren seien seiner Kenntnis nach in Kabul sieben Hindu-Kinder verhungert. Die Kinder in den anderen Vierteln haben nicht einmal Zugang zu dieser Schule, da sie nicht die Möglichkeit haben, den weiten Weg dorthin zurückzulegen. Familien haben auch immer wieder versucht, ihre Kinder in die muslimischen Schulen einzuschulen, um sie nicht als Analphabeten aufwachsen zu lassen. Doch dort wurden sie geschlagen, als Gottlose beschimpft und gezwungen, am Koranunterricht teilzunehmen. Die staatlichen Schulen versuchten ganz offen, sie zum Islam zu bekehren.
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Zusammenfassend lässt sich also zu Ihrer Frage 5 Folgendes festhalten: In der Tat erreicht die religiös motivierte Verfolgung von Hindus und Sikhs im heutigen Afghanistan asylrelevante Intensität. Hindus und Sikhs sind in ihrer Religionsausübung und kulturellen Identität in einem derartigen Ausmaß eingeschränkt, dass ihre Existenz als eigenständige Minderheit akut bedroht ist. Insbesondere muss der häufig getroffenen Einschätzung des Bundesamts widersprochen werden, die Regierung Karsai sei in der Lage oder bereit, Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung zu gewährleisten. An verschiedenen Punkten - keine Zurückerstattung enteigneten Besitzes, Verbot religiöser Zeremonien, Verweigerung der Unterstützung der Gemeinden in ihren Bildungsbestrebungen, Zwangsbekehrungen mit Rückendeckung der staatlichen Justiz usw. -wurde nachgewiesen, dass die Regierung Karsai die Hindu- und Sikh-Minderheit nicht nur nicht schützt, sondern sich aktiv an ihrer Verfolgung beteiligt. Insofern kann man für die Hindu- und Sikh-Minderheit tatsächlich von einer nichtstaatlichen wie einer staatlichen oder zumindest doch staatlich sanktionierten Verfolgung sprechen. Gegen diese und gegen gezielte Diskriminierungen und Behinderungen haben die Hindus keinerlei Möglichkeit, sich zu wehren, weder individuell noch durch Appelle an den Staat oder auf juristischem Wege.“
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Das Auswärtige Amt kommt in seinem Lagebericht vom 24.11.2005 zu folgender Einschätzung (S. 22 f.):
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„Nach offiziellen Schätzungen sind etwa 84 % der afghanischen Bevölkerung sunnitische Muslime, ca. 15 % schiitische Muslime. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften (wie z. B. Sikhs, Hindus, Christen) machen nicht mehr als einen Prozent der Bevölkerung aus.
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Artikel 2 der neuen afghanischen Verfassung bestimmt in Absatz 1, dass der Islam Staatsreligion Afghanistans ist. Absatz 2 der Vorschrift räumt Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht ein, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Somit gibt es in Afghanistan das Recht auf freie Religionswahl und -ausübung. Dieses Recht steht unter einem Gesetzesvorbehalt. Er ist nach Kenntnis der Auswärtigen Amts bislang nicht konkretisiert worden. Am 17.09.2003 hat Präsident Karzai die Einsetzung eines islamischen religiösen Rates (Shura) per Dekret genehmigt. Die Shura, in der Religionsgelehrte aller Provinzen vertreten sein sollen, umfasst rund 2.600 Mitglieder. Die Religionsgelehrten sollen dafür Sorge tragen, dass die Gebote des Islam eingehalten werden und insbesondere auch der Propaganda entgegenwirken, die zum Heiligen Krieg gegen die Übergangsregierung aufruft. Bislang ist dieser Rat lediglich mit der Ausarbeitung einer Resolution in Erscheinung getreten, in der die einflussreichen Religionsgelehrten aufgerufen werden, die Übergangsregierung zu unterstützen. Im Religionsministerium wurde eine Abteilung zur "Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften" mit fünf Unterabteilungen (Ursprung islamischer Wissenschaften, "Einladung zum Islam und Hinweisung", soziale Reformen, Erkennen von Unglauben sowie "Einladung zum Islam und Hinweisung für Frauen") gegründet. Die Abteilung verfügt nicht über polizeiliche Befugnisse. Leiter der Abteilung ist Sayed Ababas Quasimi, ein im Iran ausgebildeter Islamwissenschaftler, der auch zeitweise Architektur in Hamburg studiert hat. Als Schwerpunkt der Abteilung sieht er die grundlegende Information von Bürgern über Fragen der Hygiene, des Umweltschutzes, des Zusammenlebens in der Familie u. a. wie auch die Rechte und Pflichten in der Gesellschaft auf der Grundlage des Islam. Als Leitlinie wurde zudem die Verhinderung der Diskriminierung von Frauen und Ermutigung zu ihrer Fortbildung und stärkerer Teilnahme an der Gesellschaft genannt. Schlechte finanzielle und Sachausstattung verstärken den Eindruck, dass die Einrichtung der Abteilung kein prioritäres Anliegen der Regierung ist.
