Bundesgerichtshof Beschluss, 13. Feb. 2007 - VIII ZB 40/06
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Die Klägerin begehrt Räumung einer Mietwohnung. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. Oktober 2005 zugestellte Urteil am 15. November 2005 form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründungsfrist ist bis zum 19. Januar 2006 verlängert worden. Die - 15 eng beschriebene Seiten umfassende - Berufungsbegründung der Klägerin ist am 20. Januar 2006 beim Berufungsgericht eingegangen. Mit Schriftsatz vom gleichen Tag hat die Klägerin beantragt, ihr gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Fristversäumung beruhe ausschließlich auf einem Versehen einer erfahrenen und zuverlässigen Bürokraft ihres Prozessbevollmächtigten bei der Texterstellung der Berufungsbegründungsschrift. Ihr Prozessbevollmächtigter habe den Schriftsatz wegen seines Umfangs am 18. und 19. Januar 2006 - bis nachmittags - in sieben einzelnen Teilen diktiert. Dies habe einer üblichen, seit langem gehandhabten und bewährten Vorgehensweise des Rechtsanwalts entsprochen. Wie auch sonst bei in mehreren Teilen diktierten Schriftsätzen habe eine Angestellte des Rechtsanwalts für jedes Diktat ein gesondertes Textdokument angelegt und die jeweils vom Anwalt nach Durchsicht angeordneten Korrekturen vorgenommen. Bei der Zusammenfügung der Teildokumente zu einem einheitlichen Schriftsatz seien der Schreibkraft am Computer jedoch Bedienungsfehler unterlaufen, die sie zunächst nicht bemerkt habe. Erst beim Ausdruck des zusammengestellten Textes um 23.35 Uhr habe sie festgestellt, dass etwa die Hälfte des Textes fehlte , hingegen andere Textteile sinnentstellend doppelt vorhanden gewesen seien. Die Suche nach dem zunächst verschwundenen Textteil und die Ordnung der falsch zusammengestellten Textpassagen habe fast eine Stunde in Anspruch genommen und erst am 20. Januar 2006 gegen 0.30 Uhr abgeschlossen werden können. Ein solcher Fehler sei der Angestellten, die mit dem verwendeten Programm vertraut und seit mehreren Jahren im Spätdienst mit derartigen Aufgaben bei fristgebundenen Schriftsätzen befasst sei, noch nie unterlaufen.
- 2
- Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag durch Beschluss vom 28. März 2006 zurückgewiesen und gleichzeitig die Berufung der Klägerin wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt:
- 3
- Die Klägerin sei nicht ohne ihr Verschulden verhindert gewesen, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten, denn die Fristversäumung beruhe auf einem Organisationsverschulden ihres Prozessbevollmächtigten, das sie sich gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse. Die von diesem gewählte Methode, den Schriftsatz aus verschiedenen Textdokumenten zusammenstellen zu lassen, berge von vornherein erhebliche Fehlerquellen, die bei der Behandlung von Fristsachen durch geeignete organisatorische Maßnahmen hätten verhindert werden müssen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte deshalb entweder eine andere Organisation der Erstellung der Berufungsbegründungsschrift wählen oder zum Ausgleich der organisatorischen Schwächen der gewählten Vorgehensweise zusätzlich Zeit einplanen müssen.
II.
- 4
- 1. Die gegen den vorgenannten Beschluss des Landgerichts nach § 575 ZPO form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der Klägerin ist gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig. Der angefochtene Beschluss verletzt die Klägerin in ihrem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, unter II 1 bb m.w.N.).
- 5
- 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
- 6
- Das Berufungsgericht hat der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Unrecht versagt. Die Klägerin war ohne ihr Verschulden verhindert, die vorgenannte Frist einzuhalten (§ 233 ZPO). Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts trifft den Prozessbevollmächtigten der Klägerin kein ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden.
- 7
- a) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Prozessbevollmächtigte einer Partei durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür Sorge zu tragen hat, dass ein fristwahrender Schriftsatz rechtzeitig hergestellt wird und fristgerecht beim zuständigen Gericht eingeht (BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1996 - II ZB 19/96, NJW-RR 97, 562 unter II; Beschluss vom 4. November 2003 - VI ZB 50/03, NJW 2004, 688 unter II 2 a aa, st.Rspr.). Hierzu gehört auch, dass der Anwalt durch rechtzeitiges Diktat eines fristgebundenen Schriftsatzes sicherstellt, dass die weiteren Schritte - Schreiben des Textes, Überprüfung und Unterzeichnung durch den Rechtsanwalt , Übermittlung an das zuständige Gericht - noch innerhalb der Frist erfolgen können.
- 8
- b) Nach dem durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Vortrag der Klägerin ist aber davon auszugehen, dass ihr Prozessbevollmächtigter den vorstehenden Anforderungen gerecht geworden ist und die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung ausschließlich auf einem Verschulden der Rechtanwaltsgehilfin G. beruht, das sich die Klägerin nicht zurechnen lassen muss.
- 9
- Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter die Einzeldiktate der Berufungsbegründung am Nachmittag des 19. Januar 2006 abgeschlossen hatte und deshalb nach der Organisation seines Schreibdienstes davon ausgehen konnte, dass die verbleibende Zeit ausreichen würde, den Schriftsatz unterschriftsreif fertig zu stellen und nach Durchsicht und Unterschrift noch vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zuständige Gericht zu übermitteln. Bei der auch sonst im Spätdienst eingesetzten Angestellten G. handelte es sich nach dem glaubhaft gemachten Vorbringen der Klägerin um eine erfahrene, mit der in der Kanzlei üblichen Verfahrensweise zur Erstellung umfangreicher Schriftsätze und dem dafür verwendeten Programm vertraute Schreibkraft, die auch seit mehreren Jahren darin geübt war, Schriftsätze aus einzelnen Textteilen zusammenzufügen, ohne dass es dabei zu Fehlern gekommen war.
