Landesarbeitsgericht Köln Urteil, 07. Sept. 2016 - 11 Sa 1206/15
Gericht
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 19.11.2015 – 8 Ca 2749/15 d – abgeändert und die Klage kostenpflichtig abgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten über die Zahlung eines tariflichen Zuschlags für Nachtarbeit.
3Der Kläger ist bei der Beklagten, einem in D ansässigen Unternehmen der Textilindustrie, seit dem Jahre 1970 als Weber/Einrichter beschäftigt. Der Stundenlohn des Klägers betrug bis Mai 2015 19,29 €, ab dem Juni 2015 erhält er einen Lohn von 19,66 € die Stunde. Der Kläger arbeitet regelmäßig im Schichtdienst. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge für die Textilindustrie Nordrhein Anwendung.
4Die Beklagte zahlt an den Kläger einen tariflichen Nachtschichtzuschlag von Höhe von 15 % sowie weitere 0,56 € pro Nachstunde. Von den etwa 290 Arbeitnehmern der Beklagten sind ca. 17 Personen auch in der Nachtschicht tätig. In der jeweiligen Nachtschicht werden 10 Arbeitnehmer beschäftigt.
5Der Manteltarifvertrag (MTV 1978) für die gewerblichen Arbeitnehmer der nordrheinischen Textilindustrie vom 10.05.1978, in der Fassung vom 18.02.2000, lautet auszugsweise wie folgt:
6"(...)
7§ 4
8Mehr-, Schicht-, Nacht-, Sonn und Feiertagsarbeit
9(...)
104. Nachtarbeit ist die zwischen 20.00 Uhr und 6.00 Uhr geleistete Arbeit. Soweit in mehreren Schichten gearbeitet wird, ist Nachtarbeit die zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr geleistete Arbeit. Beginn und Ende der Nachtarbeit können in diesem Falle im Einvernehmen mit dem Betriebsrat bis zu einer Stunde abweichend hiervon festgelegt werden; die Spanne der Nachtarbeitszeit muss jedoch 8 Stunden umfassen. Bei 2-schichtiger Arbeit gilt für den einzelnen Arbeitnehmer die zwischen 22.00 Uhr und 23.00 Uhr oder die zwischen 5.00 Uhr und 6.00 Uhr geleistete Arbeit nicht als Nachtarbeit.
11(...)
12§ 5
13Zuschläge
141. Mehrarbeit
15Der Zuschlag für die zuschlagspflichtigen Mehrarbeitsstunden beträgt:
16ab der 1. Mehrarbeitsstunde i. d. Woche 25 %
17ab der 7. Mehrarbeitsstunde i. d. Woche 35 %.
182. Hinsichtlich der Zuschläge für Nachtarbeit gelten die Bestimmungen der bezirklichen Manteltarifverträge weiter (siehe Protokollnotiz im Anhang). Zuschlagsfrei bleiben Arbeitsstunden, die infolge außerbetrieblicher Energieregelungsmaßnahmen in die Nachtarbeitszeit verlegt werden müssen.
193. Sonn- und Feiertagsarbeit
20Für Arbeitsstunden an Sonn- und Feiertagen sind folgende Zuschläge zu zahlen:
21(Gesamtvergütung)
22a) an Sonntagen 50 % (150 %)
23b) an gesetzlichen Feiertagen,
24auch soweit sie auf einen Sonntag fallen
25120 % (220 %)
26c) am 1. Januar, 1. Ostertag, 1. Mai, 1. Pfingsttag sowie am 1. Weihnachtstag 150 % (250 %)
274. Wächter und Pförtner, deren Arbeitszeit nach § 4 Ziffer 5 des Arbeitszeitabkommen² verlängert ist, haben keinen Anspruch auf Zuschläge für Sonntagsarbeit.
285. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höchste zu zahlen. Hinsichtlich der Zuschläge für Nachtarbeit gelten die Bestimmungen der bezirklichen Manteltarifverträge weiter (siehe Protokollnotiz im Anhang).
29²) Der Text von § 4, Ziffer 5. lautet: "Die regelmäßige Wochenarbeitszeit für Wächter und Pförtner kann im Einvernehmen mit dem Betriebsrat bis zu 60 Stunden verlängert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfange Arbeitsbereitschaft fällt.
