Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss, 03. Feb. 2015 - 12 B 1493/14
Gericht
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde ist unbegründet, weil die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Lichte der vom Senat allein zu prüfenden Beschwerdegründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) nicht zu beanstanden ist. Das Beschwerdevorbringen vermag die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch für die begehrte Regelung nicht glaubhaft gemacht, weil keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB VIII zu ersehen seien, nicht in Frage zu stellen.
3Gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
41. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
52. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
6Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Satz 2).
7Zur Frage der Einordnung einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) in die Anspruchsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 13. Juli 2011 - 12 A 1169/11 -, juris, Folgendes ausgeführt:
8„Eine Lese- und Rechtschreibstörung oder Legasthenie stellt … als solche keine seelische Störung dar; vielmehr muss infolge der Legasthenie eine sekundäre seelische Störung eingetreten sein. Diese muss nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt.
9Vgl. BVerwG, Urteile vom 11. August 2005 - 5 C 18.04 -, BVerwGE 124, 83, juris; vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98, juris; vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, FEVS 58, 477, juris; HessVGH, Urteil vom 20. August 2009 - 10 A 1799/08 -, NVwZ-RR 2010, 59, juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. November 2007 - 12 A 457/06 -, vom 19. Dezember 2007 - 12 A 2966/07 -, vom 12. November 2008 - 12 A 2551/08 -, vom 29. Mai 2008 - 12 A 3841/06 -, juris, vom 19. Februar 2010
10- 12 A 2745/09 - und vom 13. August 2010 - 12 A 1237/09 -.
11Erforderlich ist daher auch in diesen Fällen, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Betreffenden vorliegt oder eine solche droht. Dies ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - beispielsweise bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, bei einer totalen Schul- und Lernverweigerung, bei einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder bei einer Vereinzelung in der Schule anzunehmen, nicht aber bereits bei bloßen Schulproblemen und Schulängsten, wie sie auch andere Kinder teilen.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1998
13- 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487, juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. November 2007 - 12 A 457/06 -, vom 12. November 2008 - 12 A 2551/08 -, vom 29. Mai 2008 - 12 A 3841/06 -, juris, vom 19. Februar 2010 - 12 A 2745/09 - und vom 13. August 2010 - 12 1237/09 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, FEVS 58, 477.
14Nach alledem ist der Ansatz des Verwaltungsgerichts, dass auch das Vorliegen einer auf einer Lese- und Rechtschreibschwäche beruhenden (sekundären) psychischen Störung im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII allein noch keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe begründet, sondern zusätzlich, wegen der Zweigliedrigkeit des Begriffes der seelischen Behinderung,
15vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Januar 2010
16- 12 B 1655/09 -, juris; Meysen, in: Münder/Meysen/Trenczek, FK-SGB VIII, 6. Auflage 2009, § 35a, Rn. 16; Vondung, in: Kunkel, LPK-SGB VIII, 4. Auflage 2011, § 35a, Rn. 10, m.w.N.,
17auch das weitere Tatbestandsmerkmal des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII - (drohende) Teilhabebeeinträchtigung - erfüllt sein muss, nicht zu bestanden.“
18Ausgehend von diesen Maßgaben zeigt die Beschwerde nicht auf, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht zu dem Schluss gekommen ist, die Annahme einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung sei im Fall des Antragstellers nicht gerechtfertigt. Wenn das Verwaltungsgericht insoweit mit überzeugender Begründung auf die Schulbescheinigung vom 27. März 2014 und den Bericht der Deutschlehrerin vom 10. November 2014 - sowie im Übrigen allgemein auf die „zur Verfügung stehenden Auskünfte und Informationen“ - abgestellt hat, kann der Antragsteller nicht mit Erfolg einwenden, es fehle an einer Befassung mit dem Gutachten des Facharztes Dr. E. vom 6. August 2014. Auf dieses Gutachten ausdrücklich einzugehen, war entbehrlich, weil es keine wesentlichen Hinweise auf das Vorliegen einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung des Antragstellers vermittelt. Dass der Antragsteller etwa unter einer „Kontaktstörung“ leidet und seine Testung „auffällige Werte“ z. B. im Bereich von „sozialen Ängsten“ und „Schul- und Leistungsängsten“ ergab, bietet keine substantielle Grundlage für die Annahme einer - schon vorliegenden oder jedenfalls zu erwartenden - nachhaltigen Einschränkung seiner sozialen Funktionstüchtigkeit. Noch weniger aussagekräftig ist die Stellungnahme der M. -Institutsleiterin vom 6. März 2014, auf die sich die Beschwerde ferner beruft. Dass der Antragsteller danach mit Testergebnissen „immer noch weit unter dem Durchschnitt der Altersgruppe“ lag und „noch nicht die gewünschten Leistungen“ erbrachte, gibt für eine Beeinträchtigung seiner gesellschaftlichen Teilhabe nichts her.
19Ob die Antragsgegnerin in der Vergangenheit bereits Eingliederungshilfe geleistet hat, ist angesichts der Maßgeblichkeit der aktuellen Gegebenheiten nicht entscheidend. Es trifft auch nicht zu, dass, sofern die Leistungsvoraussetzungen einmal vorgelegen hätten, „ein Wegfall … nur dann angenommen werden (könne), wenn das Förderungsinstitut eine weitere Förderung nicht für erforderlich halten würde“, wie der Antragsteller meint. Denn schon die - der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Hilfemaßnahme vorgelagerte - Einschätzung, ob die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft überhaupt beeinträchtigt ist bzw. eine solche Beeinträchtigung droht, fällt anerkanntermaßen in die Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit und somit zunächst in den Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe,
20vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 15. Oktober 2014 - 12 B 870/14 -, juris, m. w. N.,
21so dass auf der Hand liegt, dass das Votum des Leistungserbringers zwar in den Entscheidungsprozess einzubeziehen sein mag, dessen Ergebnis jedoch nicht vorgibt.
22Schließlich kommt es auch nicht darauf an, ob die vom Antragsteller besuchte Schule eine weitergehende Förderung mangels Kapazität nicht zu leisten vermag. Selbst wenn sich die an der LRS-Problematik ansetzende schulische Förderung als unzureichend erweist, folgt allein daraus nicht, dass die soziale Funktionstüchtigkeit des Antragstellers bereits nachhaltig beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung jedenfalls droht.
23Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
24Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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(1) Gegen die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters, die nicht Urteile oder Gerichtsbescheide sind, steht den Beteiligten und den sonst von der Entscheidung Betroffenen die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht zu, soweit nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist.
(2) Prozeßleitende Verfügungen, Aufklärungsanordnungen, Beschlüsse über eine Vertagung oder die Bestimmung einer Frist, Beweisbeschlüsse, Beschlüsse über Ablehnung von Beweisanträgen, über Verbindung und Trennung von Verfahren und Ansprüchen und über die Ablehnung von Gerichtspersonen sowie Beschlüsse über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe verneint, können nicht mit der Beschwerde angefochten werden.
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(4) Die Beschwerde gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80a und 123) ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. Das Verwaltungsgericht legt die Beschwerde unverzüglich vor; § 148 Abs. 1 findet keine Anwendung. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
(5) u. (6) (weggefallen)
(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
- 1.
ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und - 2.
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme
- 1.
eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, - 2.
eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder - 3.
eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall
- 1.
in ambulanter Form, - 2.
in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, - 3.
durch geeignete Pflegepersonen und - 4.
in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.
(3) Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.
(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.
(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.
(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.