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| Die Berufung des Klägers ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie mit einer ausreichenden Begründung versehen; die ergänzende Bezugnahme des Klägers auf das Vorbringen im Berufungszulassungsverfahren ist zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.06.1998 - 9 C 6.98 -, juris, Rn. 14; Bader, in: ders./Funke-Kaiser u.a., VwGO, 5. Aufl. 2011, § 124a, Rn. 39). |
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| Die Berufung ist auch begründet. Der Abwasserbeitragsbescheid der Beklagten vom 15.08.2013 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamts Calw vom 17.02.2016 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Daher waren die angefochtenen Bescheide aufzuheben und das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern. |
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| Ermächtigungsgrundlage für die Festsetzung des Abwasserbeitrags gegenüber dem Kläger sind § 2 Abs. 1, § 20 Abs. 1, §§ 29 ff. des baden-württembergischen des Kommunalabgabengesetzes (KAG) vom 17. März 2005 i.V.m. den §§ 22 - 36 der Satzung der Beklagten über die örtliche Abwasserbeseitigung (Abwassersatzung - AbwS) vom 25. Juli 2012 (im Folgenden: AbwS 2012). |
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| Nach § 22 Satz 1 AbwS 2012 erhebt die Stadt zur teilweisen Deckung ihres Aufwands für die Anschaffung, Herstellung und den Ausbau der öffentlichen Abwasseranlagen einen Abwasserbeitrag. Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AbwS 2012 unterliegen der Beitragspflicht Grundstücke, für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung festgesetzt ist, wenn sie bebaut oder gewerblich benutzt werden können. Gemäß § 24 Abs. 1 AbwS 2012 ist Beitragsschuldner, wer im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Beitragsbescheids Eigentümer des Grundstücks ist. Der Beitrag bemisst sich nach der Nutzungsfläche (§§ 25 - 31 AbwS 2012), der Beitragssatz ist in § 33 AbwS 2012 geregelt. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 AbwS 2012 entsteht die Beitragsschuld in den Fällen des § 23 Abs. 1, sobald das Grundstück an den öffentlichen Kanal angeschlossen werden kann. Gemäß § 35 wird der Abwasserbeitrag einen Monat nach Bekanntgabe des Abgabebescheids fällig. |
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| Unter Zugrundelegung dieser Vorschriften steht die rechnerisch richtige Ermittlung und Festsetzung des Abwasserbeitrags für die klägerischen Grundstücke Flst.-Nrn. ... und ... (R... Weg ...) nicht in Streit; der Senat hat auch keine Anhaltspunkte für eine rechtswidrige Anwendung der § 2 Abs. 1, § 20 Abs. 1, §§ 29 ff. KAG i.V.m. den §§ 22 - 36 AbwS 2012. |
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| 1. Für die mit dem angefochtenen Bescheid veranlagten Grundstücke des Klägers ist die abstrakte Beitragsschuld am 01.10.2012 entstanden, weil erst an diesem Tag die hierfür erforderliche satzungsrechtliche Grundlage - die §§ 22 - 36 AbwS 2012 der Beklagten - in Kraft getreten ist (vgl. § 51 Abs. 3 Satz 1 AbwS 2012). Für das Entstehen der abstrakten Beitragsschuld ist es unschädlich, dass die tatsächliche Anschlussmöglichkeit - wie vom Verwaltungsgericht zu Recht herausgearbeitet - bereits (ungefähr) seit der Jahreswende 1989/1990 und damit lange vor dem Inkrafttreten der AbwS 2012 der Beklagten bestanden hat. Denn es ist nicht erforderlich, dass die tatsächliche Vorteilslage (erst) unter der zeitlichen Geltung einer Wasserversorgungssatzung geschaffen wird. Solange zwar in tatsächlicher Hinsicht eine Anschlussmöglichkeit - und damit eine potentielle Vorteilslage - besteht, aber (noch) keine satzungsrechtliche Grundlage für eine Beitragserhebung existiert, kann keine Beitragsschuld entstehen. In einem solchen Fall entsteht die Beitragsschuld erst mit der Schaffung der für eine Beitragserhebung erforderlichen satzungsrechtlichen Grundlage (vgl. Senatsurteil vom 14.03.1996 - 2 S 1560/93 -, juris, Rn. 19). Dies gilt nicht nur dann, wenn frühere Satzungen nichtig waren, sondern auch dann, wenn früher überhaupt keine öffentlich-rechtliche Abgabensatzung existiert hat. Denn das Entstehen der abstrakten Beitragsschuld setzt neben dem Vorhandensein einer nutzbaren öffentlichen Einrichtung und einem bebaubaren Grundstück, das tatsächlich und rechtlich an diese Einrichtung angeschlossen werden kann, das Vorhandensein einer wirksamen Beitragssatzung voraus (vgl. Senatsurteil vom 27.02.1992 - 2 S 1328/90 -, juris, Rn. 18 f.). Erst wenn diese drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, entsteht die abstrakte Beitragsschuld (vgl. Senatsurteil vom 31.03.2014 - 2 S 2366/13 -, juris, Rn. 29). |
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| 2. Entgegen der Auffassung des Klägers ist vorliegend auch die Festsetzungsverjährung nicht eingetreten. |
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| Der Senat teilt in diesem Zusammenhang nicht die Rechtsauffassung des Klägers, dass die Beklagte mangels rechtswirksamer Nichtigkeitsfeststellung der AbwS 1984 verpflichtet gewesen wäre, trotz erkannter Ungültigkeit deren Wirksamkeit in einem Festsetzungsverfahren mit der Folge zu unterstellen, dass daran anknüpfend die Festsetzungsverjährung hätte eintreten können. Denn entgegen der Auffassung des Klägers kann sich die Ungültigkeit einer Satzung nicht - gewissermaßen fiktiv - auf die Verjährung auswirken (vgl. Senatsurteile vom 28.09.1995 - 2 S 3068/94 - und - 2 S 3062 S 3069/94 -, juris, Rn. 27), weil der Lauf der Verjährungsfrist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO an das Entstehen der abstrakten Beitragsschuld anknüpft (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.1993 - 8 C 59.91 -, juris, Rn. 17; Senatsurteile vom 21.04.1994 - 2 S 1854/92 -, juris, Rn. 31 und vom 19.09.2002 - 2 S 976/02 -, juris, Rn. 17; ThürOVG, Beschluss vom 28.08.2008 - 4 EO 405/08 -, juris, Rn. 4; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in BW, Bd. 1, § 3 KAG, Rn. 27 [Stand August 2016]). |
