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| Der Angeklagte befand sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart vom 06. März 2003 erstmals in Untersuchungshaft in der Zeit vom 26. März 2003 bis zu dessen Außervollzugsetzung gegen Auflagen am 10. April 2003. Am 21. September 2005 wurde er erneut festgenommen und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft. Grundlage war zunächst der erweiterte Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 16. September 2005, der durch den dem Umfang der Anklage vom 19. Januar 2006 angepassten Haftbefehl der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 06. Februar 2006 ersetzt wurde. |
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| Der Senat hat mit Beschluss vom 24. März 2006 Haftfortdauer zum Sechs-Monats-Termin angeordnet und mit Beschluss vom 07. Juli 2006 entschieden, dass die Untersuchungshaft auch über neun Monate hinaus zu vollziehen ist (4 HEs 21/06). |
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| Seit dem 20. September 2006 verhandelt das Landgericht gegen [den Beschwerdeführer]. Ihm werden folgende Taten zur Last gelegt: Sozialversicherungsbetrug (Abschnitt 2. des Haftbefehls vom 06. Februar 2006), Hinterziehung von Kraftfahrzeugsteuer (Abschnitt 3.), Hinterziehung von Einfuhrabgaben (Abschnitt 4.), Erschleichen von Visa und Einschleusen von Ausländern (Abschnitt 1.3), Urkundenfälschung [ausländischer] Kennzeichen sowie [ausländischer] Fahrzeugscheine (Abschnitt 1.4), Bestechung (Abschnitte [1.1 und] 1.2.1 [und 1.5]). |
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| Mit Schriftsatz vom 13. August 2007 haben die Verteidiger die Aufhebung des Haftbefehls vom 06. Februar 2006 beantragt, da kein dringender Tatverdacht insbesondere bezüglich des Vorwurfs des Sozialversicherungsbetrugs vorliege, Fluchtgefahr zu verneinen und vor allem das verfassungsrechtlich verankerte besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt sei. Mit Beschluss vom 27. August 2007 nebst Anhängen hat die Strafkammer den Haftbefehl vom 06. Februar 2006 aufrechterhalten und Haftfortdauer angeordnet. Der hiergegen von den Verteidigern mit Schriftsatz vom 04. September 2007 eingelegten Beschwerde hat die Kammer nicht abgeholfen. |
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| Die Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. |
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| I. Dringender Tatverdacht |
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| Im Haftbeschwerdeverfahren während laufender Hauptverhandlung unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht vornimmt, nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht kann in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht daher nur dann eingreifen und diese durch eine abweichende eigene Entscheidung ersetzen, wenn der Inhalt der angefochtenen Haftentscheidung grob fehlerhaft ist und den dringenden Tatverdacht aus Gründen bejaht oder verneint, die in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar sind (BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3; OLG Stuttgart, Beschluss vom 12. Oktober 2006 - 2 Ws 218/2006; OLG Thüringen, Beschluss vom 04. September 2006 - 1 Ws 304/06, zitiert nach juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08. November 2005 - 1 Ws 233/05, zitiert nach juris; OLG Rostock, Beschluss vom 28. Januar 2004 - 1 Ws 20/04, zitiert nach juris; OLG Karlsruhe, Die Justiz 2001, 87). |
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| Das Landgericht hat in dem angefochtenen Beschluss in Verbindung mit der als Anhang III einbezogenen Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007, auf die verwiesen wird, vertretbar dargelegt, dass die Ergebnisse der bisherigen Hauptverhandlung den dringenden Tatverdacht gegen [den Beschwerdeführer] (wie in dem Haftbefehl der Kammer vom 06. Februar 2006 in Verbindung mit dem Haftfortdauerbeschluss vom 20. Dezember 2006 und in der Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007 zur Last gelegt) bestätigt und weiter verfestigt haben. Die Kammer bejaht den dringenden Tatverdacht zuletzt mit der Maßgabe, dass |
