Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Okt. 2010 - 2 StR 331/10

published on 27/10/2010 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Okt. 2010 - 2 StR 331/10
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 331/10
vom
27. Oktober 2010
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und der Beschwerdeführer am 27. Oktober 2010 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revisionen der Angeklagten P. und K. wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 17. Februar 2010 - soweit es diese Angeklagten betrifft - mit den Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hatte diese beiden Angeklagten in einem ersten Urteil wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 132 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren ( K. ) bzw. einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten (P. ) verurteilt.
2
Nach Aufhebung dieses Urteils nur in den Strafaussprüchen durch Beschluss des Senats vom 29. Juli 2009 - 2 StR 91/09 - hat das Landgericht Kassel aufgrund einer am zweiten Verhandlungstag erfolgten Verständigung gegen den Angeklagten K. nunmehr eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten sowie gegen den Angeklagten P. eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verhängt.
3
Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Zu Recht rügen die Beschwerdeführer den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO, weil die gesetzliche Frist von fünf Wochen , in der das vollständige Urteil zu den Akten gebracht werden muss, nicht eingehalten worden ist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO).

I.

4
Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
5
An der Hauptverhandlung gegen die Angeklagten vor der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Kassel nahmen als berufsrichterliche Mitglieder der Vorsitzende Richter am Landgericht D. , der Richter am Landgericht B. als Berichterstatter und der Richter S. teil. Das - am 17. Februar 2010 verkündete - schriftliche Urteil ist zwar bereits am 11. März 2010 und damit vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist am 24. März 2010 bei der Geschäftsstelle eingegangen. Es war jedoch nicht vollständig, weil es nur von zwei Berufsrichtern, dem Vorsitzenden und dem Berichterstatter, unterzeichnet worden ist. Die Unterschrift des weiteren Beisitzers hat der Vorsitzende durch den Vermerk ersetzt: "Richter S. ist nicht mehr am Landgericht tätig und deshalb an der Unterschriftsleistung gehindert". Damit war - wie die Revision zutreffend rügt - die Verhinderung des dritten Richters nicht hinreichend dargetan. Aus dem Vermerk ergibt sich nämlich nicht, ob der Richter S. aus rechtlichen Gründen - etwa wegen Ausscheidens aus dem Justizdienst - oder aber aus tatsächlichen Gründen - etwa wegen einer Versetzung - an der Unterschriftsleistung gehindert war. In Ansehung dessen hat der Vorsitzende auf die dies rügenden Revisionsbegründungen eine dienstliche Stellungnahme abgegeben, in der er ausgeführt hat, der zweite Beisitzer S. sei seit dem 1. März 2010 an das Amtsgericht Bad Arolsen versetzt gewesen. Nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs durch den Berichterstatter am 5. März 2010 und nach Durchsicht des Urteils durch ihn selbst am 10. März 2010 habe er jeweils bei S. angerufen. Dieser habe ihm mitgeteilt, infolge Arbeitsüberlastung beim Amtsgericht und wegen eines noch abzusetzenden umfangreichen Schwurgerichtsurteils bis zum Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist nicht zur Lektüre des Urteils und zur Unterschrift in der Lage zu sein. Weil ihm ein weiteres Zuwarten bis zum Ende der Absetzungsfrist sinnlos erschienen sei und weil es sich zudem hinsichtlich eines nicht revidierenden Mittäters um eine Haftsache gehandelt habe, habe er einen entsprechenden Verhinderungsvermerk betreffend den Richter S. angebracht.

II.

