Oberlandesgericht Rostock Urteil, 13. Nov. 2015 - 5 U 25/14
Gericht
Tenor
1. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 03.02.2014, Az. 1 O 323/12, wird zurückgewiesen.
2. Die Kläger haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Schwerin ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 40.701,65 € festgesetzt.
Gründe
I.
- 1
Die Kläger begehren als Erben aus eigenem und übergegangenem Recht Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Straßenbahnunglück, bei dem ihr Angehöriger verstarb.
- 2
Die Klägerin war die Ehefrau des am 5. Juni 2009 verstorbenen Z., die Kläger zu 2) und 3) dessen Kinder. Die Beklagte war Betreiberin der Straßenbahnlinie 2 in S..
- 3
Der Verstorbene brach am 5. Juni 2009 eine wegen einer rezidivierenden depressiven Störung am 12. Mai 2009 begonnene freiwillige stationäre Heilbehandlung ab. Er verließ die Klinik für psychische Erkrankungen im H. Klinikum S. gegen Mittag und begab sich zur Straßenbahnhaltestelle „Stadthaus“ in der F.-M.-Straße in S.. Dort stand er gegen 13.15 Uhr an der Bahnsteigkante auf Höhe der Kupplung zwischen zwei Straßenbahnwagen der haltenden Bahn der Linie 2 und sah starr nach unten. Er fiel in der weiteren Folge nach vorn zwischen die beiden Wagen der anfahrenden Straßenbahn und wurde bis zur nächsten Haltestelle mitgeschleift. Die hinzukommenden Rettungskräfte stellten den Tod des Z. fest. Der Verstorbene litt unter einem Verarmungswahn, insbesondere der Angst, einen erfolgten Hauskauf finanziell nicht zu bewältigen. Die Ermittlungsbehörden gingen von einem Suizid des Verstorbenen aus.
- 4
Die Kläger wandten für die Beerdigung des Z. 3.759,00 € auf.
- 5
Die Kläger haben behauptet, dass der Verstorbene sich während des Geschehens an der Bahnsteigkante in einem die freie Willensbildung bzw. die Steuerungsfähigkeit ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe. Es läge deshalb keine bewusste Selbsttötung vor, die einen Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 2 HaftPflG für die Beklagte begründen könnte. Mangels Schuldfähigkeit des Verstorbenen sei auch ein Mitverschulden nicht anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Sie behaupten, dass dem Straßenbahnfahrer, hätte er sich vor dem Abfahren vergewissert, dass niemand im Gefahrenbereich ist, der Verstorbene hätte auffallen müssen. Der Straßenbahnführer hätte die Straßenbahn dann nicht in Bewegung setzen dürfen. Es handele sich bei einem Suizid auch nicht um ein außergewöhnliches Ereignis, vielmehr seien diese eine der häufigsten Ursachen für Verspätungen im Zugverkehr.
- 6
Die Kläger sind der Auffassung, die Beklagte hafte als Betreiberin der Straßenbahn auf Ersatz der ihnen entstandenen Beerdigungskosten und aus übergegangenem Recht auf Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 15.000,00 € für die Qualen des Verstorbenen bis zum Eintritt seines Todes. Darüber hinaus behaupten die Kläger, ihnen entstehe durch den Tod ihres Vaters und Ehemanns monatlich ein Unterhaltsschaden in Höhe von 660,00 €. Diesbezüglich begehren die Kläger Feststellung der Ersatzpflicht. Sie haben außerdem vorgetragen, ihnen seien außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.530,58 € entstanden, die sie ebenfalls ersetzt verlangen.
- 7
Die Kläger haben beantragt,
- 8
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger zur gesamten Hand ein angemessenes Schmerzensgeld in einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Höhe, das jedoch € 15.000,00 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.02.2010 nicht unterschreiten sollte, zu zahlen,
- 9
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger zur gesamten Hand € 3.921,65 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.02.2010 zu zahlen,
- 10
3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Klägern jeglichen materiellen Schaden, der ihnen in Folge des Todes des Herrn Z am 05.06.2009 bereits entstanden ist und künftig entsteht, zu ersetzen, soweit dieser nicht Kraft Gesetzes auf Dritte, insbesondere Träger der Sozialversicherung, übergegangen ist, sowie
- 11
4. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger auf die ihnen entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung € 1.530,58 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 12
Die Beklagte hat beantragt,
- 13
die Klage abzuweisen.