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| Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO beträgt die Festsetzungsfrist vier Jahre. Sie beginnt gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Abgabe entstanden ist, und endet im Falle der Ungültigkeit einer Satzung nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntmachung einer neuen Satzung. Da die abstrakte Beitragsschuld hier erst am 01.10.2012 entstanden ist, begann der Lauf der Festsetzungsfrist mit Beginn des Jahres 2013. Nachdem der angefochtene Bescheid bereits am 15.08.2013 erlassen und dem Kläger am 17.08.2013 zugestellt worden ist, ist Festsetzungsverjährung vorliegend nicht eingetreten. |
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| Die angefochtenen Bescheide sind hier aber deswegen rechtswidrig, weil die Heranziehung des Klägers zu dem Abwasserbeitrag gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 -, BVerfGE 133, 143-163). Der Senat hat inzwischen (anders als noch im Urteil vom 31.03.2014 - 2 S 2366/13 -, juris, Rn. 23) Bedenken, ob das baden-württembergische Kommunalabgabengesetz, soweit es nach dem Eintritt der Vorteilslage eine zeitlich unbegrenzte Heranziehung erlaubt, ohne gesetzliche Bestimmung einer zeitlichen Höchstgrenze für die Beitragserhebung dem genannten verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit entspricht (zweifelnd ebenfalls: Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in BW, Bd. 1, § 32 KAG, Rn. 3 [Stand Oktober 2014] sowie Driehaus, KStZ 2014, 181, 182, dazu im Folgenden 1.). Diese Bedenken kommen jedoch vorliegend nicht entscheidungserheblich zum Tragen, weil die Heranziehung des Klägers unabhängig davon schon gegen den auch im Verwaltungsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben verstößt (dazu 2.). |
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| „entsteht die Beitragsschuld, sobald das Grundstück an die Einrichtung (§ 20 Abs. 1 KAG) oder den Teil der Einrichtung (§ 29 Abs. 1 KAG) angeschlossen werden kann, in den Fällen des § 29 Abs. 2 KAG in dem Zeitpunkt, der in der ortsüblichen Bekanntgabe als Zeitpunkt der technischen Fertigstellung des Ausbaus genannt ist, in den Fällen des § 29 Abs. 3 KAG mit dem Eintritt der Änderung in den Grundstücksverhältnissen, frühestens jedoch mit In-Kraft-Treten der Satzung. Die Satzung kann einen späteren Zeitpunkt bestimmen.“ |
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| Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG |
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| „sind auf die Kommunalabgaben die folgenden Bestimmungen der Abgabenordnung sinngemäß anzuwenden, soweit sie sich nicht auf bestimmte Steuern beziehen und soweit nicht dieses Gesetz besondere Vorschriften enthält: (...) |
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| Nr. 4c) aus dem Vierten Teil - Durchführung der Besteuerung - über die Festsetzungs- und Feststellungsverfahren (...) § 170 Abs. 1 bis 3, § 171 Abs. 1 bis 3, Abs. 3a mit der Maßgabe, dass im Falle der Ungültigkeit einer Satzung die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntmachung einer neuen Satzung endet (...).“ |
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| Die Regelung des § 32 Abs. 1 KAG erlaubt, Beiträge zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage festzusetzen. Denn ohne wirksame Satzung - und auf eine solche kommt es nach oben unter II. Gesagtem an - kann eine Beitragsschuld nicht entstehen und deshalb eine daran anknüpfende Verjährungsfrist auch nicht in Lauf gesetzt werden. Das baden-württembergische Landesrecht setzt der Erhebung von Beiträgen, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollen, derzeit keine bestimmte zeitliche Höchstgrenze, falls die maßgeblichen Satzungen - wie hier - zunächst nichtig waren und erst später durch eine rechtswirksame Satzung ersetzt worden sind. Es lässt damit in diesen Fällen - entgegen dem verfassungsrechtlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit - das berechtigte Interesse des Bürgers, in zumutbarer Zeit Klarheit darüber zu gewinnen, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss, unberücksichtigt (ebenso für die vergleichbare Rechtslage in Mecklenburg-Vorpommern: BVerwG, Urteil vom 15.04.2015 - 9 C 19.14 -, juris, Rn. 10). Der Gesetzgeber hat damit keinen Ausgleich zwischen der Erwartung der Beitragspflichtigen auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung und dem berechtigten öffentlichen Interesse an einem finanziellen Beitrag für die Erlangung individueller Vorteile aus dem Anschluss an die Entwässerungsanlage getroffen. Dies begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken. |
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| In seinem Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 - hat das Bundesverfassungsgericht Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des Bayerischen Kommunalabgabengesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom 28.12.1992 (im Folgenden BayKAG) wegen eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit als wesentlichem Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips für verfassungswidrig erklärt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 -, BVerfGE 133, 143-163, juris, Rn. 40). Dort war folgendes geregelt: |