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| im Abschnitt 1.3 (Ausländerrecht) bei den Taten Nr. 10 bis 59 dringender Tatverdacht nur hinsichtlich gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern (§ 92 a Abs. 2 Nr. 1 AuslG), nicht jedoch in Bezug auf eine bandenmäßige Begehungsweise (§ 92 b AuslG) anzunehmen ist; |
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| im Abschnitt 1.4 (Urkundenfälschung) dringender Tatverdacht auch bezüglich der Urkundenfälschung von 40 [ausländischen] Fahrzeugscheinen besteht; |
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| im Abschnitt 4. (Einfuhrabgabenhinterziehung) dringender Tatverdacht dem Grunde nach vorliegt und der Höhe nach ein Schaden von mindestens 3 Millionen Euro in Betracht kommt. |
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| Insbesondere vertritt die Strafkammer die Auffassung, dass nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme der Angeklagte auch des Betruges zum Nachteil der Sozialversicherungsträger (Abschnitt 2.) dringend verdächtig ist. Entgegen dem Beschwerdevorbringen in Verbindung mit dem Gutachten zur Sozialversicherungspflicht vom Mai 2007 hat die Kammer plausibel und rechtlich vertretbar ausgeführt, warum nach der fortgeführten Beweisaufnahme zwischen der [Firma] und den bulgarischen Kraftfahrern während der Dauer ihres Einsatzes auf der Westeuropa-Linie ein zeitlich befristetes Arbeitsverhältnis aufgrund eines jeweils konkludent geschlossenen Arbeitsvertrages bestand (Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007, S. 5 ff.). In der Konsequenz vertritt die Strafkammer die Auffassung, dass die bulgarischen Kraftfahrer der deutschen Sozialversicherungspflicht unterliegen. Mangels einer Entsendung von Arbeitnehmern aus [Bulgarien] durch die [dortige] Firma sind nach dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme weder Art. 7 des deutsch-bulgarischen Sozialversicherungsabkommens (bezüglich der Renten- und Arbeitslosenversicherung) noch § 5 SGB IV (bezüglich der Kranken- und Pflegeversicherung) einschlägig (so bereits die Senatsbeschlüsse vom 24. März 2006, S. 11 ff. und vom 07. Juli 2006, S. 5 ff. - 4 HEs 21/06; vgl. auch BGH, Beschluss vom 07. März 2007 - 1 StR 301/07, zitiert nach juris). Rechtsfehlerfrei misst die Strafkammer den deutsch-bulgarischen Entsendebescheinigungen (zumal sie erst einige Jahre nach dem angeklagten Tatzeitraum ausgestellt wurden) - anders als den E 101-Bescheinigungen für den EU-Raum (dazu BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, zitiert nach juris) - im Strafverfahren keine Bindungswirkung im Hinblick auf die bescheinigte Anwendbarkeit bulgarischen Sozialversicherungsrechts bei (Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007, S. 25 f.). Die Kammer setzt sich in diesem Zusammenhang (Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007, S. 26) eingehend mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 07. März 2007 (a.a.O.) auseinander. Sie teilt - nach Ansicht des Senats zu Recht - nicht die Rechtsauffassung der Verteidigung, die diesem Beschluss die „Tendenz“ einer Gleichstellung von Nicht-EU-Bescheinigungen mit E 101-Bescheinigungen hinsichtlich der Bindungswirkung für das Strafverfahren entnehmen will. |
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| Die Strafkammer hat in ihrer Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007 auf 64 Seiten die bislang erhobenen Beweise gewürdigt. Dazu wäre sie nicht verpflichtet gewesen. Das Haftprüfungsverfahren führt nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müsste (vgl. BGHSt 43, 212). Die abschließende Würdigung der Beweise sowie die endgültige rechtliche Bewertung sind der Urteilsberatung und ihre entsprechende Darlegung den Urteilsgründen vorbehalten (BGH NStZ-RR 2003, 368). Die Ausführungen der Strafkammer sind nachvollziehbar, lassen keine Fehler erkennen und tragen aus der Sicht des Senats die derzeitige Einschätzung des Tatverdachts als dringend. Die Angriffe der Verteidigung gegen die vorläufige Bewertung des Ergebnisses der Beweisaufnahme durch die Strafkammer laufen auf eine inhaltliche Überprüfung hinaus, die mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme unvereinbar ist. |