- 14
Die Beklagte hat vorgetragen, sowohl das Entweichen aus der Klinik als auch die Entscheidung, sich umzubringen, seien bewusste und gewollte Entscheidungen des Verstorbenen gewesen. Sie meint, dieser Suizid sei ein von außen durch Handlung einer dritten Person herbeigeführtes Ereignis, welches unvorhersehbar gewesen sei und mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden konnte, weshalb die Voraussetzungen des Haftungsausschlusses nach § 1 Abs. 2 HaftPflG vorlägen.
- 15
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung.
- 16
Das Landgericht hat nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. N. (Bd. I, Bl. 181 ff. d.A., Bd. II, Bl. 206 ff. d.A.) die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass die Haftung der Beklagten gemäß § 1 Abs. 2 HaftPflG ausgeschlossen sei, weil der Tod des Verstorbenen durch höhere Gewalt verursacht sei. Im Ergebnis der Beweisaufnahme ging das Landgericht vom Vorliegen einer bewussten Selbstschädigung aus, die einem gewaltsamen elementaren Ereignis gleichzustellen sei. Zwar läge auf der Grundlage des nachvollziehbaren Sachverständigengutachtens, das sich das Landgericht zu eigen machte, ein sog. Raptus Melancholicus vor, der die Steuerungsfähigkeit ausschließe. Auf der Grundlage der medizinischen Einschätzung des Sachverständigen war das Landgericht aber auch davon überzeugt, dass eine bewusste, wenn auch krankheitsbedingte, Selbsttötung vorgelegen habe. Die Bewusstheit zeige sich in dem zielgerichteten Verhalten, u.a des zielgerichteten Aufsuchens eines Ortes, an dem der Verstorbene sich habe umbringen können, aber auch in dem Verlassen der Klinik mit der klaren Absicht, sich zu suizidieren. Der Raptus ändere nichts daran, dass es sich um einen gewollten Suizid des Verstorbenen gehandelt habe. Der Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 2 HaftPflG hänge zudem nicht von einer Differenzierung zwischen bewusster Selbsttötung bei freier Willenssteuerung und bewusster Selbsttötung bei gestörter Willenssteuerung ab. Der wertende Begriff der höheren Gewalt wolle die Risiken ausschließen, die nicht mehr dem Betrieb der Bahn, sondern allein dem Drittereignis zugerechnet werden könnten. Bei einer Selbsttötung, geplant oder im Rahmen eines Raptus Melancholicus, werde die Straßenbahn nur als Mittel zum Zweck benutzt. Es habe sich im Suizid maßgeblich die Erkrankung des Verstorbenen ausgewirkt, die mit dem Bahnbetrieb nichts zu tun habe und diesem nicht zugerechnet werden könne. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
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Gegen dieses Urteil wenden sich die Kläger mit der Berufung. Sie rügen das Unterlassen eines gebotenen richterlichen Hinweises. Das Gericht stütze seine Argumentation auf das Vorliegen einer „bewussten“ Selbstschädigung, die einem gewaltsamen elementaren Ereignis gleichzustellen sei. Dieser Gesichtspunkt sei jedoch weder von den Parteien noch vom Gericht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erörtert worden. Wäre der Hinweis erfolgt, dass es für die Entscheidung auf ein vom Raptus Melancholicus unabhängiges Bewusstsein ankomme, hätten die Kläger ein solches Bewusstsein bestritten und Sachverständigenbeweis angeboten.