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| „Soweit gesetzlich nicht anders bestimmt, sind in ihrer jeweils geltenden Fassung vorbehaltlich Absatz 6 folgende Bestimmungen der Abgabenordnung entsprechend anzuwenden: |
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| Nr. 4b) cc) aus dem Vierten Teil - Durchführung der Besteuerung - über das Festsetzungs- und Feststellungsverfahren § 170 Abs. 1 mit der Maßgabe, |
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| - dass die Festsetzungsfrist dann, wenn die Forderung im Zeitpunkt des Entstehens aus tatsächlichen Gründen noch nicht berechnet werden kann, erst mit Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem die Berechnung möglich ist und - dass im Fall der Ungültigkeit einer Satzung die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Kalenderjahres zu laufen beginnt, in dem die gültige Satzung bekanntgemacht worden ist, (...).“ |
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| Zu dieser Regelung hat das Bundesverfassungsgericht Folgendes ausgeführt (a.a.O., juris, Rn. 41 ff.): |
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| „Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug. Die Bürgerinnen und Bürger sollen die ihnen gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. Dabei knüpft der Grundsatz des Vertrauensschutzes an ihr berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen an. Er besagt, dass sie sich auf die Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet darüber hinaus aber unter bestimmten Umständen Rechtssicherheit auch dann, wenn keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen. Es schützt in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Als Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eng miteinander verbunden, da sie gleichermaßen die Verlässlichkeit der Rechtsordnung gewährleisten. |
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| Für die Auferlegung einer Beitragspflicht zum Vorteilsausgleich in Anknüpfung an zurückliegende Tatbestände ist die Regelung einer Verjährung als abschließende Zeitgrenze, bis zu der Beiträge geltend gemacht werden können, verfassungsrechtlich geboten. Dem Gesetzgeber obliegt es, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an Beiträgen für solche Vorteile einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann. |
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| Ausdruck der Gewährleistung von Rechtssicherheit sind auch Verjährungsregelungen. Sie sollen sicherstellen, dass Einzelne nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht mehr mit Forderungen überzogen werden. Die Verjährung von Geldleistungsansprüchen der öffentlichen Hand soll einen gerechten Ausgleich zwischen dem berechtigten Anliegen der Allgemeinheit an der umfassenden und vollständigen Realisierung dieser Ansprüche auf der einen Seite und dem schutzwürdigen Interesse der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite bewirken, irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend disponieren zu können. Während das staatliche Interesse an der vollständigen Durchsetzung von Geldleistungspflichten vornehmlich von den Grundsätzen der richtigen Rechtsanwendung und der materiellen Gerechtigkeit (Belastungsgleichheit) sowie von fiskalischen Erwägungen getragen wird, steht dem auf Seiten der Bürger das Prinzip der Rechtssicherheit gegenüber. Dabei ist es den Verjährungsregelungen eigen, dass sie ohne individuell nachweisbares oder typischerweise vermutetes, insbesondere ohne betätigtes Vertrauen greifen. Sie schöpfen ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit vielmehr aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit, demzufolge Einzelne auch gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürfen, irgendwann nicht mehr mit einer Geldforderung überzogen zu werden, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen hat. |
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| Auch für die Erhebung von Beiträgen, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollen, ist der Gesetzgeber verpflichtet, Verjährungsregelungen zu treffen oder jedenfalls im Ergebnis sicherzustellen, dass diese nicht unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. (...) |
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| Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es dem Gesetzgeber jedoch, die berechtigten Interessen des Bürgers völlig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen, die der Erhebung der Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt.“ |
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| Ebenso wie die vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 05.03.2013 für verfassungswidrig erklärte bayerische Regelung erlaubt § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG nach dem Eintritt der Vorteilslage die zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Beiträgen. Insofern sind die beiden Regelungen miteinander vergleichbar (in diese Richtung schon Senatsurteil vom 31.03.2014 - 2 S 2366/13 -, juris, Rn. 23). Dass § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG im Gegensatz zu Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG eine Regelung zum Ende der Festsetzungsfrist und nicht zum Fristbeginn trifft, dürfte angesichts des jeweils maßgeblichen Anknüpfungspunkts an die Bekanntmachung einer gültigen Satzung nichts an dem vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Umstand ändern, dass der Gesetzgeber damit den Ausgleich zwischen der Erwartung der Beitragspflichtigen auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung und dem berechtigten öffentlichen Interesse an einem finanziellen Beitrag für die Erlangung individueller Vorteile aus dem Anschluss an die Entwässerungsanlage verfehlt und in verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbarer Weise einseitig zu Lasten der Beitragsschuldner entschieden hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 -, BVerfGE 133, 143-163, juris, Rn. 40). |