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| Es liegt aus den in dem angefochtenen Beschluss des Landgerichts in Verbindung mit der Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007 (S. 62 ff.) genannten Gründen nach wie vor der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor. Wegen der tatsächlichen, die Fluchtgefahr begründenden Umstände nimmt der Senat im Übrigen auf die Ausführungen im Beschluss vom 24. März 2006 (S. 21 f.) Bezug. Diese haben weiterhin Bestand. Dem starken Fluchtanreiz, insbesondere aufgrund der hohen Straferwartung und der drohenden finanziellen Konsequenzen (vgl. Senatsbeschluss vom 24. März 2006, S. 21), stehen im Inland keine solchen Fluchthemmnisse entgegen, dass es zur Sicherstellung des Verfahrens einer weiteren Inhaftierung nicht mehr bedürfte. |
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| Zu den vom Angeklagten über seine Verteidiger in den Schriftsätzen vom 13. August 2007 und 04. September 2007 in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Gutachten vom September 2007 (S. 8 ff. und 69 ff. - im Folgenden: Rechtsgutachten -) erhobenen Einwendungen ist festzustellen: |
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| Auch unter Berücksichtigung der familiären Verhältnisse des Angeklagten (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG) und der [regionalen] Verwurzelung der Familie ist Fluchtgefahr nach wie vor zu bejahen. Der Senat teilt nicht die Einschätzung der Verteidiger (Schriftsatz vom 13. August 2007, S. 7), dass den Angeklagten sein bisheriger privater und beruflicher Lebensschwerpunkt in der Region an einer Flucht mit seiner Familie ins Ausland hindern würde (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 24. März 2006, S. 21 f.). |
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| Wie oben unter B. I. ausgeführt, hat die Strafkammer in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt, dass [der Angeklagte] auch des Betruges zum Nachteil der Sozialversicherungsträger dringend verdächtig ist. Dies ist auch für die im Raum stehende Straferwartung im Rahmen der Fluchtgefahranalyse erheblich. Insbesondere teilt der Senat die Rechtsauffassung der Strafkammer, dass der von der Verteidigung herangezogenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 07. März 2007 (a.a.O.) - zumal einem obiter dictum - nicht tragend entnommen werden kann, nunmehr komme auch den deutsch-bulgarischen Entsendebescheinigungen als (zum Tatzeitpunkt noch) Nicht-EU-Bescheinigungen für das Strafverfahren diejenige Bindungswirkung zu, welche der Bundesgerichtshof den E 101-Bescheinigungen für den EU-Raum beimisst (vgl. zu Letzterem BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, zitiert nach juris). … |
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| Angesichts des Gewichts sowie des Umfangs der Vorwürfe und der hohen Straferwartung ist der weitere Vollzug der Untersuchungshaft - auch im Hinblick auf die Dauer der vom 06. März 2003 bis zum 10. April 2003 und seit dem 21. September 2005 in dieser Sache währenden Inhaftierung - nach wie vor verhältnismäßig. Mildere Mittel zur Sicherung des Strafverfahrens sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann dem Fluchtanreiz nicht durch angemessene Auflagen (vgl. Rechtsgutachten S. 72) hinreichend entgegengewirkt werden. |
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| IV. Verfassungsgebot der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen |
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| Das Verfahren wurde seit der (zweiten) Festnahme des Angeklagten am 21. September 2005 mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben. Die Überprüfung des Verfahrens hat keine vermeidbaren Verzögerungen aufgedeckt. |