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Die früher in Kabul lebende Hindu- und Sikh-Minderheit (zusammen deutlich unter ein Prozent der Bevölkerung) gibt sich gegenwärtig praktisch nicht zu erkennen. Nach Angaben einer indischen Nachrichtenagenturleben etwa 5.000 Hindus und Sikhs in Afghanistan. Nach Auskunft der "Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft", die sehr enge Beziehungen in die afghanische Hindu-Gemeinde unterhält, gibt es gravierende Fälle von Diskriminierung gegen Hindus. Die Handlungen richten sich gegen die Ausübung der religiösen Sitten und Gebräuche der Hindu-Minderheit.
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Hindus werden auch Opfer illegaler Landnahme. Häuser und Grundstücke werden von Kommandeuren und deren bewaffneter Gefolgschaft besetzt. Dem Auswärtigen Amt sind zudem Fälle bekannt, in denen Hindus illegal von einzelnen Kommandeuren aus ihren Häusern vertrieben wurden, bzw. nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland nicht ihren rechtmäßigen Grundbesitz erhalten haben. Diese illegale Landnahme geht nicht selten einher mit massiven Einschüchterungen gegen die rechtmäßigen Eigentümer. Hierbei handelt sich allerdings nicht um ein spezifisch gegen Hindus gerichtetes Phänomen. Auch andere Bevölkerungsgruppen sind davon betroffen. Hindu-Rückkehrer kommen häufig nur in den noch existierenden Hindu-Tempeln unter und leben unter äußerst schwierigen Bedingungen. Ursache dafür ist nach Angaben der "Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft" der Umstand, dass die meisten Hindus ihre Häuser und Geschäfte verloren haben. Im Oktober 2005 verlief in Kabul das neuntägige Hindu-Fest Navratna, das in den Tempeln der Stadt gefeiert wurde, nach Meldung der „Hindustan Times Indo-Asian News Service Kabul“ hingegen ohne Zwischenfälle.“
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Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist auch unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers und seiner Familie, die bis Mai 2005 in Afghanistan lebte, eine Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan nicht festzustellen. Die Lage der Hindus stellt sich zwar in der Tat als dramatisch schlecht dar und ist noch verheerender als die Lage der anderen Afghanen. Jedoch lassen sich nicht genügend gezielte Übergriffe gegen Hindus in Afghanistan feststellen, die asylerheblich wären, um auf eine Verfolgung der gesamten religiösen Minderheit schließen zu können. Der eindrucksvolle Bericht von Dr. Danesch enthält neben aktuellen Schilderungen auch immer wieder Rückgriffe auf die Zeit vor der Machtübernahme der Taliban und auf die Zeit unter den Taliban. Diese Darstellungen sind zwar geeignet, die allgemein ablehnende Haltung der Mehrheit gegenüber den Hindus und Sikhs zu illustrieren. Für die Frage aber, ob augenblicklich eine Gruppenverfolgung festzustellen ist, haben diese „Referenzfälle“ jedoch außer Betracht zu bleiben. Allgemeine Diskriminierungen vermögen eine im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Verfolgung aufgrund der Religion der Hindus nicht zu begründen. Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Verfolgungshandlung ist, dass die Eingriffe und Beeinträchtigungen eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 ua. -, BVerfGE 76, 143 ff.). Dies ist bei einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden Erkenntnisse nicht der Fall. Die erbärmlichen Lebensverhältnisse für die Mehrzahl der Hindus ergibt sich daraus, dass sie, als Angehörige einer Glaubensrichtung, die in erschreckender Weise von der afghanischen Gesellschaft ausgegrenzt wird, damit von der Möglichkeit, sich eine menschenwürdige Existenz durch Arbeit zu sichern, ferngehalten wird. Dies ist aber keine gezielte Rechtsgutsverletzung zu Lasten