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| Die Bedenken des Senats gegen das Fehlen einer gesetzlichen Höchstgrenze der Beitragsheranziehung werden bestätigt durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 03.09.2013 (- 1 BvR 1282/13 -, juris) und vom 12.11.2015 (- 1 BvR 2961/14 -, juris). Beide Entscheidungen betreffen § 8 Abs. 7 Satz 2 des KAG Brandenburg in der Fassung vom 17.12.2003, welcher - insoweit mit § 32 Abs. 1 KAG vergleichbar - bestimmt, dass die Beitragspflicht frühestens mit dem Inkrafttreten der rechtswirksamen Satzung entsteht, wobei die Satzung einen späteren Zeitpunkt bestimmen kann. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die brandenburgische Regelung wegen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot für verfassungswidrig erklärt und stellt sich dieses Rückwirkungsproblem nach der baden-württembergischen Rechtslage nicht, weil nach dem KAG Baden-Württemberg für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht - anders als nach brandenburgischer Rechtslage (dazu BVerfG, Beschluss vom 12.11.2015 - a.a.O., Rn. 45 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg) - seit jeher nicht die erste Beitragssatzung mit formellem Geltungsanspruch, sondern die erste rechtswirksame Beitragssatzung maßgeblich ist (vgl. Senatsurteile vom 27.02.1992 - 2 S 1328/90 -, juris, Rn. 18 und vom 31.03.2014 - 2 S 2366/13 -, juris, Rn. 27), mit der Konsequenz, dass auch die Festsetzungsverjährung erst mit Inkrafttreten einer rechtswirksamen Satzung zu laufen beginnt. § 32 Abs. 1 KAG eröffnet damit, anders als § 8 Abs. 7 Satz 2 des KAG Brandenburg i.d.F. vom 17.12.2003, nicht die vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Möglichkeit, einen Beitragsschuldner trotz eingetretener Festsetzungsverjährung erneut zu einem Beitrag heranzuziehen. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 03.09.2013 (- 1 BvR 1282/13 -, juris, Rn. 6) bestätigt, dass auch die mit § 32 Abs. 1 KAG vergleichbare Regelung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Brandenburg unabhängig von dem dargestellten Rückwirkungsproblem deshalb verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, weil sie eine zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Beiträgen nach Erlangung des Vorteils ermöglicht. |
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| Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es, die Interessen des Bürgers völlig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen, die der Erhebung einer Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143, juris, Rn. 42 ff.). Dies gilt - unabhängig von dem vom Bundesverfassungsgericht konkret entschiedenen Fall - für das gesamte Beitragsrecht (BVerwG, Urteil vom 15.04.2015 - 9 C 19.14 -, juris, Rn. 9). |
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| Danach ist es Aufgabe des Gesetzgebers, in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen einerseits der Allgemeinheit an der Beitragserhebung und andererseits der Beitragspflichtigen an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme zu schaffen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt maßgeblich darauf ab, dass es dem Gesetzgeber trotz seines weiten Gestaltungsspielraums verboten ist, ganz von einer zeitlichen Begrenzung abzusehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143, juris, Rn. 46 sowie unter expliziter Herausarbeitung der tragenden Rechtssätze des Bundesverfassungsgerichts: BVerwG, Beschluss vom 08.03.2017 - 9 B 19.16 -, juris, Rn. 43 f.). Dementsprechend hatte die Verfassungsbeschwerde im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Verfahren auch nicht wegen der im dortigen Fall zwischen der Vorteilserlangung und der beitragsrechtlichen Heranziehung verstrichenen Zeit, sondern deshalb Erfolg, weil im bayerische Landesrecht überhaupt keine zeitliche Grenze für die Abgabenerhebung bestimmt war (so unter expliziter Herausarbeitung der tragenden Rechtssätze des Bundesverfassungsgerichts: BVerwG, Urteil vom 15.04.2015 - 9 C 19.14 -, juris, Rn. 17). |
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| Ausgehend hiervon steht dem Gesetzgeber bei der Wahrnehmung seines Gestaltungsauftrages eine Vielzahl von Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 -, BVerfGE 133, 143-163, juris, Rn. 49 f.). Zur Bestimmung der erforderlichen Höchstgrenze dürfte ein schematischer Rückgriff auf die 30-jährige Verjährungsfrist des § 53 Abs. 2 Satz 1 LVwVfG allerdings ausscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.2015 - 9 C 19.14 -, juris, Rn. 13; BVerwG, Beschluss vom 08.03.2017 - 9 B 19.16 -, juris, Rn. 45). |