306. Bei Berechnung der Zuschläge wird bei Zeitlöhnern der vereinbarte Stundenlohn, bei Akkord- und Prämienlöhnern der persönliche Durchschnittswert der laufenden Lohnabrechnungsperiode zugrunde gelegt.
31(...)"
32Die Protokollnotiz zum MTV 1978, § 5 (2) und (5) lautet u. a.:
33"Weitergeltende Bestimmungen über Nachtarbeitszuschläge:
34(...)
35Tarifbereich D :
36§ 3 Ziff. 3 des Manteltarifvertrages vom 29.10.1970:
37"Für Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Schichtarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
38a)...
39b) Nachtarbeit 50 v.H.
40c) ...
41d) ...
42e) Bei Schichtarbeit ist für die Nachtschicht, auch wenn nur 6 Stunden in die Nacht fallen, für die ganze Schicht ein Zuschlag von 15 % zu zahlen.
43Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge wird nur der jeweils höhere bezahlt, jedoch ist der Zuschlag gemäß 3 e) zusätzlich zu vergüten."
44(...)"
45Wegen der weiteren Einzelheiten des MTV 1978 nebst Protokollnotiz wird auf Bl. 7 bis 25 d. A. verwiesen.
46Der MTV 1978 hat diverse regionale Manteltarifverträge, u. a. den Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Düren-Jülich-Euskirchener Textilindustrie vom 29.10.1970 (MTV 1970) abgelöst. Der MTV 1970 enthielt in § 3 folgende Regelung:
47„ § 3
48Mehr-, Nacht-, Sonntags- sowie Schichtarbeit
49(…)
502. Als Nachtarbeit gilt die Arbeitsleistung in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr, soweit nicht Früh- oder Spätschicht in diese Zeit hineinreicht.
51Sonntags- und Feiertagsarbeit ist solche, die an diesen Tagen von 0 bis 24 Uhr geleistet wird.
52Schichtarbeit liegt vor, wenn Betriebe oder Betriebsabteilungen zwei- oder dreischichtig arbeiten.
533. Für Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Schichtarbeit sind folgende Zuschläge zum Bruttoverdienst zu zahlen:
54a) Mehrarbeit 25 v.H.
55Jedoch ab der 47. Wochenstunde 35 v.H.
56(…)
57b) Nachtarbeit 50 v.H.
58c) Sonntagsarbeit 50 v.H.
59d) Arbeit an gesetzlichen Feiertagen 120 v.H.
60e) Bei Schichtarbeit ist für die Nachtschicht, auch wenn nur 6 Stunden in die Nacht fallen, für die ganze Schicht ein Zuschlag von 15 v.H. zu zahlen.
61Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge wird nur der jeweils höhere bezahlt, jedoch ist der Zuschlag gemäß 3.e) zusätzlich zu vergüten.
62(…)“
63Wegen der weiteren Einzelheiten des MTV 1970 wird auf Bl. 58 ff. d. A. Bezug genommen.
64Vor Abschluss des MTV 1978 und nach Kündigung der Vorgängertarifverträge hatte die Gewerkschaft Textil-Bekleidung mit Schreiben vom 16.10.1973 (Bl. 60 f. d. A.) den Vorschlag unterbreitet, die Zuschläge einheitlich für den Tarifbereich N zu regeln. Der gewerkschaftliche Vorschlag sah einen Zuschlag für Nachtarbeit von 50 %, bei ständiger Nachtarbeit von 30 % vor.
65Mit der Klage begehrt der Kläger für Stunden der Nachtschichtarbeit über die Zahlung des Nachtschichtzuschlags hinaus weitere 50 % je Stunde Nachtarbeitszuschlag für den Zeitraum August 2014 bis Juli 2015 nebst Verzugszinsen. Wegen der Einzelheiten der Berechnung des Klägers wird auf Bl. 5, 31 d. A. verwiesen.
66Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 19.11.2015 (Bl. 74 ff. d. A.) stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dies aus dem eindeutigen Wortlaut des § 3 Ziffer 3 Satz 2 MTV vom 29.10.1970 folge. Zwar besage der erste Halbsatz des Schlusssatzes, dass beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere gezahlt werde, jedoch schließe der zweite Halbsatz den Zuschlag für Nachtarbeit bei Schichtarbeit aus. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens und der Antragstellung der Parteien erster Instanz wird auf den Tatbestand, wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
67Gegen das ihr am 30.11.2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.11.2015 Berufung eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 26.02.2016 begründet.