- 18
Das Landgericht habe sich rechtsfehlerhaft nicht mit der Frage der Vermeidbarkeit des Suizides auseinandergesetzt. Beim Anfahren könne die Bahn noch unproblematisch angehalten werden, im Unterschied zu den Entscheidungen, in denen sich die Betroffenen vor fahrende Züge begaben. Die Beklagte habe nichts zu Vorsichtsmaßnahmen des Schienenbahnführers vorgetragen. Dieser hätte sich durch Blick in den Spiegel vergewissern müssen, dass sich niemand im Gefahrenbereich befindet. Das Vorliegen einer Suizidsituation reiche für die Annahme höherer Gewalt nicht aus. Das Landgericht hätte bei zutreffender Bewertung zum Ergebnis gelangen müssen, dass der Suizid mit wirtschaftlich zumutbaren Mitteln und bei Anwendung vernünftigerweise zu erwartender Sorgfalt vermieden worden wäre. Rechtsfehlerhaft sei das Landgericht von einer bewussten Selbstschädigung ausgegangen. Ein bewusstes Handeln sei begrifflich bei zugleich festgestellter, die freie Willensbildung ausschließender krankhafter Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen. Fehlerhaft habe das Landgericht den Schutzbereich des HaftPflG verkannt. Durch dieses Gesetz seien gerade auch psychisch Erkrankte mit aufgehobener oder verminderter Steuerungsfähigkeit geschützt. Dem widerspreche der vom Landgericht angenommene Haftungsausschluss bei bewusster Selbstschädigung bei zugleich festgestellter, durch Krankheit ausgeschlossener Willensfreiheit.
- 19
Die Kläger beantragen,
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das am 05.02.2014 zugestellte Urteil des Landgerichts Schwerin vom 03.02.2014, Aktenzeichen 1 O 323/12, aufzuheben und
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1. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger zur gesamten Hand ein angemessenes Schmerzensgeld in einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Höhe, das jedoch € 15.000,00 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.02.2010 nicht unterschreiten sollte, zu zahlen,
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2. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger zur gesamten Hand € 3.921,65 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.02.2010 zu zahlen,
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3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Klägern jeglichen materiellen Schaden, der ihnen in Folge des Todes des Herrn Z am 05.06.2009 bereits entstanden ist und künftig entsteht, zu ersetzen, soweit dieser nicht kraft Gesetzes auf Dritte, insbesondere Träger der Sozialversicherung, übergegangen ist, sowie
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4. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger auf die ihnen entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung € 1.530,58 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 25
Die Beklagte beantragt,
- 26
die Berufung zurückzuweisen.
- 27
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Sie führt aus, dass eine Hinweispflicht durch das Gericht nicht verletzt sei, weil die Kläger selbst mit der Klage die Frage nach einer bewussten Selbstschädigung zur Sprache gebracht hätten. Die Beklagte verweist zudem darauf, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 HaftPflG zutreffend vom Landgericht festgestellt worden seien. Sie ist der Ansicht, dass der vom Sachverständigen ausgeführte Umstand, dass der Verstorbene einem Impuls gefolgt sei, ein bewusstes und die Tragweite seiner Handlung begreifendes Handeln des Geschädigten nicht ausschließe. Es lägen auch die weiteren Voraussetzungen für die Annahme höherer Gewalt vor. Der Suizid sei vom Straßenbahnführer nicht ansatzweise vorhersehbar gewesen, trotz einer Vielzahl von Spiegeln ist - insoweit unstreitig - der Bereich zwischen den Wagen nicht einsehbar.
II.
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1. Die Berufung der Kläger ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und in verlängerter Frist begründet worden.
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2. Sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
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a) Zwar liegen die Voraussetzungen eines Haftunganspruchs nach § 1 Abs. 1 HaftPflG vor. Nach § 1 Abs. 1 HaftPflG ist der Betriebsunternehmer einer Schienenbahn, wenn bei dem Betrieb einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird, dem Geschädigten zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Der Tod des Z. ist hier beim Anfahren und Weiterfahren einer von der Beklagten betriebenen Straßenbahn eingetreten.