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| Soweit sich die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts auf die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden verfassungsrechtlichen Gebote beziehen, kommt ihnen gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG Bindungswirkung auch für das vorliegende Verfahren zu (vgl. Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 31, Rn. 58 f. m.w.N.; Lechner/Zuck, BVerfGG, 6. Aufl. 2011, § 31, Rn. 30 m.w.N.). Die Bindungswirkung reicht jedoch nicht so weit, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit bzw. Unvereinbarkeit einer Norm sowie daran anknüpfender Folgen zugleich auch inhaltsgleiche oder -ähnliche Normen anderer Gesetzgeber erfasst. Diese bleiben unberührt und sind u.a. von den Gerichten zu beachten, die hierbei jedoch an die Auslegung und Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht gebunden sind. Daraus folgt, dass eine inhaltsgleiche Norm dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG oder dem Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg nach Art. 68 Abs. 1 Nr. 3 LV vorzulegen ist, falls die Zugrundelegung der bindenden verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Annahme auch ihrer Verfassungswidrigkeit führt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.05.2017 - 9 B 71.16 -, juris, Rn. 7 m.w.N.). |
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| Gleichwohl ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht oder an den Verfassungsgerichtshof nicht geboten, wenn es auf die Wirksamkeit einer Norm in dem konkreten Verfahren nicht entscheidungserheblich ankommt. In einem solchen Fall wäre die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG bzw. nach Art. 68 Abs. 1 Nr. 3 LV bereits unzulässig (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 100, Rn. 16 m.w.N.; Oebbecke, in: Christ/Oebbecke, Handbuch Kommunalabgabenrecht, 2016, B, Rn. 57). So liegt es hier. |
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| 2. Denn unabhängig von der Unzulässigkeit der gerichtlichen Bestimmung der erforderlichen Höchstgrenze ist die (nicht schematische) Anwendung des Grundsatzes unzulässiger Rechtsausübung im konkreten Einzelfall - so auch hier - zulässig und geboten. Die Gerichte sind unabhängig vom Bestehen eines gesetzgeberischen Gestaltungsauftrags dazu berufen, dem Verfassungsrecht bei der Anwendung des einfachen Gesetzesrechts im Einzelfall zur Geltung zu verhelfen. Dies gilt auch dann, wenn dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Aufgabe, in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen einerseits der Allgemeinheit an der Beitragserhebung und andererseits der Beitragspflichtigen an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme zu schaffen, mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich herbeizuführen (vgl. OVG Nordrh.-Westf., Urteil vom 24.11.2017 - 15 A 1812/16 -, juris, Rn. 73; OVG Rheinl.-Pf., Urteil vom 06.11.2017 - 6 A 11831/16 -, juris, Rn. 36 ff.; Martensen, LKV 2014, 446, 450; ähnlich unter Betonung von Gründen des Vertrauensschutzes Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in BW, Bd. 1, § 2 KAG, Rn. 14 [Stand November 2012]). |
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| Der Grundsatz von Treu und Glauben gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts (vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 14. April 1978 - 4 C 6.76 -, vom 16. Mai 2000 - 4 C 4.99 - und vom 20.03.2014 - 4 C 11.13 -, jeweils juris; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 53, Rn. 41 und Rn. 57). Unabhängig von der Frage, ob sich durch seine Anwendung die Anforderungen des rechtsstaatlichen Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit und damit die Verfassungsmäßigkeit der in Rede stehenden Regelungen des baden-württembergischen KAG sicherstellen lassen, ist die Erhebung eines Abwasserbeitrags jedenfalls dann unzulässig, wenn sie im konkreten Einzelfall gegen Treu und Glauben verstößt. |
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| Der Grundsatz von Treu und Glauben wird anhand von Fallgruppen konkretisiert. Neben der - vorliegend schon aus tatsächlichen Gründen nicht gegebenen - Fallgruppe der Verwirkung (dazu a), deren Anwendbarkeit im Abwasserbeitragsrecht offen bleiben kann (kritisch für das Sanierungsrecht insoweit BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11/13 -, juris, Rn. 30), kann die Geltendmachung eines Rechts auch nach der Fallgruppe der unzulässigen Rechtsausübung ausgeschlossen sein (dazu b). |
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| a) Die Annahme der Verwirkung eines Rechts setzt voraus, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und dass besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment), was insbesondere dann der Fall ist, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und er sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.02.1974 - III C 115.71 -, juris, Rn. 18; BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11/13 -, juris, Rn. 30; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 53, Rn. 23; Engels, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2014, § 53, Rn. 13; Ziekow, VwVfG, 3. Aufl. 2013, § 53, Rn. 23). |
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| Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben, denn unabhängig von der Frage des Vorliegens des ausreichenden Zeitmoments fehlt es jedenfalls am Vorliegen des Umstandsmoments, denn der Kläger hat schon nicht substantiiert dargelegt, dass er infolge eines Verhaltens der Beklagten darauf vertraut hat, dass die Beklagte das Recht zur Beitragserhebung nicht mehr geltend machen würde und er im Vertrauen auf deren langjährige Untätigkeit schutzwürdige Dispositionen getroffen hat. Derartiges ist auch sonst nicht ersichtlich. |