68Die Beklagte ist der Ansicht, die tarifvertragliche Regelung sei nicht eindeutig, sondern bedürfe der Auslegung. Könnten die Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit zusammentreffen, so wäre die Bestimmung des Tarifvertrags nicht eindeutig, weil sie einerseits anordnet, dass nur der höhere Zuschlag gezahlt werde, andererseits eine Kumulation der Zuschläge vorsehe. Hätten die Tarifvertragsparteien eine Kumulation gewollt, hätten sie es klarer und einfacher dadurch formulieren können, dass Nachtschichtarbeit mit einem Zuschlag von 65 % vergütet werde. Hätte der Wille zur Zahlung eines Zuschlags von 65 % für Nachtschichtarbeit bestanden, so erschließe sich nicht, warum für Arbeiten in der Frühschicht und Spätschicht, die in die Nachtzeit von 22:00 bis 6:00 hineinfielen, keine Nachtarbeitszuschläge gezahlt würden. Die Kumulation der Zuschläge für Nachtarbeit und Nachschichtarbeit führe zu einer kaum noch nachvollziehbaren und vermittelbaren Berechnung, wenn z.B. Nachtschichtarbeit an einem Sonntag anders als an Werktagen nur mit dem jeweils höheren Zuschlag vergütet werde. Auch im Falle von Mehrarbeit sei es sinnwidrig, wenn der Mehrarbeitszuschlag wegen des höheren Nachtarbeitszuschlags leerlaufe. Bei Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit im Sinne des Tarifvertrages handele es sich vielmehr um zwei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Tatbestände. Schichtarbeit während der Nachtzeit sei keine Nachtarbeit im Sinne der Zuschlagsregelung des Tarifvertrags. Diese Differenzierung berücksichtige die unterschiedliche Belastungsintensität zwischen regelmäßiger Nachtschichtarbeit und unregelmäßiger Nachtarbeit. Dieses Verständnis korrespondiere auch mit den Regelungen des MTV für die Angestellten in der Textilindustrie, welches aus Gleichbehandlungsgründen geboten sei. Ferner führe die Kumulation zu einem unangemessenen Ergebnis, denn die Vergütung der Nachtschichtarbeit wäre wesentlich höher als in sämtlichen anderen Tarifbezirken der nordrheinischen Textilindustrie und anderen Branchen. Die Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit entspreche einer seit Jahrzehnten unbeanstandet gelebten tariflichen und betrieblichen Praxis.
69Die Beklagte beantragt,
70auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 19.11.2015, Az. 8 Ca 2749/15 d, abzuändern und die Klage abzuweisen.
71Der Kläger beantragt,
72die die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
73Der Kläger verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts mit Rechtsausführungen. Eine abweichende tarifliche und betriebliche Praxis sei angesichts des Wortlauts der Vorschrift unbeachtlich. Wenn sich Nachtarbeits- und Nachtschichtzuschläge nicht überschneiden könnten, hätte es der Beibehaltung der bisherigen Regelung durch die Protokollnotiz nicht bedurft. In der Protokollnotiz sei für den Tarifbereich Rechtsrhein anders als für den Tarifbereich D ausdrücklich zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit unterschieden worden. Die Vielfalt der Regelungen in derselben Protokollnotiz zu den Zuschlägen bei Nachtarbeit spreche für einen unterschiedlichen Regelungswillen. Wann Nachtarbeit im Tarifsinne vorliege, ergebe sich aus der differenzierten Regelung des § 4 Nr. 4 MTV 1978, die von jener des § 3 Nr. 2 MTV 1970 abweiche. Die durchgängige Arbeit während einer Nachtschicht sei besonders belastend.
74Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze der Parteien vom 26.02.2016, 04.04.2016 und 05.09.2016, die Sitzungsniederschrift vom 07.09.2016 sowie den übrigen Akteninhalt Bezug genommen.
75E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
76I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, denn sie ist gemäß § 64 Abs. 2 b) ArbGG statthaft und wurde innerhalb der Fristen des § 66 Abs. 1 ArbGG ordnungsgemäß eingelegt und begründet.
77II. Die Berufung ist begründet.
78Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung eines tariflichen Nachtarbeitszuschlags aus § 5 Nr. 2 Satz 1, Nr. 5 Satz 2 MTV i.V.m. der Protokollnotiz für den Tarifbereich D zu § 3 Ziffer 3 b) des MTV 1970. Die vom Kläger im Rahmen des regelmäßigen Nachtschichtdienstes verrichtete Tätigkeit stellt keine zuschlagspflichtige Nachtarbeit im Tarifsinne dar. Dies folgt nach Ansicht der Berufungskammer aus der Auslegung der maßgebenden Tarifnormen.
791. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Zunächst ist vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Tarifwortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Ferner ist zur Ermittlung von Sinn und Zweck der Tarifnorm auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, Urt. v. 10.02.2015 - 3 AZR 904/13 - m.w.N.). Auch die praktische tarifliche Handhabung kann, sofern sie den Tarifvertragsparteien bekannt ist und von ihnen gebilligt wird, ergänzend berücksichtigt werden (BAG, Urt. v. 15.01.2015 – 6 AZR 707/13 – m.w.N.).
802. Die Bestimmungen des § 5 Nr. 2 Satz 1, Nr. 5 Satz 2 MTV 1978 enthalten den tarifvertraglichen Regelungsinhalt, dass die bisherigen Bestimmungen der bezirklichen Tarifverträge über die Zuschläge für Nachtzeitarbeit inhaltlich fortgelten sollen. Hintergrund dieser Vereinbarung war, dass sich die Tarifvertragsparteien anlässlich des MTV 1978 nicht über die Vereinheitlichung unterschiedlicher Regelungen regionaler Bezirkstarifverträge im Bereich der Zuschläge für Arbeit zur Nachtzeit einigen konnten. Regelungstechnisch haben die Tarifvertragsparteien den Weg gewählt, in einer Protokollnotiz die Weitergeltung der Bestimmungen über Nachtzuschläge anzuordnen, ohne dass der Inhalt der bisherigen regionalen Regelungen abgeändert wurde. Die bisherigen tariflichen Regelungen zur Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit wurden explizit wiederholt, die bisherigen Bestimmungen zum Zuschlag im Falle von Mehrarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit durch textliche Leerstellen versehen. Aus diesem Grunde ist entscheidend, welche Regelung für den Tarifbereich D unter dem Regime des MTV 1970 galt.
813. Der MTV 1970 hatte zwei unterschiedliche Zuschlagstatbestände für die Arbeit in der Nachtzeit vorgesehen. Zum einen die Nachtarbeit gemäß § 3 Nr. 3 b) MTV 1970 mit einem Zuschlag von 50 %, zum anderen die Schichtarbeit während er Nachtarbeitszeit (Nachtschicht) für die ein Zuschlag von 15 % zu zahlen war, § 3 Nr. 3. e) MTV 1970. Schichtarbeit lag nach dem Verständnis der Tarifvertragsparteien vor, wenn in Betrieben oder Betriebsabteilungen zwei- oder dreischichtig gearbeitet wird (§ 3 Nr. 2 Satz 3 MTV 1970). Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge war nur der jeweils höhere zu bezahlen, der Nachtschichtzuschlag gemäß § 3 Nr. 3. e) MTV 1970 jedoch war zusätzlich zu vergüten, § 3 Nr. 3 Satz 2 MTV 1970.
824. Der Begriff der Nachtarbeit ermöglicht vom Wortlaut her zunächst sowohl die Interpretation einer Nachttätigkeit im Rahmen als auch außerhalb eines regelmäßigen Nachtschichteinsatzes. Nach § 3 Nr. 2 Satz 1 MTV 1970 war lediglich der zeitliche Rahmen eingegrenzt (22:00 bis 6:00 Uhr) und ausdrücklich Früh- und Spätschicht ausgeschlossen, soweit sie in diese Zeit hineinreichte. Die Kumulationsregelung des § 3 Satz 2 2. Halbsatz MTV 1970 könnte daher auch regelmäßige Nachtschichtarbeit erfassen. Jedoch sprechen überwiegende Argumente gegen diese Annahme. Dies folgt aus einer zweckorientierten und systematischen Auslegung der tariflichen Regelungen.