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| Die Strafsache ist komplex und von besonderem Schwierigkeitsgrad. Diese Einschätzung teilt die Verteidigung in der Haftbeschwerde vom 30. Mai 2007. Dort heißt es wörtlich: „Angesichts der Komplexität der anstehenden Rechtsfragen versteht sich von selbst, dass die Kammer [die Entscheidung im Abhilfeverfahren] nicht innerhalb der in § 306 Abs. 2 StPO genannten Dreitagesfrist treffen kann. … Die Verteidigung geht davon aus, dass die Kammer ihre Entscheidung nach gründlicher Prüfung und in angemessener Zeit treffen wird. …“ Die Akten sind von besonderem Umfang. Die Anklage vom 19. Januar 2006 zählt allein 560 Seiten. Zusätzlich übersandte die Staatsanwaltschaft dem Landgericht etwa 600 Ordner Ermittlungsakten und ca. 15.000 Ordner und Hefter sichergestellte Beweismittel. Die dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwürfe sind vielschichtig. Die Anklage richtete sich zunächst - neben dem inhaftierten Beschwerdeführer - gegen fünf weitere Mitangeklagte; weitere Verfahrensbeteiligte ist die Firma als Verfallsbeteiligte. … |
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| Der Senat hat gemäß §§ 121, 122 StPO die Wahrung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen seit der Festnahme am 21. September 2005 (unter Berücksichtigung der ersten Untersuchungshaft) erstmals zum Sechs-Monats-Termin geprüft und mit Beschluss vom 24. März 2006, auf den insoweit Bezug genommen wird (S. 22 ff.), bejaht. Anlässlich der Neun-Monats-Haftprüfung hat der Senat die weitere Betreibung des Verfahrens geprüft und mit Beschluss vom 07. Juli 2007, auf den verwiesen wird (S. 10), als zügig bewertet. An dieser Einschätzung hält der Senat fest. Daran ändert auch das Vorbringen der Verteidigung insbesondere unter Vorlage des Rechtsgutachtens vom September 2007 nichts. Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist und sich sein Gewicht - unabhängig von der zu erwartenden Strafe - gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 06. Juni 2007 - 2 BvR 971/07, zitiert nach juris, m.w.N.), ist der Eingriff in die Freiheit [des Beschwerdeführers] nach wie vor hinzunehmen. Denn das Verfahren ist auch in der Folgezeit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen entsprechend gefördert worden. Der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Taten und rasche Bestrafung kann nicht anders gesichert werden als durch seine vorläufige Inhaftierung. |
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| Lediglich ergänzend ist zu bemerken: |
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| 1. Verfahren ab Beginn der Untersuchungshaft am 21. September 2005 bis zur Anklageerhebung am 19. Januar 2006 |
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| Wie der Senat mit Beschluss vom 24. März 2006 festgestellt hat (S. 24), ist die Anklageerhebung innerhalb von 4 Monaten nach der Festnahme des Angeklagten angesichts des komplexen Verfahrens und des Schwierigkeitsgrades der Vorwürfe nicht verzögert. |
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| Zu den Einwendungen im Einzelnen: |
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| a) Gewährung von Akteneinsicht vor Anklageerhebung |
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| Die zeitaufwändige Aktenausfolgung der Ermittlungsakten in Papierform in der Zeit vom 22. September 2005 bis zum 28. Oktober 2005 (insgesamt 585 Ordner), am 23. November 2005 (3 Ordner) und am 19. Januar 2006 (6 Ordner) stellt keine vermeidbare Verfahrensverzögerung dar. Denn die Staatsanwaltschaft genügte dem Gebot, Verzögerungen des Verfahrens von vornherein durch Anlegung von Zweitakten zu begegnen (vgl. etwa BVerfG NStZ 1995, 295; BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 - 2 BvR 1998/98, zitiert nach juris), durch die Bereitstellung einer Zweitakte in elektronischer Form. Die der Verteidigung angebotenen elektronischen Datenträger enthielten entgegen den Ausführungen in dem Rechtsgutachten vom September 2007 (S. 34) - wie aus der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 16. August 