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| b) Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung ist eine von Amts wegen zu berücksichtigende Einwendung, die der Erhebung eines Abwasserbeitrags auch dann entgegensteht, wenn sich der Betroffene hierauf nicht beruft. Dieser Einwand greift dabei nicht erst dann ein, wenn seit dem Entstehen der Vorteilslage mehr als 30 Jahre vergangen sind. Vielmehr kann die Beitragserhebung nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls auch schon zuvor treuwidrig sein und eine unzulässige Rechtsausübung darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11.13 -, juris, Rn. 34). |
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| Die Ausübung eines Rechts kann unzulässig sein, wenn dem Berechtigten eine Verletzung eigener Pflichten zur Last fällt und die Ausübung des Rechts aufgrund dieser eigenen Pflichtenverletzung treuwidrig erscheint. Treuwidrig ist die Abgabenerhebung, wenn es aufgrund einer Pflichtverletzung der Gemeinde unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls nicht mehr zumutbar erscheint, den Bürger mit der Beitragserhebung zu konfrontieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11.13 -, juris, Rn. 31). Für die Annahme einer Treuwidrigkeit reicht zwar - wie bei der Fallgruppe der Verwirkung - jeweils für sich genommen weder ein längerer Zeitablauf aus noch eine bloße Untätigkeit der Gemeinde noch das Vorliegen rein interner Organisationsmängel, wie z.B. ungenügender Personaleinsatz oder die haushaltsrechtswidrige Nichterhebung fälliger Kommunalabgaben (entsprechend zur Verwirkung vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 53, Rn. 24 m.w.N.; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 53, Rn. 46 f.). In ihrer Kumulation können die Pflichtverletzungen jedoch ein solches Maß an Pflichtwidrigkeit annehmen, dass die Rechtsausübung - vor allem nach Vergehen einer langen Zeit zwischen dem Eintritt der Vorteilslage und der Beitragserhebung - unabhängig von einem konkret betätigten Vertrauen des Betroffenen unzulässig sein kann, insbesondere wenn sich das pflichtwidrige Verhalten der Gemeinde negativ auf Rechte oder Rechtsgüter des betroffenen Bürgers ausgewirkt haben kann. Die Pflichtverletzung der Gemeinde kann dabei auch in einem qualifizierten Unterlassen bestehen. Wann das der Fall ist, muss nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Zugrunde zu legen ist dabei ein enger Maßstab (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11.13 -, juris, Rn. 31 f.; Senatsurteile vom 27.01.2015 - 2 S 1840/14 -, juris, Rn. 46 f., vom 20.03.2015 - 2 S 1327/14 -, juris, Rn. 53 f. und vom 21.06.2017 - 2 S1946/16 -, juris, Rn. 53 f.). |
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| Nach diesen Maßstäben ist die Beitragserhebung der Beklagten vorliegend als treuwidrig anzusehen, denn der Beklagten fallen mehrere lang andauernde, zum Teil qualifizierte Pflichtverletzungen zur Last (dazu unten bb), die es nach einer Gesamtwürdigung der Umstände des konkreten Einzelfalls nicht mehr als zumutbar erscheinen lassen, den Kläger zu dem mit Beitragsbescheid vom 15.08.2013 festgesetzten Abwasserbeitrag in Höhe von 7.395,90 EUR heranzuziehen (dazu unten cc). Auf die - letztendlich bis zur professionellen internen und externen Aufarbeitung im Jahr 2009 - jahrzehntelang bestehenden Missstände der Verwaltung der Beklagten im Bereich des Wasser-/Abwasserbeitragswesens (dazu im Einzelnen sogleich aa) hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe bereits im Urteil vom 11.09.2014 (- 2 K 2326/13 -, juris, Rn. 20) hingewiesen. Sie sind zwischen den Beteiligten auch unstreitig. |
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| aa) Nach den vorliegenden Unterlagen und den Angaben der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass im Bereich des Wasser-/Abwasserbeitragswesens der Beklagten insbesondere in folgenden Bereichen erhebliche langjährige Missstände bestanden: |
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| - Abwassersatzungsrecht, insbesondere mit Blick auf die fehlerhafte Globalberechnung, - Art und Weise der Beitragserhebung im Gemeindegebiet, - Aktenführung und Dokumentation, - verwaltungsinterner Organisationsmangel durch unzureichende Personalausstattung der Stadtkämmerei. |
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| (1) Langjährige Mängel des Wasser-/Abwasserbeitragswesens der Beklagten bestanden bis zur Schaffung neuen Satzungsrechts am 25.07.2012 in deren Abwassersatzungsrecht. Zu Recht geht die Beklagte insoweit davon aus, dass ihre Satzung über die öffentliche Abwasserbeseitigung vom 25. Juli 1984 (im Folgenden: AbwS 1984) unwirksam war. Zwar lag dieser Satzung entsprechend der Rechtsprechung des Senats eine Globalberechnung zugrunde. Diese war aber unzureichend, da die bis 1993 prognostizierten Herstellungskosten (Teilbetrag Abwasserkanal und biologischer Teil Klärwerk) unzutreffend berechnet waren. Mangels ordnungsgemäßer Kalkulationsgrundlage und fehlender Ermessensausübung des Gemeinderats hinsichtlich einzelner Aspekte der Globalberechnung litt die AbwS 1984 an einem zu ihrer Nichtigkeit führenden Mangel (vgl. Senatsbeschlüsse vom 17.07.1984 - 2 S 1352/81 -, BWVPr 1984, 278, vom 27.11.1989 - 2 S 2097/89 -, VBlBW 1990, 306 und vom 14.05.1990 - 2 S 1372/88 -, juris, Rn. 17; Birk, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Teil III, § 8 [Beiträge] Stand: Mrz. 2006, Rn. 674). Dass dies in Bezug auf die konkrete Satzung der Beklagten bislang gerichtlich nicht festgestellt wurde, ändert nichts an der Nichtigkeit der AbwS 1984, denn diese Folge tritt eo ipso ein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.05.1993 - 4 N 2.92 -, juris, Rn. 17; v. Albedyll, in: Bader u.a., VwGO, 5. Aufl. 2011, § 47, Rn. 119). |