83a) Der Begriff der Nachtarbeit im Tarifsinne bedeutet üblicherweise eine planwidrige Arbeit, die außerhalb der geschuldeten Arbeitszeit innerhalb der Nacht erbracht wird, während Nachtschichtarbeit durch eine Regelmäßigkeit innerhalb eines Schichtplans gekennzeichnet ist. Nachtarbeit im dargelegten Sinne wird oftmals tarifvertraglich höher vergütet als Schichtarbeit, die zur Nachtzeit erbracht wird (vgl.: Däubler/Winter, 3. Auflage, § 1 TVG Rdn. 437 m.w.N.). Auch der MTV 1970 sieht ausdrücklich eine höhere Vergütung für Nachtarbeit vor, während Nachtschichtarbeit nach § 3 Nr. 3 e) MTV 1970 lediglich mit 15 % zu vergüten ist. Hätten die Tarifvertragsparteien abweichend von der tariflichen Üblichkeit gewollt, dass Nachtarbeit im Schichtbetrieb mit 65 % und damit höher als unregelmäßige Nachtarbeit zu vergüten ist, hätte es nahe gelegen, dies explizit zum Ausdruck zu bringen.
84b) Der Zweck des Zuschlagssystems spricht gegen die Annahme der Kumulation von Nachtarbeits- und Nachschichtzuschlag gemäß § 3 Nr. 3 Satz 2 2. Halbsatz. Mit den Zuschlägen werden unterschiedliche Erschwernisse mit einem unterschiedlichen Grad von Belastung in unterschiedlicher Höhe abgegolten. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit betrifft regelmäßig die herausgehobene Erschwernis sozialer Desynchronisation. Hinsichtlich der Differenzierung des Ausgleichs von Erschwernissen zwischen Nachtarbeit innerhalb und außerhalb von Schichtarbeit kommt den Tarifvertragsparteien eine Einschätzungsprärogative zu. Jede Form der Nachtarbeit ist für den Menschen schädlich und hat negative gesundheitliche Auswirkungen. Wird Nachtarbeit weder typischerweise in größerem Umfang oder ausschließlich geleistet, können die Tarifvertragsparteien berücksichtigen, dass sich Arbeitnehmer, die nach einem Schichtplan tätig sind, auf diesen im Rahmen der Lebensgestaltung einstellen können. Die sozialen Folgen, die mit jeder Arbeit außerhalb der üblichen Arbeitszeiten der Mehrheit der Arbeitnehmer und des üblichen Tagesablaufs verbunden sind, werden gemindert. Die unregelmäßige und ungeplante Heranziehung stellt eine höhere Belastung für das Familienleben und die Freizeitgestaltung dar, so dass sich die Annahme, dass durch unregelmäßige Heranziehung zur Nachtarbeit eine höhere Belastung eintritt, im Beurteilungsspielraum der Tarifvertragsparteien hält (BAG, Urt. v. 11.12.2013 - 10 AZR 736/12 - m.w.N.). Bei den gewerblichen Tätigkeiten im Bereich der Textilindustrie handelt es sich nicht um Arbeiten, die ausschließlich zur Nachtzeit anfallen. Anhaltspunkte dafür, dass sie in größerem Maße in der betrieblichen Praxis zu verrichten sind, sind nicht ersichtlich. Die Tarifvertragsparteien der Textilindustrie durften daher die unterschiedliche Belastungsintensität zwischen regelmäßiger Nachtschichtarbeit und außerplanmäßiger Nachtarbeit unterschiedlich gewichten und einen höheren Zuschlag für die Nachtarbeit vorsehen.
85c) Zudem wären systemwidrige Ergebnisse die Folge, wenn man davon ausginge, dass Nachtschichtarbeit aufgrund der Kumulationsregel des § 3 Nr. Satz 2 MTV 1970 stets mit 65 % zu vergüten wäre. In diesem Fall entfiele die Möglichkeit die besondere Erschwernis der Sonntagsarbeit oder der Mehrarbeit im Nachtschichtdienst zusätzlich angemessen zu berücksichtigen, da nach § 3 Nr. 2 Satz 2 1. Halbsatz MTV 1970 nur der jeweils höhere Zuschlag gezahlt wird.
86d) Der Zweck der Konkurrenzregelung des § 3 Nr. 2 Satz 2 MTV 1970 besteht daher nach Ansicht der Kammer darin, die Konkurrenz von Zuschlägen aufgrund unterschiedlicher Belastungsarten auszugleichen. Die Belastung der Arbeit zur Nachtzeit stellt aber dem Grunde nach eine Belastung auf gleicher Ebene dar, wenn auch die Belastungsintensität sich unterscheidet. Es entspricht dem Sinn und Zweck der Fortgeltungsanordnung des § 5 Nr. 2 Satz 1, Nr. 5 Satz 2 MTV 1978, dass diese Betrachtungsweise auch unter dem MTV 1978 fortbestehen soll. Dieses Ergebnis wird schließlich durch die unstreitig stetige tarifliche Handhabung bestätigt, wobei von der Kenntnis der Tarifvertragsparteien mangels anderweitigem Vortrag des Klägers auszugehen ist.