- 31
b) Der Anspruch ist aber nach § 1 Abs. 2 HaftPflG ausgeschlossen, denn der Unfall wurde durch höhere Gewalt verursacht. Das Landgericht hat diesbezüglich im Ergebnis zu Recht einen Haftungsausschluss angenommen.
- 32
aa) Unter höherer Gewalt versteht die höchstrichterliche Rechtsprechung ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist (BGH, Urteil vom 22. April 2004 - III ZR 108/03 -, juris, Rdnr. 12 m.w.N.).
- 33
Das Merkmal der höheren Gewalt ist ein wertender Begriff, mit dem diejenigen Risiken von der Haftung ausgeschlossen werden sollen, die bei einer rechtlichen Bewertung nicht mehr dem gefährlichen Unternehmen (Bahnbetrieb, Rohrleitungsanlage usw.), sondern allein dem Drittereignis zugerechnet werden können ( BGH, a.a.O.; OLG Hamm, Urteil vom 06. Oktober 2003 - 6 U 102/03 -, juris, Rdnr.9).
- 34
bb) Die bewusste Selbstschädigung durch einen Geschädigten wird von der Rechtsprechung einem gewaltsamen elementaren Ereignis gleichgestellt, bei dem sich nicht mehr das mit dem Bahnbetrieb verbundene Risiko, sondern das durch ein Drittereignis gesetzte Risiko (Entscheidung zur Selbsttötung und Ausnutzung des Bahnbetriebes zu diesem Zweck) verwirklicht (LG Leipzig, Urteil vom 22. Juni 2012 - 1 O 4005/11, 01 O 4001 O 4005/11 -, juris, Rdnr. 16; auch OLG Hamm, a.a.O., Rdnr. 7 ff.: OLG München, Urteil vom 26. Januar 1990 - 10 U 3209/89 -, juris). Dabei liegt allerdings die Beweislast für die Selbstschädigungsabsicht beim Unternehmer, hier also der Beklagten; ein bloßer Verdacht reicht dafür nicht aus (LG Leipzig, Urteil vom 22. Juni 2012 - 1 O 4005/11, 01 O 4001 O 4005/11 -, juris, Rdnr. 16; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 04. Juli 2008 - 1 U 50/07 -, juris, Rdnr. 19).
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Dass es sich um einen Suizid des Verstorbenen Z. gehandelt hat, ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Kläger bestreiten insoweit lediglich, dass eine bewusste Selbstschädigung vorgelegen habe.
- 36
cc) Es kommt jedoch nicht entscheidend darauf an, ob der Suizid des Verstorbenen im Zustand fehlender Steuerungsfähigkeit oder Schuldfähigkeit begangen wurde.
- 37
Entgegen der Auffassung der Kläger schließt die Feststellung der aufgehobenen Steuerungsfähigkeit und damit Störung der freien Willensbildung begrifflich nicht schon ein willentliches bzw. bewusstes Handeln, hier eine bewusste Selbsttötung unter Ausnutzung des Bahnbetriebes, aus. Die Schuldfähigkeit und der Handlungswille im Sinne eines natürlichen Vorsatzes sind von einander zu unterscheidende Willens- bzw. Verschuldenselemente (BGH, Urteil vom 10. März 1970 - VI ZR 182/68 -, juris, Rdnr. 8; Palandt/Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 74. Auflage, § 276 Rdnr. 6). Danach kann ein Schuldunfähiger ohne Weiteres vorsätzlich handeln, er ist für den vorsätzlich herbeigeführten Schaden lediglich aufgrund der Vorschrift des § 828 BGB nicht verantwortlich.