6
Ausweislich dieser dienstlichen Erklärung hielt der Vorsitzende den Richter S. aus tatsächlichen Gründen für an der Unterschriftsleistung gehindert. Dies war hier auch in Anbetracht des einem Vorsitzenden insoweit zustehenden gewissen Beurteilungsspielraums (vgl. dazu Gollwitzer in Löwe/ Rosenberg, 25. Aufl. § 275 Rn. 49 mwN) rechtsfehlerhaft:
7
Zwar kann die Versetzung an ein anderes Gericht - wie hier die Versetzung an das Amtsgericht Bad Arolsen - im Einzelfall der Unterzeichnung des Urteils entgegenstehen (vgl. BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 2 Verhinderung 1 und 3; BGH NStZ-RR 1999, 46; 2003, 288 [B] sowie Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 275 Rn. 23). Auch kann die Überlastung mit anderen Dienstgeschäften grundsätzlich einen Verhinderungsgrund darstellen (Meyer-Goßner aaO Rn. 22 mwN).
8
Voraussetzung ist aber stets, dass sich der Vorsitzende ernsthaft darum bemüht hat, dem in § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO formulierten Gebot, dass das Urteil von allen mitwirkenden Berufsrichtern zu unterschreiben ist, Geltung zu verschaffen. Bei der Unterzeichnung eines Strafurteils handelt es sich nämlich um ein dringliches unaufschiebbares Dienstgeschäft, weshalb der Vorsitzende verpflichtet ist, rechtzeitig organisatorische Vorsorge für die Erfüllung dieser Pflicht zu treffen (BGH NStZ 2006, 586). Hier kommt hinzu, dass der Schuldspruch nach Bestätigung durch den Bundesgerichtshof bereits feststand. Die Urteilsgründe umfassten zwar 113 Seiten, wovon allerdings 3 ½ Seiten auf das Rubrum entfielen und 87 Seiten lediglich ein Abdruck der rechtskräftigen Feststellungen des ersten Durchgangs waren. Weitere 11 Seiten entfallen auf wörtliche Wiedergaben der Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, die bereits im ersten Urteil enthalten waren. Die neue Beweiswürdigung umfasst 3 ½ Seiten, die Strafzumessung für die drei nicht rechtskräftig Verurteilten insgesamt 5 Seiten. Die substantiell neuen Teile der Urteilsgründe umfassten somit insgesamt weniger als 10 Seiten. Vor diesem Hintergrund hätte der Vorsitzende in dem Zeitraum zwischen Urteilsverkündung am 17. Februar 2010 bis zur Umsetzung des Proberichters am 1. März 2010 Absprachen mit diesem zur Sicherstellung der Unterschriftsleistung treffen müssen , was auch dem Beschleunigungsgebot in idealer Weise Rechnung getragen hätte. Jedenfalls aber hätte er nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs durch den Berichterstatter die von dem Proberichter behauptete überlastungsbedingte Verhinderung nicht ohne weiteres hinnehmen dürfen, sondern die behauptete dienstliche Belastung oder Tätigkeit des Proberichters im Hinblick darauf bewerten und gewichten müssen, dass es sich bei der Mitwirkung an der Fertigstellung des Urteils um ein unaufschiebbares Dienstgeschäft handelte. So ist es schlechterdings unvorstellbar, dass der an das Amtsgericht versetzte Richter in dem gesamten Zeitraum gegenüber seiner Pflicht zur Mitwirkung an der Urteils- abfassung vorrangige Dienstgeschäfte wahrzunehmen hatte. Im Ergebnis dieser Überprüfung hätte der Vorsitzende gegenüber dem umgesetzten Richter der Lektüre und Unterzeichnung des Urteilsentwurfs innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Zeit bis zum 24. März 2010 höheres Gewicht geben müssen ; gegebenenfalls hätte er dem Richter einen Urteilsentwurf auch bereits am 5. März 2010 per Fax oder E-Mail zuleiten können, damit diesem ein noch größerer Bearbeitungszeitraum zur Verfügung gestanden hätte. Wenn eine Überprüfung nach diesem Maßstab tatsächlich eine permanente Überbelastung des Proberichters mit dringlicheren Dienstgeschäften ergeben hätte, hätte der Vorsitzende über die Justizverwaltung auf eine Entlastung des Proberichters hinwirken können, die diesem eine Mitwirkung an der Urteilsabfassung ermöglicht hätte. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden ergibt sich, dass er den Maßstab für die Beurteilung der Verhinderung, der sich an der Bedeutung der Mitwirkung der beteiligten Berufsrichter an der Fassung der Urteilsgründe orientiert, verkannt hat.
9
Die Aufhebung des Urteils wegen des Verfahrensmangels erstreckt sich nicht auf den Mitangeklagten C. , der die Rüge nicht erhoben hat (vgl. BGHSt 17, 176, 179).
Fischer Appl Schmitt Eschelbach Ott
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Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, 1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswid

(1) Ist das Urteil mit den Gründen nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden, so ist es unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muß spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen; diese Frist verlängert sich, wenn die Hau
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Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, 1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswid

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Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

(1) Ist das Urteil mit den Gründen nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden, so ist es unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muß spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen; diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat, um zwei Wochen, und wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage gedauert hat, für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen um weitere zwei Wochen. Nach Ablauf der Frist dürfen die Urteilsgründe nicht mehr geändert werden. Die Frist darf nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Der Zeitpunkt, zu dem das Urteil zu den Akten gebracht ist, und der Zeitpunkt einer Änderung der Gründe müssen aktenkundig sein.

(2) Das Urteil ist von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies unter der Angabe des Verhinderungsgrundes von dem Vorsitzenden und bei dessen Verhinderung von dem ältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der Schöffen bedarf es nicht.

(3) Die Bezeichnung des Tages der Sitzung sowie die Namen der Richter, der Schöffen, des Beamten der Staatsanwaltschaft, des Verteidigers und des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, die an der Sitzung teilgenommen haben, sind in das Urteil aufzunehmen.

(4) (weggefallen)