87III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
88IV. Die Revision für den Kläger wurde gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.
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(1) Die Frist für die Einlegung der Berufung beträgt einen Monat, die Frist für die Begründung der Berufung zwei Monate. Beide Fristen beginnen mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Berufung muß innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Berufungsbegründung beantwortet werden. Mit der Zustellung der Berufungsbegründung ist der Berufungsbeklagte auf die Frist für die Berufungsbeantwortung hinzuweisen. Die Fristen zur Begründung der Berufung und zur Berufungsbeantwortung können vom Vorsitzenden einmal auf Antrag verlängert werden, wenn nach seiner freien Überzeugung der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn die Partei erhebliche Gründe darlegt.
(2) Die Bestimmung des Termins zur mündlichen Verhandlung muss unverzüglich erfolgen. § 522 Abs. 1 der Zivilprozessordnung bleibt unberührt; die Verwerfung der Berufung ohne mündliche Verhandlung ergeht durch Beschluss des Vorsitzenden. § 522 Abs. 2 und 3 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung.
(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung umfasst auch die Entschädigung des Gegners für die durch notwendige Reisen oder durch die notwendige Wahrnehmung von Terminen entstandene Zeitversäumnis; die für die Entschädigung von Zeugen geltenden Vorschriften sind entsprechend anzuwenden.
(2) Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Die Kosten mehrerer Rechtsanwälte sind nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. In eigener Sache sind dem Rechtsanwalt die Gebühren und Auslagen zu erstatten, die er als Gebühren und Auslagen eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erstattet verlangen könnte.
(3) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne der Absätze 1, 2 gehören auch die Gebühren, die durch ein Güteverfahren vor einer durch die Landesjustizverwaltung eingerichteten oder anerkannten Gütestelle entstanden sind; dies gilt nicht, wenn zwischen der Beendigung des Güteverfahrens und der Klageerhebung mehr als ein Jahr verstrichen ist.
(4) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne von Absatz 1 gehören auch Kosten, die die obsiegende Partei der unterlegenen Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat.
(5) Wurde in einem Rechtsstreit über einen Anspruch nach Absatz 1 Satz 1 entschieden, so ist die Verjährung des Anspruchs gehemmt, bis die Entscheidung rechtskräftig geworden ist oder der Rechtsstreit auf andere Weise beendet wird.
(1) Gegen das Endurteil eines Landesarbeitsgerichts findet die Revision an das Bundesarbeitsgericht statt, wenn sie in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts oder in dem Beschluß des Bundesarbeitsgerichts nach § 72a Abs. 5 Satz 2 zugelassen worden ist. § 64 Abs. 3a ist entsprechend anzuwenden.
(2) Die Revision ist zuzulassen, wenn
- 1.
eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat, - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder, solange eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtsfrage nicht ergangen ist, von einer Entscheidung einer anderen Kammer desselben Landesarbeitsgerichts oder eines anderen Landesarbeitsgerichts abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 547 Nr. 1 bis 5 der Zivilprozessordnung oder eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht wird und vorliegt.
(3) Das Bundesarbeitsgericht ist an die Zulassung der Revision durch das Landesarbeitsgericht gebunden.
(4) Gegen Urteile, durch die über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung eines Arrests oder einer einstweiligen Verfügung entschieden wird, ist die Revision nicht zulässig.
(5) Für das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Revision mit Ausnahme des § 566 entsprechend.
(6) Die Vorschriften der §§ 46c bis 46g, 49 Abs. 1, der §§ 50, 52 und 53, des § 57 Abs. 2, des § 61 Abs. 2 und des § 63 dieses Gesetzes über den elektronischen Rechtsverkehr, Ablehnung von Gerichtspersonen, Zustellung, Öffentlichkeit, Befugnisse des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, gütliche Erledigung des Rechtsstreits sowie Inhalt des Urteils und Übersendung von Urteilen in Tarifvertragssachen und des § 169 Absatz 3 und 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen bei der Entscheidungsverkündung gelten entsprechend.