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| Auf die Fehlerhaftigkeit der Globalberechnung 1984 wurde die Beklagte erstmals bereits im Prüfungsbericht der Gemeindeprüfungsanstalt Baden-Württemberg (im Folgenden: GPA) vom 04.02.1991 hingewiesen und zur Überarbeitung mit anschließender erneuter Beschlussfassung des Gemeinderats aufgefordert (Rn. 25, 27). Weitere entsprechende Hinweise und Aufforderungen folgten in den Prüfungsberichten der GPA vom 30.09.1993 (Rn. 30) und vom 19.02.1996 (Rn. 34). Im Prüfungsbericht der GPA vom 15.12.1999 wurde die Untätigkeit der Beklagten erneut gerügt und sie eindringlich und unter Hinweis „auf das bereits seit Jahren bestehende erhebliche Prozessrisiko“ zur alsbaldigen Aktualisierung der Globalberechnung aufgefordert (a.a.O, Rn. 50). Eine solche unterblieb bis zur Fortschreibung im Jahr 2007. |
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| Bereits nach Kenntnisnahme des Prüfungsberichts vom 04.02.1991 erließ die Beklagte bewusst keine auf die AbwS 1984 gestützten Beitragsbescheide mehr. Vielmehr hob sie - wie sich S. 21 der Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung des Gemeinderats am 08.02.2012 entnehmen lässt - auf Anraten ihres damaligen Bevollmächtigten mit Blick auf die fehlende Fortschreibung der Globalberechnung 1984 auf den Widerspruch eines Betroffenen hin bereits im Jahr 1993 einen Abwasserbeitragsbescheid auf. |
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| Demnach war der Beklagten spätestens nach Kenntnisnahme des Prüfungsberichts der GPA vom 04.02.1991 bewusst, dass keine gültige Abwassersatzung vorlag. Gleichwohl unterließ sie es, die gebotene Globalberechnung 1984 fortzuschreiben und auf dieser Grundlage gültiges Satzungsrecht zu schaffen. Zwar mag von Treuwidrigkeit nicht immer schon dann auszugehen sein, wenn die Gemeinde eine als ungültig erkannte Satzung pflichtwidrig nicht zeitnah aufhebt (so BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11.13 -, juris, Rn. 32 zur entgegen § 162 Abs. 1 BauGB nicht rechtzeitig erfolgten Aufhebung einer Sanierungssatzung). Jedoch weist der vorliegende Einzelfall die Besonderheit auf, dass die Beklagte zur Überzeugung des Senats die Missstände in ihrem Abwasserwesen zumindest im Zeitraum von 1991 (nach Kenntnisnahme des Prüfungsberichts der GPA vom 04.02.1991) bis etwa Herbst 2009 (öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung ihres Abwasserwesens) trotz z.T. eindringlicher Aufforderungen der GPA - etwa mit Prüfungsbericht vom 15.12.1999 - fortbestehen ließ. Auch nach Kenntnisnahme des Prüfungsberichts der GPA vom 22.03.2007 änderte sich zunächst nichts (vgl. dazu auch unten (4). In diesem Prüfungsbericht ist auf S. 63 ausgeführt: |
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| „Die Prüfung hat sich schwerpunktmäßig auf den Stand der Veranlagungen bei den Anschlussbeiträgen erstreckt. |
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| Dabei hat sich gezeigt, dass aufgrund der seit Jahrzehnten in diesem Bereich unzureichenden Aktenführung und Dokumentation der Stand der Beitragserhebung nicht abschließend ermittelt werden konnte. Die Prüfung wurde auch dadurch erschwert, dass der für die Beitragsveranlagung zuständige Stadtkämmerer wenig zur Sachverhaltsaufklärung beitragen konnte. Nach dem bei der Prüfung gewonnenen Eindruck lässt sich allerdings folgendes feststellen: |
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| Aufgrund der vorgefundenen Aktenlage ist davon auszugehen, dass die Anschlussbeiträge von der Stadt in der Vergangenheit nicht vollständig und satzungsgemäß erhoben worden sind. In vielen Fällen wurde der Beitrag entgegen der satzungsrechtlichen Regelung im beplanten oder unbeplanten Innenbereich erst beim tatsächlichen Anschluss des Anwesens an die Kanalisation bzw. Wasserversorgung erhoben. Von den Beitragspflichtigen wurde dann in Einzelfällen geltend gemacht, dass die Festsetzungsverjährung bereits eingetreten sei (z.B. Entwässerungsbeitrag für die FlSt.-Nr. ..., ...), woraufhin die Beitragsbescheide aufgehoben werden mussten. Andererseits wurden im Prüfungszeitraum aufgrund der unzureichenden Dokumentation auch Grundstücke veranlagt, die bereits in früheren Jahren schon einmal zum Anschlussbeitrag für die Wasserversorgung oder Abwasserbeseitigung herangezogen worden waren. Aufgrund von Widersprüchen der Beitragspflichtigen mussten diese Veranlagungen ebenfalls wieder aufgehoben werden (z.B. FlSt.-Nr. ..., ...). |
|
| Es ist davon auszugehen, dass in der Vergangenheit nicht nur in Einzelfällen die Veranlagung von beitragspflichtigen Grundstücken unterblieben ist. Auf die in Anlage 7 aufgeführten Grundstücke wird verwiesen. Aufgrund der unvollständigen und unübersichtlichen Aktenführung bedürfen diese Fälle einer weiteren Überprüfung. Darüber hinaus konnte für eine Vielzahl von Grundstücken die Frage der Beitragserhebung nicht geklärt werden. Für zahlreiche Grundstücke sind nur Entwässerungsbeitragsbescheide aktenkundig; ob eine Veranlagung des Wasserversorgungsbeitrags erfolgt oder aus welchen Gründen diese unterblieben ist, konnte oftmals nicht geklärt werden. Im Blick auf die finanziellen Auswirkungen und die Gleichbehandlung der Abgabenpflichtigen ist das Beitragswesen der Stadt grundsätzlich zu ordnen. Darüber hinaus sind für eine rechtmäßige Beitragserhebung zwingend die erforderlichen Grundlagen zu schaffen.“ |
