Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Juni 2009 - 5 StR 55/09

published on 09/06/2009 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Juni 2009 - 5 StR 55/09
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate
5 StR 55/09

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 9. Juni 2009
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Juni 2009

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten V. wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 30. September 2008 – soweit es diesen Angeklagten betrifft – gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die im Revisionsverfahren entstandenen Kosten und Auslagen und notwendige Auslagen des Nebenklägers aufzuerlegen.
4. Die Sache wird zur Bestimmung einer neuen jugendgerichtlichen Sanktion an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den heranwachsenden Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Führen eines verbotenen Würgeholzes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
2
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3
a) Der zur Tatzeit 19 Jahre alte, aus Vietnam stammende, strafrechtlich nicht vorbelastete Angeklagte V. erreichte in Deutschland den Realschulabschluss. Im August 2007 begann er in Dresden eine Ausbildung zum Koch. Er bewohnt mit seiner Schwester eine eigene Wohnung und schloss sich in seiner Freizeit erstmals anderen vietnamesischen Jugendlichen, insbesondere dem Mitangeklagten N. an und besuchte mit diesen Partys und Diskotheken.
4
b) Mehrere Wochen vor dem 24. Dezember 2007 wurde der Angeklagte von drei deutschen Jugendlichen durch rassistische Pöbeleien beleidigt und mittels einer Bierflasche am Kopf verletzt. Das Landgericht hat dem Angeklagten zugute gehalten, dass die folgenden Taten möglicherweise eine falsche Reaktion auf diese Demütigung waren.
5
aa) Der Angeklagte beteiligte sich am 24. Dezember 2007 an der vom Mitangeklagten N. inszenierten Verletzung des Nebenklägers und dessen Begleiters. Der Angeklagte hatte das von N. herbeigeschaffte Würgeholz auf dessen Weisung übernommen und damit mehrfach auf die linke Körperseite und den Kopf des Nebenklägers geschlagen und ihn weiter getreten und geschlagen. Der Nebenkläger hatte unfreundliche Worte an die Vietnamesen gerichtet und einen Schlagring gezeigt, was bei N. zum Entschluss des bewaffneten Angriffs führte.
6
bb) Am 31. Dezember 2007 machten sich vier deutsche junge Männer im Zug nach Dresden über die Kleidung der Angeklagten und ihrer vietnamesischen Begleiterin lustig. Der Mitangeklagte N. rief im Bahnhof Verstärkung herbei und gab durch einen Schlag mit einer leeren Bierflasche das Kommando zum Losschlagen. Alle sieben anwesenden Vietnamesen umzin- gelten die vier Geschädigten und verletzten sie durch Schläge mit Bierflaschen , der Angeklagte N. auch mit einem Messer.
7
c) Das Landgericht hat beim Angeklagten V. schädliche Neigungen angenommen und die festgesetzte Jugendstrafe im Wesentlichen wie folgt begründet: „Die Kammer hatte zugunsten des Angeklagten V. zu berücksichtigen , dass er strafrechtlich bislang noch nicht in Erscheinung getreten ist und bei ihm nur zwei Taten abgeurteilt wurden. Darüber hinaus hat er sich bei allen Geschädigten ehrlich entschuldigt und hinsichtlich des Geschädigten D. bereits mit der Zahlung von Schmerzensgeld begonnen. Er wird gegenwärtig von seiner Familie derart aufgefangen, dass die Familie in München wieder zusammen lebt und über seinen ordentlichen Lebenswandel wacht. Schließlich hat die Kammer auch berücksichtigt, dass der Angeklagte V. selbst Opfer eines fremdenfeindlichen Angriffs in Dresden geworden ist und die Taten möglicherweise eine – falsche – Reaktion auf diese Demütigung waren. Ganz erheblich zu Lasten des Angeklagten V. war allerdings zu berücksichtigen, dass er aus dem Geschehen vom 10.11.2007, für das er nicht zur Verantwortung gezogen wurde, keine Konsequenzen derart gezogen hat, dass er sich von seiner ‚neuen Dresdner Familie’ distanziert hat. Auch die polizeiliche Feststellung noch in der Tatnacht am 10.11.2007 hat bei ihm nicht dazu geführt, sich von seinem neuen Freund N. künftig fern zu halten“ (UA S. 34 f.).
8
2. Die Begründung für die Annahme von schädlichen Neigungen ist unvollständig und nicht widerspruchsfrei.
9
a) Schädliche Neigungen sind erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel , die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 5 m.w.N.). Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt waren (BGHR aaO m.w.N.). Dass diese Voraussetzungen bei dem nicht vorbestraf- ten Angeklagten vorgelegen hätten, ist nicht ausreichend belegt. Die Annahme des Landgerichts, die Taten seien möglicherweise eine falsche Reaktion auf die ausländerfeindliche Demütigung, steht dem Vorliegen von erheblichen Anlage- und Erziehungsmängeln als Ursache für die Straftaten – ungeachtet freilich der wiederholten Tatbegehung – eher entgegen. Hinzu tritt, dass der Angeklagte bei beiden Taten dem Einfluss des Mitangeklagten N. erlegen ist, was ebenfalls gegen schädliche Neigungen sprechen könnte (vgl. BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 3).
10
b) Das Landgericht hat auch nicht – wie geboten – begründet, dass schädliche Neigungen noch zum Urteilszeitpunkt bestehen und weitere Straftaten befürchten lassen müssen (vgl. BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 5 m.w.N.). Zwar hat die Jugendkammer ausgeführt, dass der Angeklagte nach Begehung der Taten in Dresden nach München verzogen ist und dort zunächst bei vietnamesischen Freunden untergekommen war, „was jedoch nicht lange gut ging“ (UA S. 6), und dass die Staatsanwaltschaft München wegen mehrerer Körperverletzungsdelikte gegen den Angeklagten ermittle und inzwischen Anklage zum Jugendrichter erhoben habe (UA S. 6). Diese bloße Mitteilung über den Verfahrensstand ersetzt indes nicht die gebotene inhaltliche Darstellung und Bewertung der vom Angeklagten begangenen Straftaten, aus denen sich schädliche Neigungen erschließen lassen könnten. Zudem wäre der hiergegen sprechende festgestellte Umstand zu erwägen gewesen, dass der Angeklagte wieder mit seiner Familie in München zusammenlebt und diese zudem über seinen ordentlichen Lebenswandel wacht.
11
3. Die jugendgerichtliche Sanktion bedarf demnach neuer Festlegung. Dies kann maßgeblich auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen geschehen , die bei den hier vorliegenden Wertungsfehlern bestehen bleiben können. Diese sind freilich durch widerspruchsfreie Feststellungen ergänzbar , die jedenfalls zur weiteren persönlichen Entwicklung des Angeklagten erforderlich sein werden. Die Anwendung von Jugendstrafrecht erweist sich indes als zwingend. Angesichts der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat trotz der Zurückverweisung die auf § 74 JGG und § 473 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 2 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt treffen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2009 – 5 StR 57/09 Rdn. 20, zur Aufnahme in BGHR bestimmt).
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