2007 (S. 4 ff.) zu entnehmen ist - auch sämtliche Ermittlungsakten aktualisiert nach dem jeweiligen Ermittlungsstand. Aus dem Gebot der Anlegung von Zweitakten folgt kein Anspruch auf Bereitstellung in einer bestimmten Form, solange Vollständigkeit gewährleistet ist. Im Übrigen ist der Strafprozessordnung, wie die Vorschrift des § 41a StPO zeigt, das elektronische Dokument nicht wesensfremd. Die elektronische Zweitakte ermöglicht vielmehr eine beliebige Vervielfältigung und dient daher um so mehr der von der Verteidigung reklamierten Verfahrensbeschleunigung. Insoweit wird auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft in dem Schriftsatz vom 16. August 2007 (S. 5 f.) und der Strafkammer in der angefochtenen Entscheidung (S. 5) zur Nutzung der elektronischen Akten auch durch die Verteidigung, selbst in der Hauptverhandlung, verwiesen. |
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| b) Steuerbescheid des Finanzamtes |
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| Insoweit nimmt der Senat auf seine nach wie vor gültigen Ausführungen in dem Beschluss vom 24. März 2006 (S. 23 f.) Bezug. |
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| c) Korrekturen beim Zollwert |
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| Die Verteidigung rügt, die Staatsanwaltschaft habe bereits der Anklage im Rahmen des Vorwurfs der Einfuhrabgabenhinterziehung von vornherein nicht sachgerecht ermittelte Zollwerte der 295 Sattelzugmaschinen zugrunde gelegt. Die Beweisaufnahme im Zusammenhang mit einer eventuellen Anpassung oder Korrektur der jeweiligen Zollwerte ist für den 12. September 2007 vorgesehen. Eine Verfahrensverzögerung ist dadurch bislang nicht eingetreten, nachdem der Vorsitzende vorsorglich mit Verfügung vom 16. Juli 2007 weitere Verhandlungstermine bis zum 30. November 2007 bestimmt hatte und die Kammer einen weiteren Beweisantrag der Verteidigung ohnehin erst bis zum 12. September 2007 zu erledigen beabsichtigt (angefochtene Entscheidung S. 15 f.; vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 121 Rn. 26; BVerfG, Beschluss vom 14. August 2007 - 2 BvR 1663/07). |
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| 2. Verfahren ab Anklageerhebung am 19. Januar 2006 bis zum Beginn der Hauptverhandlung am 20. September 2006 |
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| Soweit die Verteidigung eine zu späte Eröffnung des Hauptverfahrens erst etwa 4 ½ Monate nach Anklageerhebung und einen zu späten Beginn der Hauptverhandlung nach weiteren 3 ½ Monaten rügt, sei zunächst aus der Stellungnahme [der Verteidigung] vom 20. Juni 2006 zu der anstehenden Neun-Monats-Haftprüfung des Senats zitiert: |
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| „Das Verfahren ist seit der letzten Haftprüfung durch den Senat im März 2006 zügig vorangebracht worden. Dazu hat das Präsidium des Landgerichts Stuttgart wesentlich beigetragen, indem es zum einen die 10. Große Wirtschaftsstrafkammer von weiteren Eingängen freigestellt und zum anderen nach der Ernennung der bisherigen Kammervorsitzenden zur Vorsitzenden Richterin am Oberlandesgericht unverzüglich einen neuen Vorsitzenden bestellt hat. Am 7. Juni 2006 erging der Eröffnungsbeschluss. Zugleich bestimmte der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung auf Mittwoch, 20. September 2006, mit zahlreichen Fortsetzungsterminen - jeweils mittwochs und freitags - zunächst bis Ende Juni 2007.“ |
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| Dieser Einschätzung der Verteidigung stimmt der Senat zu. |
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| Zu dem Beschwerdevorbringen im Einzelnen: |
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| a) Eröffnung des Hauptverfahrens am 07. Juni 2006 |