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Hier kommt es für den wertenden Begriff der höheren Gewalt allein darauf an, ob der Verstorbene zielgerichtet in den Bahnbetrieb zu betriebsfremden Zwecken von außen eingegriffen hat. Dies ist bei der willentlichen Herbeiführung eines Suizides der Fall. Der Sachverständige Prof. Dr. N. hat dazu in seiner Anhörung vor dem Landgericht widerspruchsfrei und nachvollziehbar ausgeführt, dass der Verstorbene zielgerichtet einen Ort gesucht habe, um sich zu töten, woraus er schließe, dass dieser die Klinik mit der klaren Absicht verlassen habe, sich zu suizidieren (Bd. II, Bl. 210 d.A.). Diese Ausführungen überzeugen den Senat. Der Sachverständige hat seine gutachterliche Bewertung auf zutreffende Anknüpfungstatsachen gestützt, insbesondere auf das nach dem unstreitigem Parteivortrag feststehende äußere Geschehen, nämlich den plötzlichen Abbruch der Behandlung, das Aufsuchen der Straßenbahnhaltestelle und das Fallenlassen zwischen zwei Straßenbahnwagen. Dies stellt sich bei eigener Würdigung durch den Senat äußerlich ohne Weiteres als ein zielgerichtetes Geschehen dar.
- 39
Soweit der Sachverständige einen sog. Raptus Melancholicus angenommen hat, bei dem es zu einem plötzlichen Selbsttötungsentschluss komme - ohne lange Entwicklung oder Planung -, schließt dieser auch nach den weiteren sachverständigen Ausführungen einen zielgerichteten Willen des Verstorbenen nicht aus. Der Sachverständige erläuterte dazu vor dem Landgericht, dass der Verstorbene nicht verwirrt gewesen sei, dieser mit Sicherheit gewusst habe, dass sein Verhalten zum Tod führen werde und er auch gewusst habe, wo er hinlaufen müsse. Der Verstorbene habe sein Verhalten aber nicht mehr steuern können, er habe nicht mehr abwägen können (Bd.II, Bl. 212 d.A.). Der Sachverständige führte weiter aus, dass die bewusste Entscheidung des Betroffenen darin liege, dass er entscheidet, ich bringe mich um (Bd. II, Bl. 213 d.A.).
- 40
Darin wird deutlich, dass auch aus medizinischer Sicht ein zielgerichteter Wille nicht durch einen die Schuldfähigkeit ausschließenden Wahn (hier Verarmungswahn) oder ein raptusartiges Geschehen ausgeschlossen wird (ähnlich LG Leipzig, a.a.O., Rdnr. 24).
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Hinsichtlich der vorgenannten Unterscheidung zwischen einem bewussten, zielgerichteten Selbsttötungswillen und einem die Steuerungsfähigkeit aufhebenden Zustand der Geistestätigkeit liegt kein Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht vor. Die Kläger haben selbst mit der Klage gerade die Frage der bewussten bzw. unbewussten Selbsttötung thematisiert. Darüber hinaus hat das Landgericht in der mündlichen Verhandlung vom 19. November 2013 (Bd. II, Bl. 216 d.A.) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es trotz Nachweises des schuldfähigkeitsausschließenden Raptus Melancholicus noch rechtlicher Entscheidung bedarf, ob allein deshalb höhere Gewalt ausgeschlossen sei. Für einen weitergehenden Hinweis bestand kein Anlass.
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Einer ergänzenden Sachverständigenanhörung zur Frage einer bewussten Selbsttötung bzw. eines von der Steuerungsfähigkeit zu unterscheidenden Bewusstseins bedurfte es nicht, da der Sachverständige sich dazu widerspruchsfrei und eindeutig in seiner erstinstanzlichen Anhörung geäußert und eine bewusste Entscheidung des Verstorbenen Z, sich zu töten, mehrfach bejaht hat. Darüber hinaus handelt es sich bei der Frage, wann ein Suizid die Voraussetzungen der höheren Gewalt erfüllt, um eine Rechtsfrage, die das Landgericht zutreffend dahin beantwortet hat, dass trotz Raptus Melancholicus, der die Steuerungsfähigkeit des Verstorbenen aufhob, eine zielgerichtete Selbsttötung vorlag, die einen betriebsfremden Eingriff in den Bahnbetrieb darstellt und den elementaren Naturereignissen im Sinne höherer Gewalt gleichzustellen ist.