- 10
- Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes liegt ein Organisationsverschulden des Anwaltes nicht darin, dass er - am letzten Tag der Frist - den Schriftsatz nicht "in einem Stück" abfasste. Die von ihm gewählte Methode, den Schriftsatz in einzelnen Teilen zu diktieren, barg nach den getroffenen Vorkehrungen keine Fehlerquellen, die die Einplanung eines größeren Zeitpolsters erfordert hätten, denn es handelt sich dabei für eine in der Textverarbeitung erfahrene Schreibkraft um eine Routineaufgabe.
- 11
- Dem Berufungsgericht kann auch nicht darin gefolgt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seine Sorgfaltspflichten verletzt hat, als gegen 23.35 Uhr der Bedienungsfehler seiner Angestellten offenbar wurde. Zwar hat ein Anwalt bei Ausschöpfung einer Rechtsmittelbegründungsfrist bis zum letzten Tag wegen des damit verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden , um die Einhaltung der Frist sicherzustellen (BGH, Beschluss vom 23. April 1998 - I ZB 2/98, NJW 1998, 2677 unter II; Beschluss vom 23. Juni 2004 - IV ZB 9/04, NJW-RR 2004, 1502 unter II 2; Beschluss vom 9. Mai 2006 - XI ZB 45/04, NJW 2006, 2637 unter II 2 a). Auch gegen diese erhöhten Sorgfaltsanforderungen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach dem glaubhaft gemachten Sachverhalt aber nicht verstoßen. Die vom Berufungsgericht unterstellte Möglichkeit, den Text erneut aus den Einzeldokumenten zusammenzusetzen , bestand danach vor Fristablauf nicht, weil die Angestellte G. zunächst einen wesentlichen Teil des Textes im Schreibsystem nicht wieder finden konnte. Eine entsprechende Anweisung des Rechtsanwaltes, mit der Zusammenfügung der Einzeltexte erneut zu beginnen, wie sie das Berufungs- gericht für erforderlich gehalten hat, hätte deshalb die Einhaltung der Frist nicht sicherstellen können. Ball Dr.Wolst Dr.Frellesen Dr.Koch Dr.Milger
AG Berlin-Charlottenburg, Entscheidung vom 30.09.2005 - 232 C 87/05 -
LG Berlin, Entscheidung vom 28.03.2006 - 64 S 448/05 -
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Annotations
(1) Die von dem Bevollmächtigten vorgenommenen Prozesshandlungen sind für die Partei in gleicher Art verpflichtend, als wenn sie von der Partei selbst vorgenommen wären. Dies gilt von Geständnissen und anderen tatsächlichen Erklärungen, insoweit sie nicht von der miterschienenen Partei sofort widerrufen oder berichtigt werden.
(2) Das Verschulden des Bevollmächtigten steht dem Verschulden der Partei gleich.
(1) Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des Beschlusses durch Einreichen einer Beschwerdeschrift bei dem Rechtsbeschwerdegericht einzulegen. Die Rechtsbeschwerdeschrift muss enthalten:
- 1.
die Bezeichnung der Entscheidung, gegen die die Rechtsbeschwerde gerichtet wird und - 2.
die Erklärung, dass gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde eingelegt werde.
(2) Die Rechtsbeschwerde ist, sofern die Beschwerdeschrift keine Begründung enthält, binnen einer Frist von einem Monat zu begründen. Die Frist beginnt mit der Zustellung der angefochtenen Entscheidung. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend.
(3) Die Begründung der Rechtsbeschwerde muss enthalten:
- 1.
die Erklärung, inwieweit die Entscheidung des Beschwerdegerichts oder des Berufungsgerichts angefochten und deren Aufhebung beantragt werde (Rechtsbeschwerdeanträge), - 2.
in den Fällen des § 574 Abs. 1 Nr. 1 eine Darlegung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2, - 3.
die Angabe der Rechtsbeschwerdegründe, und zwar - a)
die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt; - b)
soweit die Rechtsbeschwerde darauf gestützt wird, dass das Gesetz in Bezug auf das Verfahren verletzt sei, die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben.
(4) Die allgemeinen Vorschriften über die vorbereitenden Schriftsätze sind auch auf die Beschwerde- und die Begründungsschrift anzuwenden. Die Beschwerde- und die Begründungsschrift sind der Gegenpartei zuzustellen.
(5) Die §§ 541 und 570 Abs. 1, 3 gelten entsprechend.
(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken.
(2) Auf die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und auf die Anfechtung der Entscheidung sind die Vorschriften anzuwenden, die in diesen Beziehungen für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Der Partei, die den Antrag gestellt hat, steht jedoch der Einspruch nicht zu.
(3) Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar.
(4) Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.
(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.
(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass
- 1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, - 2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, - 3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und - 4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.
(1) Die von dem Bevollmächtigten vorgenommenen Prozesshandlungen sind für die Partei in gleicher Art verpflichtend, als wenn sie von der Partei selbst vorgenommen wären. Dies gilt von Geständnissen und anderen tatsächlichen Erklärungen, insoweit sie nicht von der miterschienenen Partei sofort widerrufen oder berichtigt werden.
(2) Das Verschulden des Bevollmächtigten steht dem Verschulden der Partei gleich.