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| In Anbetracht des Umfangs der Ermittlungsakten und der Vielschichtigkeit sowie des hohen Schwierigkeitsgrades der Tatvorwürfe konnte die Strafkammer ab Anklageerhebung eine Einarbeitungszeit von 4 ½ Monaten bis zur Entscheidung über die Eröffnung in Anspruch nehmen. Entgegen dem Beschwerdevorbringen in dem Rechtsgutachten vom September 2007 (S. 38 f.) wurde das Verfahren auch in der Zeit nach dem Haftfortdauerbeschluss der Kammer am 17. Februar 2006 gefördert. Insoweit wird auf die Senatsbeschlüsse vom 24. März 2006 (S. 22 f.) und vom 07. Juli 2007 (S. 10) Bezug genommen. |
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| b) Beginn der Hauptverhandlung am 20. September 2006 |
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| Entgegen dem Vorbringen der Verteidigung in dem Rechtsgutachten vom September 2007 (S. 39 ff.) trat nach dem Eröffnungsbeschluss vom 07. Juni 2006 kein Verfahrensstillstand ein. Auf S. 6 f. der angefochtenen Entscheidung wird verwiesen. Zwar betont das Bundesverfassungsgericht, der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlange, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG NJW 2006, 672, 674 m.w.N.). Es stellt jedoch gleichzeitig klar, dass sich starre Grenzen für den in Haftsachen zulässigen zeitlichen Abstand zwischen Eröffnungsbeschluss und Beginn der Hauptverhandlung nicht festlegen lassen, weil es insoweit auf die gesamten Umstände des Einzelfalles ankommt. So kann zum Beispiel ein Vollzug von Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung nur in besonderen Ausnahmefällen als gerechtfertigt angesehen werden (BVerfG, a.a.O.; BVerfG NStZ 2000, 153). Obwohl dieser Zeitraum vorliegend - nahezu - ausgeschöpft ist, genügt bei einem derart umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren die von der Kammer in der angefochtenen Entscheidung (S. 6 f.) dargestellte Betreibung des Verfahrens bis zum Beginn der Hauptverhandlung dem Beschleunigungsgebot. Denn entgegen dem Vorbringen der Verteidigung bedarf die Vorbereitung der Hauptverhandlung gegenüber der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts gemäß § 203 StPO einer intensiveren Einarbeitung in den Akteninhalt, insbesondere um den voraussichtlichen Zeitaufwand, die Planung und den Ablauf der beabsichtigten Beweisaufnahme beurteilen zu können. |
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| 3. Verfahren seit Beginn der Hauptverhandlung am 20. September 2006 |
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| a) Terminsdichte von zwei Verhandlungstagen pro Sitzungswoche |
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| Die Terminierungspraxis der Strafkammer von zwei Verhandlungstagen pro Sitzungswoche gibt keinen Anlass zu Beanstandungen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass dem Freiheitsgrundrecht des nicht verurteilten Angeklagten mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft wachsendes Gewicht zukommt. Dementsprechend stellt das Bundesverfassungsgericht hohe Anforderungen an die Beschleunigung der Hauptverhandlungsphase (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 08. August 2007 - 2 BvR 1609/07, zitiert nach juris). Starre zeitliche Grenzen für die Durchführung eines Strafverfahrens lassen sich jedoch nur schwer festlegen (BVerfG NJW 2006, 672, 675). Angesichts des Umfangs des vorliegenden Wirtschaftsstrafverfahrens genügt die Terminierungspraxis der Strafkammer in jedem Fall der (Grund-) Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein Sitzungstag pro Woche zu wenig sei (BVerfG NJW 2006, 672, 676). Der von der Strafkammer aufgezeigte Verfahrensablauf dokumentiert eine effiziente Art, Zeugen und Sachverständige zu laden, und lässt einen straffen Verhandlungsplan erkennen. Bereits bei der Terminierung ab dem 20. September 2006 und darüber hinaus behielt der Vorsitzende stets das Ende der Hauptverhandlung im Auge. Die Kammer hat in der angefochtenen Entscheidung nachvollziehbar dargelegt, weshalb mit einem dritten Verhandlungstag pro Woche, wie es die Verteidigung fordert, eine ordnungsgemäße Vorbereitung auf die Beweisaufnahme, insbesondere auf die Zeugenvernehmungen, in diesem komplexen Verfahren nicht vereinbar gewesen wäre (S. 7 f.). Ein vom Bundesverfassungsgericht (NJW 2006, 672, 676) ausnahmsweise angesetzter strengerer Maßstab einer Terminsdichte von vier Tagen pro Woche mit einer Sitzungsdauer bis zu fünf Stunden kann vorliegend nicht verlangt werden. Denn eine solche Terminierungspraxis forderte das Bundesverfassungsgericht in dem absoluten Ausnahmefall eines seit etwa acht Jahren inhaftierten Angeklagten mit einem zweiten (wiederum 91 Tage dauernden) Hauptsacheverfahren nach Aufhebung des ersten Urteils aufgrund eines der Justiz zuzurechnenden Verfahrensfehlers im Revisionsverfahren. |