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dd) Höhere Gewalt liegt aber dann - auch bei einem Suizid - nicht vor, wenn der konkrete Suizid durch äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt hätte verhütet werden können. Darlegungs- und beweisbelastet für die Unvermeidbarkeit der Selbsttötung trotz äußerster Sorgfalt ist die Beklagte.
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Aufgrund des unstreitigen Sachverhalts steht fest, dass der Suizid bei äußerst möglicher Sorgfalt nicht vermeidbar war. Der Betroffene hat sich zwischen zwei Straßenbahnwagen fallen lassen, wo er für den Straßenbahnführer nicht erkennbar ist. Dies bedarf keiner weiteren Aufklärung durch den Senat oder Darlegung durch die Beklagte. Allein aus dem Anfahren der Bahn, obwohl der Verstorbene unbewegt mit gesenktem Blick an der Bahnsteigkante gestanden hat, ergibt sich kein Sorgfaltspflichtverstoß. Das unbewegte Stehen des Verstorbenen in dieser Position bietet allein keinen Anlass, ein Anfahren zu unterlassen. Gerade beim Stehenbleiben auf dem Bahnsteig muss im innerstädtischen Straßenbahnbetrieb nicht damit gerechnet werden, dass der dort Stehende durch das langsame Anfahren gefährdet wird, solange nicht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Wartende standunsicher ist. Solche Anhaltspunkte lagen auf der Grundlage des unstreitigen Sachvortrags der Parteien nicht vor.
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Dass der Anfahrende sodann nicht mehr wahrnimmt, dass jemand zwischen die Wagen der anfahrenden Bahn tritt, ist ebenfalls nicht vorwerfbar, da bei Geradeausfahrt mit dem Anfahren die Aufmerksamkeit sorgfaltsgemäß nach vorn gerichtet sein muss. Aus der Art des Selbsttötungsgeschehens ergibt sich zudem, dass die Selbsttötung auch bei äußerster Sorgfalt nicht vermeidbar war, weil der Verstorbene einen Weg gewählt hat, der alle Sicherheitsvorkehrungen der Straßenbahnbetreiberin zielgerichtet ausgeschaltet hat. Insbesondere konnte auch eine vor dem Anfahren gebotene Rückschau des Straßenbahnführers die Selbsttötung nicht vermeiden, weil sich der Verstorbene erst während des Anfahrens nach vorn bewegt hat.
- 46
ee) Letztlich steht der Bewertung des Suizids als Ereignis höherer Gewalt nicht entgegen, dass Selbsttötungen eine der häufigsten Ursachen für Zugverspätungen sind. Zum einen trifft die Feststellung zur Häufigkeit von Suiziden mittels des Zugverkehrs nicht ohne Weiteres auch für den Straßenbahnverkehr zu. Zum anderen kann für die Beurteilung, ob das schadensbegründende Ereignis ein außergewöhnlicher Vorfall ist, nicht allein entscheidend auf die numerische Häufigkeit abgestellt werden (OLG Hamm, a.a.O., Rdnr. 8). Vielmehr behalten die nach Zeit und Ort nicht genau vorhersehbaren Fälle bewusster Selbsttötung trotz numerischer Häufigkeit den Charakter von Ereignissen, die als Schicksalsschlag empfunden werden und auf die sich ein Bahnbetriebsunternehmen ebensowenig einrichten kann wie auf ein elementares Naturereignis (OLG Hamm, a.a.O.).
- 47
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 2, 709 Satz 2 ZPO.
- 48
4. Für die Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichtes.
III.
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Annotations
(1) Wird bei dem Betrieb einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Betriebsunternehmer dem Geschädigten zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht ist.
(3) Die Ersatzpflicht ist ferner ausgeschlossen, wenn eine
(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.
(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.
(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.
(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.
(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.
(3) (weggefallen)
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.
Der Wert wird von dem Gericht nach freiem Ermessen festgesetzt; es kann eine beantragte Beweisaufnahme sowie von Amts wegen die Einnahme des Augenscheins und die Begutachtung durch Sachverständige anordnen.