der Gruppe der Hindus. Es ist vielmehr die Kombination von Ausgrenzung und Abgrenzung auf der einen Seite und den allgemein katastrophalen Lebensbedingungen in Afghanistan auf der anderen Seite. Nur diese Kombination führt zu den nicht mehr als menschenwürdig zu bezeichnenden Lebensbedingungen der Hindus, die schon vor 2003 schweren Übergriffen ausgesetzt waren, ohne dass dies damals für jeden Hindu gleich die Gefahr des schlichten Verhungerns bedeutet hätte. Dass den Hindus jegliches „religiöses Existenzminium“ genommen würde, lässt sich trotz der dahingehenden Behauptung in der Stellungnahme von Dr. Danesch nicht feststellen. Einmal sprechen die Angaben des Klägers und seiner Familienangehörigen selbst dagegen. Sie haben nämlich einheitlich angegeben, dass die Verbrennung ihrer Toten, wenn auch nicht am dafür eigentlich vorgesehenen Ort, weiterhin stattfinden könne. Auch spricht der Hinweis des Auswärtigen Amtes, dass das Navratna-Fest öffentlich gefeiert werden konnte, gegen einen Entzug des so genannten religiösen Existenzminimums. Ein Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung, das auch in erheblichen Maße zu Übergriffen führt, ließe die Durchführung eines solchen Festes wohl nicht zu.
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Ein weiterer Grund, weshalb eine Gruppenverfolgung nicht zu bejahen ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass sich ein Verfolgungssubjekt nicht feststellen lässt, so dass selbst dann, wenn die Verfolgungsintensität entgegen den obigen Ausführungen zu bejahen wäre, die Klage hinsichtlich § 60 Abs. 1 AufenthG keinen Erfolg haben kann. Eine unmittelbare staatliche Verfolgung scheidet nach den tatsächlichen Feststellungen aus. Es ist nicht zu erkennen, dass der afghanische Staat unter Ausnutzung seiner Machtinstrumente gezielt gegen Hindus in Afghanistan vorgehen würde. Auch eine mittelbarer staatliche Verfolgung lässt sich nicht feststellen. Dafür müsste eine Duldung oder gar wohlwollende Unterstützung von Übergriffen gegen Hindus festzustellen sein. Bei Betrachtung der von Dr. Danesch geschilderten Einzelschicksale lässt sich zwar erkennen, dass die Hindus seitens der Regierung nicht im rechtlich gebotenen Maße unterstützt werden. Hilfe gegen bereits vor zehn Jahren erfolgte Enteignungen wird verweigert. Ein gezieltes Untätigbleiben gegen aktuelle Übergriffe lässt sich jedoch nicht als Regelfall erkennen, so dass auch eine mittelbare staatliche Verfolgung nicht bejaht werden kann. Schließlich ist auch eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure nicht zu bejahen. Es fehlt hier an einer fest umrissenen Gruppe nichtstaatlicher Akteure. Die nichtstaatlichen Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG bedürfen eines gewissen Organisationsgrades (Wenger, in: Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 1. Aufl. 2005 § 60 AufenthG Rn. 4). Damit wird einerseits ausgeschlossen, dass spontane Übergriffe Einzelner schon zum Anspruch auf Schutz durch den Aufnahmestaat führen. Andererseits wird mit dieser Auslegung auch erreicht, dass nicht eine pauschale Zurechnung von Gewalttaten zu Lasten ganzer Volksgruppen erfolgt, weil eine Volksgruppe als solche nicht über den erforderlichen Organisationsgrad verfügen kann (VG Sigmaringen, Urt. v. 18.07.2005 - A 2 K 11678/03). Die auch in den sachverständigen Äußerungen nie näher konkretisierten „Teile der moslemischen Bevölkerung“ verfügen nicht über einen gewissen Organisationsgrad. Es handelt sich hier um viele Einzelne, welchen eine Organisation gerade fehlt. Daher scheidet die Annahme einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch aus rechtlichen Gründen aus (a.A zur Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan: VG Wiesbaden, Urt. v. 17.02.2006 7 E 559/05.A(1) -, AuAS 2006, 90 ff.).