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| b) Aufgehobene Sitzungstage, Nettoverhandlungsdauer, sitzungsfreie Zeit einschließlich Sommerpause |
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| Die Kammer hat bislang vom 20. September 2006 bis zum 29. August 2007 an 68 Sitzungstagen verhandelt. Die Verteidigung rügt, dass seit Verhandlungsbeginn 21 Sitzungstage, sei es durch Aufhebung, sei es durch sitzungsfreie Zeit ausgefallen seien. Der Senat sieht darin keine Verletzung des Beschleunigungsgebotes. |
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| Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsitzenden. Hierüber hat er nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten zu entscheiden; auch die Verfügbarkeit eines geeigneten Sitzungssaals - etwa im Fall einer Mehrzahl von Angeklagten - kann eine Rolle spielen (BGH, Beschluss vom 29. August 2006 - 1 StR 285/06). |
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| Die Kammer hat in der angefochtenen Entscheidung (S. 8 ff.) sachliche Gründe für eine Aufhebung der 10 Sitzungstage dargelegt. Der Vorsitzende hat hier sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Insbesondere wurden die Sitzungstermine 29. Juni 2007 und 24. August 2007 mit Rücksicht auf die (Wahl-)Verteidiger aufgehoben; die Sitzungstage 24. November 2006, 20. Dezember 2006, 27. Juni 2007, 13. Juli 2007 und 18. Juli 2007 kürzte die Kammer auf Wunsch der (Wahl-)Verteidiger ab oder änderte das an diesen Terminen ursprünglich vorgesehene Beweisprogramm aufgrund anderweitiger Terminsverpflichtungen der (Wahl-)Verteidigung. Wenn die Kammer auf vertretbare Terminwünsche der (Wahl-)Verteidiger Rücksicht nimmt, dann genügt sie entsprechend ihrer Fürsorgepflicht gerade dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Angeklagten als Prozesssubjekt, im Sinne einer „Waffengleichheit“ zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen über einen Rechtsanwalt als gewählten Verteidiger seines Vertrauens. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob es sich um die Verhinderung des Erst- oder Zweitverteidigers (vgl. auch § 137 StPO) handelt. Denn die Aufgabe eines weiteren Verteidigers - zumal eines Fachanwaltes - beschränkt sich nicht allein auf die Verfahrenssicherung, sondern gewährleistet - gerade bei dem vorliegend hochkomplexen Verfahrensstoff - möglicherweise erst die sachgerechte Verteidigung des Angeklagten (vgl. zur Bestellung eines Vertrauensanwalts als - zweiten - Pflichtverteidiger BVerfG NStZ 2002, 99). Außerdem wäre - wenn die Strafkammer die Wünsche der Verteidigung nicht berücksichtigt hätte - zu befürchten oder gar zu erwarten gewesen, dass es wegen der auf ein solches Verhalten der Kammer mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgten Reaktionen der Verteidigung („Rügen“ welcher Art auch immer wegen Behinderung der Verteidigung) zu erheblichen Verzögerungen gekommen wäre. |
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| Auch in sonstiger Hinsicht genügt die Dauer der Sitzungstage dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen. Das Landgericht hat ausgeführt, dass bis zum 18. Juli 2007 an den 65 Sitzungstagen 88 Zeugen und Sachverständige erschienen waren; Sitzungstage, an denen keine Zeugen geladen waren oder geladene Zeugen wegfielen, nutzte die Strafkammer für Verlesungen (Beschluss vom 27. August 2007, S. 11 f.). Die vom Beschwerdeführer angeführte Anzahl entfallener oder kurzer Verhandlungstermine ist bei einem derart umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren mit bislang insgesamt 