(1) Die Kosten eines zurückgenommenen oder erfolglos eingelegten Rechtsmittels treffen den, der es eingelegt hat. Hat der Beschuldigte das Rechtsmittel erfolglos eingelegt oder zurückgenommen, so sind ihm die dadurch dem Nebenkläger oder dem zum Ansc

Im Verfahren gegen einen Jugendlichen kann davon abgesehen werden, dem Angeklagten Kosten und Auslagen aufzuerlegen.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

(1) Die Kosten eines zurückgenommenen oder erfolglos eingelegten Rechtsmittels treffen den, der es eingelegt hat. Hat der Beschuldigte das Rechtsmittel erfolglos eingelegt oder zurückgenommen, so sind ihm die dadurch dem Nebenkläger oder dem zum Ansc

Im Verfahren gegen einen Jugendlichen kann davon abgesehen werden, dem Angeklagten Kosten und Auslagen aufzuerlegen.
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Annotations

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung.

(2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.

Im Verfahren gegen einen Jugendlichen kann davon abgesehen werden, dem Angeklagten Kosten und Auslagen aufzuerlegen.

(1) Die Kosten eines zurückgenommenen oder erfolglos eingelegten Rechtsmittels treffen den, der es eingelegt hat. Hat der Beschuldigte das Rechtsmittel erfolglos eingelegt oder zurückgenommen, so sind ihm die dadurch dem Nebenkläger oder dem zum Anschluß als Nebenkläger Berechtigten in Wahrnehmung seiner Befugnisse nach § 406h erwachsenen notwendigen Auslagen aufzuerlegen. Hat im Falle des Satzes 1 allein der Nebenkläger ein Rechtsmittel eingelegt oder durchgeführt, so sind ihm die dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten aufzuerlegen. Für die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen der Beteiligten gilt § 472a Abs. 2 entsprechend, wenn eine zulässig erhobene sofortige Beschwerde nach § 406a Abs. 1 Satz 1 durch eine den Rechtszug abschließende Entscheidung unzulässig geworden ist.

(2) Hat im Falle des Absatzes 1 die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel zuungunsten des Beschuldigten oder eines Nebenbeteiligten (§ 424 Absatz 1, §§ 439, 444 Abs. 1 Satz 1) eingelegt, so sind die ihm erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Dasselbe gilt, wenn das von der Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten oder eines Nebenbeteiligten eingelegte Rechtsmittel Erfolg hat.

(3) Hat der Beschuldigte oder ein anderer Beteiligter das Rechtsmittel auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt und hat ein solches Rechtsmittel Erfolg, so sind die notwendigen Auslagen des Beteiligten der Staatskasse aufzuerlegen.

(4) Hat das Rechtsmittel teilweise Erfolg, so hat das Gericht die Gebühr zu ermäßigen und die entstandenen Auslagen teilweise oder auch ganz der Staatskasse aufzuerlegen, soweit es unbillig wäre, die Beteiligten damit zu belasten. Dies gilt entsprechend für die notwendigen Auslagen der Beteiligten.

(5) Ein Rechtsmittel gilt als erfolglos, soweit eine Anordnung nach § 69 Abs. 1 oder § 69b Abs. 1 des Strafgesetzbuches nur deshalb nicht aufrechterhalten wird, weil ihre Voraussetzungen wegen der Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a Abs. 1) oder einer Verwahrung, Sicherstellung oder Beschlagnahme des Führerscheins (§ 69a Abs. 6 des Strafgesetzbuches) nicht mehr vorliegen.

(6) Die Absätze 1 bis 4 gelten entsprechend für die Kosten und die notwendigen Auslagen, die durch einen Antrag

1.
auf Wiederaufnahme des durch ein rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens oder
2.
auf ein Nachverfahren (§ 433)
verursacht worden sind.

(7) Die Kosten der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.