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Die Klage ist auch in ihrem zulässigen Hilfsantrag - teilweise - unbegründet. Es bestehen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Weder besteht für den Kläger die konkrete Gefahr, der Folter unterworfen zu werden (§ 60 Abs. 2 AufenthG), noch droht ihm wegen irgend einer Straftat die Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Nach § 60 Abs. 5 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht in einen Heimatstaat abgeschoben werden, in dem ihm grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Für das Vorliegen eines dieser Abschiebungsverbote ist nichts ersichtlich.
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Die Klage hat allerdings Erfolg, soweit mit ihr die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückkehr eine erhebliche und konkrete Gesundheits- und Lebensgefahr aufgrund der desolaten Versorgungslage der Hindus in Afghanistan.
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Dies ergibt sich zwingend aus dem oben Ausgeführten und aus den angeführten Stellungnahmen. Dem Kläger ist es nicht mehr möglich, als Hindu im Falle seiner Rückkehr seine Existenz zu sichern. Ein Überleben ohne Gesundheitsschädigungen ist ihm aufgrund der desolaten Versorgungslage sehr wahrscheinlich nicht möglich, so dass eine konkrete und erhebliche Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG zu bejahen ist.
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Es handelt sich bei den zurückkehrenden Hindus um eine Bevölkerungsgruppe nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, mit der Folge, dass grundsätzlich eine Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG durch die oberste Landesbehörde vorrangig ist. Hieraus ergibt sich, dass in den Fällen, in denen bei einer allgemeinen Gefahrenlage eine Anordnung nach § 60a Abs.1 AufenthG fehlt, ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann bejaht werden kann, wenn die Gefahrenlage landesweit so beschaffen ist, dass jeder von einer Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - Buchholz 402.240 Nr. § 53 Nr. 11, Urt. v. 29.03.1996 - 9 C 116.95 -, Buchholz 402.240 § 53 Nr. 31, Urt. v. 19.11 1996 - 1 C 6 95 -. Buchholz 402.240 § 53 Nr. 5). Eine solche Gefahrenlage besteht hier, wie dargestellt, für zurückkehrende Hindus, da für sie nur ein Überlebenskampf in einem Tempel als Möglichkeit bleibt und die drohende Unterernährung schwerste Gesundheitsrisiken zwangsläufig mit sich bringen muss.
86 
Im Übrigen gilt die Feststellung, dass Rückkehrer im Falle ihrer Abschiebung schwersten Gesundheitsschädigungen überantwortet würden, nicht nur für Angehörige der Religionsgemeinschaft der Hindus. Die Aussage gilt darüber hinaus auch für jeden anderen Rückkehrer, der über keine funktionierende Familienstruktur verfügt, die ihn auffangen könnte. Dies ergibt sich aus den weiteren Ausführungen von Dr. Danesch in seinem Gutachten vom 25.01.2006 (vgl. VG Sigmaringen, Urt. v. 16.03.2006 - A 2 K 10688/05). Auch zu dieser Gruppe gehört der Kläger, nachdem seine gesamte Familie derzeit mit ihm in Deutschland weilt und niemand der anderen Familienmitglieder in der Lage ist, in Afghanistan für sich selbst, geschweige denn für andere, zu sorgen. Vielmehr sind die anderen von dem Arbeitseinsatz des Klägers abhängig.
87 
Die Abschiebungsandrohung erweist sich damit als teilweise rechtswidrig. Sie verletzt den Kläger in eigenen Rechten und ist insoweit aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
88 
Die Ermächtigungsgrundlage für die Abschiebungsandrohung findet sich in den §§ 34 Abs. 1 Satz 1, 38 AsylVfG, 59 AufenthG. Dem Erlass steht das Vorliegen eines Abschiebungsverbot auch nicht entgegen, § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Jedoch darf Afghanistan nicht als Zielstaat der Abschiebung, welche dem Kläger angedroht wird, bezeichnet sein, da zu seinen Gunsten insoweit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greift. Auch wenn Afghanistan damit eigentlich als Staat, in den die Abschiebung nicht erfolgen darf, ausdrücklich bezeichnet werden müsste (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG), bleibt nach der Aufhebung der Zielstaats die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).
89 
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 1 VwGO. Sie vollzieht das anteilige Unterliegen und Obsiegen der Beteiligten nach. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2012 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.


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Soweit dieses Gesetz nicht abweichende Vorschriften enthält, sind auf die Beweisaufnahme §§ 358 bis 444 und 450 bis 494 der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden.

(1) Das Gericht kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn es das Gutachten für ungenügend erachtet.

(2) Das Gericht kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist.

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2012 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.


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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.