68 Verhandlungstagen nicht außergewöhnlich (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 05. Februar 2003 - 2 BvR 29/03, zitiert nach juris). Eine - von der Verteidigung geforderte - Nachholung ausgefallener Sitzungstage in den Folgetagen (Rechtsgutachten S. 57) war angesichts des schon längerfristig feststehenden, straffen Verhandlungs- und Beweisprogramms der Kammer, das am 12. September 2007 abgeschlossen sein soll, nicht angezeigt. Zudem ist insoweit zu berücksichtigen, dass kurzfristige Umstellungen des Beweisprogramms bei der vorliegenden Komplexität der Sachmaterie unter dem Gesichtspunkt einer zureichenden Vorbereitungszeit für die Verfahrensbeteiligten untunlich sind. |
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| Die sitzungsfreie Zeit einschließlich Sommerpause während der Schulferien wurde nicht nur im Hinblick auf den Urlaub der Richterbank, sondern - wie die Kammer auf S. 7 f. der angefochtenen Entscheidung plausibel ausführt - mit Rücksicht auf den Erholungsbedarf sämtlicher Prozessteilnehmer gewährt. Allein die Koordinierung des Urlaubs der Richterbank einschließlich des Ergänzungsrichters und der Ergänzungsschöffin - jenseits der Urlaubswünsche der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und sonstiger Beteiligter - rechtfertigt die vorliegende Dauer der sitzungsfreien Zeit. Aus den Akten ist im Übrigen zu entnehmen, dass auch die Verteidigung das Recht auf Erholungsurlaub in Anspruch genommen hat. So konnte ausweislich der Akten [ein] Verteidiger den Haftprüfungsantrag vom 13. August 2007 wegen Urlaubsabwesenheit nicht unterschreiben; mit Rücksicht auf seinen Urlaub wurde überdies ein Zeuge auf den 24. August 2007 - den ersten vorgesehenen Verhandlungstag nach seinem Urlaub - umgeladen (S. 15 der angefochtenen Entscheidung). |
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| Die Verteidigung beanstandet, dass entgegen § 29 Abs. 2 StPO die Hauptverhandlungstermine am 06. Juli 2007 und am 11. Juli 2007 ersatzlos entfallen seien. Bei der Beurteilung, ob eine Amtshandlung unaufschiebbar im Sinne der vorgenannten Vorschrift ist, hat der Richter einen Spielraum dahingehend, dass die Entscheidung vertretbar und ermessensfehlerfrei sein muss (Meyer-Goßner, a.a.O., § 29 Rn. 16; BGH NStZ 2002, 429 m.w.N.). Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Verfahrensweise der Kammer (S. 11 der angefochtenen Entscheidung) auch angesichts der Dauer der bisherigen Untersuchungshaft [des Beschwerdeführers] nicht zu beanstanden. |
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| Die Verteidigung rügt, dass die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht zu zögerlich verlaufe. Die Kammer hat die Beweisaufnahme nach pflichtgemäßem Ermessen unter Wahrung der Aufklärungspflicht vorzunehmen. Die Maßnahmen der Sachleitung, wie sie die Strafkammer etwa auf S. 12 des angefochtenen Beschlusses dargelegt hat, geben im Umfang der Überprüfungsmöglichkeit des Senats keinen Anlass zu Beanstandungen. Entgegen dem Beschwerdevorbringen widerspricht insbesondere die Verlesung der „Verstecken-Verstoßen-Liste“ nicht dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen. Die Verlesung dieser Liste als regelmäßige, von § 249 Abs. 1 StPO vorgesehene Form des Urkundenbeweises lässt wegen des - nach Auffassung der Strafkammer - gegenüber dem Selbstleseverfahren größeren Beweiswertes keine Ermessensfehler erkennen. |
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| Wie auch die Staatsanwaltschaft in ihrer Erwiderung vom 16. August 2007 (S. 11) dargelegt hat, zeigt insbesondere die zügige, ausführliche Nichtabhilfeentscheidung vom 22. Juni 2007 auf die umfangreiche Haftbeschwerde der Verteidigung vom 30. Mai 2007 mit Anlagen und im Besonderen die kurzfristige Bescheidung des zweiten Haftentlassungsantrages vom 13. August 2007 mit dem angefochtenen Beschluss vom 27. August 2007 die beschleunigte Bearbeitung dieses umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahrens durch die Strafkammer. |
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