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| (2) Ein weiterer langjähriger, bis zum Erhebungsstopp im Jahr 1991 andauernder Mangel im Beitragswesen der Beklagten ist in der Art und Weise ihrer Beitragserhebung im Gemeindegebiet zu sehen. Zunächst einmal erfolgte die Beitragserhebung auf Grundlage der AbwS 1984 nicht einheitlich im ganzen Gemeindegebiet, sondern entweder nach Straßenzügen oder nur einzelfallbezogen (bei Erteilung einer Baugenehmigung oder bei Anschluss an den Kanal), so dass - worauf die GPA in ihrem Prüfungsbericht vom 22.03.2007 hingewiesen hat - die Anschlussbeiträge von der Stadt nicht vollständig und satzungsgemäß erhoben worden sind. Ob die damalige Verwaltungspraxis als willkürlich bezeichnet werden kann, wofür die Aussage im an den Kläger gerichteten Informationsschreiben vom 21.01.2011 sprechen könnte, wonach es sein könne, dass sich in einer Straße der eine Eigentümer an den Kosten für die Herstellung der Anlagen durch Beitragszahlung beteiligt habe, sein Nachbar jedoch nicht, kann dahinstehen. Denn jedenfalls erfolgte die Beitragserhebung im Gemeindegebiet in einer Vielzahl von Fällen (Größenordnung: 1.000 von 3.000 Grundstücken - vgl. dazu auch die Stellungnahme der Beklagten gegenüber dem Landratsamt Calw vom 04.11.2014 betreffend die Rechtsaufsichtsbeschwerde des Klägers vom 08.10.2014) nicht nach den gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien. Mit der damals strukturellen Unordnung im Beitragswesen der Beklagten dürfte auch zusammenhängen, dass die Beklagte - wie im Prüfungsbericht der GPA vom 22.03.2007 festgestellt - in den 1990er-Jahren auf den Widerspruch von Betroffenen hin wiederholt rechtswidrige Beitragsbescheide aufhob. |
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| (3) Im Zusammenhang mit der Art und Weise der Beitragserhebung stehen auch die langjährig bestehenden Mängel in Aktenführung und Dokumentation. Wie sich dem Prüfungsbericht der GPA vom 22.03.2007 entnehmen lässt, konnte der Stand der Beitragserhebung anhand der vorgefundenen Aktenlage nicht abschließend ermittelt werden, insbesondere konnte für eine Vielzahl von Grundstücken die Frage der Beitragserhebung überhaupt nicht geklärt werden. Vielmehr ging die GPA davon aus, dass die Anschlussbeiträge in der Vergangenheit nicht vollständig und satzungsgemäß erhoben worden sind und dass die Veranlagung von beitragspflichtigen Grundstücken nicht nur in Einzelfällen unterblieben ist. Dem an den Kläger gerichteten Informationsschreiben vom 21.01.2011 ist zu entnehmen, dass - auch nach Aufarbeitung des Beitragswesens unter Zuhilfenahme externer Hilfe - für das Grundstück Flst.-Nr. ... des Klägers keine entsprechenden Unterlagen gefunden wurden, weswegen die Beklagte von einer noch nicht erfolgten Beitragserhebung bzgl. der Beitragsarten „Kanalbeitrag“ und „Klärbeitrag“ ausging. Die Beklagte teilte aber zugleich mit, dass nicht ausgeschlossen sei, dass für das klägerische Grundstück doch bereits einmal Beiträge bezahlt worden seien. Laut Prüfungsbericht der GPA vom 22.03.2007 wurden aufgrund der unzureichenden Dokumentation von der Beklagten auch Grundstücke veranlagt, die bereits in früheren Jahren schon einmal zum Anschlussbeitrag für die Wasserversorgung oder Abwasserbeseitigung herangezogen worden waren. Zudem lassen sich der Niederschrift über die nichtöffentliche Gemeinderatssitzung vom 08.02.2012 - Seite 21 f. - verschiedene Fallgruppen zur unzureichenden Aktenführung der Beklagten entnehmen, u.a. hinsichtlich „unklarer Unterlagen“, „indirekter Unterlagen“, „Klärbeiträgen 1977 - 1978“ und „keine Unterlagen vorhanden/ermittelbar“. |
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| (4) Wie bereits oben unter (1) dargestellt, verging nach dem Bekanntwerden des Prüfungsberichts der GPA vom 22.03.2007 bis zur Schaffung gültigen Satzungsrechts am 25.07.2012 ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Zeitraum von mehr als fünf Jahren. |
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| Der Senat verkennt nicht, dass es sich bei der Beklagten mit rund 7.500 Einwohnern um eine Kleinstadt mit beschränkten personellen Verwaltungskapazitäten handelt. Der Senat sieht weiterhin, dass sich die neue Stadtkämmerin, Frau Z., nach ihrer Amtsübernahme sogleich der Aufarbeitung des Beitragswesens der Beklagten widmete. Angesichts der langjährigen Untätigkeit der Beklagten in der davor liegenden langen Zeit und der Deutlichkeit und Vehemenz des Prüfungsberichts der GPA vom 22.03.2007 erscheint der Zeitraum bis zur Schaffung gültigen Satzungsrechts am 25.07.2012 gleichwohl unangemessen lang. Insbesondere hätte es der Gemeindeverwaltung der Beklagten oblegen, die Aufgaben des Stadtkämmerers nach Bekanntwerden des GPA-Prüfungsberichts 2007 sogleich anzugehen und damit nicht bis zum im April 2008 erfolgten Amtsantritt der neuen Stadtkämmerin zuzuwarten. |
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| bb) Die soeben dargelegten Missstände im Wasser-/Abwasserbeitragswesen beruhen auf mehreren, z.T. lang andauernden und z.T. qualifizierten Pflichtverletzungen der Beklagten, die sich zumindest teilweise auch auf den Kläger ausgewirkt haben können. |
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| (1) Entgegen der Auffassung des Klägers dürfte eine Pflichtverletzung der Beklagten nicht schon darin zu sehen sein, dass sie es nach erkannter Unwirksamkeit ihrer AbwS 1984 unterließ, rechtswidrige Beitragsbescheide zu erlassen. Zwar ist die Gemeindeverwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht - und damit auch an das kommunale Abwassersatzungsrecht - gebunden und es steht ihr auch keine „Normverwerfungskompetenz“ zu. Gleichwohl dürfte sie nicht verpflichtet gewesen sein, die von ihr als unwirksam erkannte AbwS 1984 weiter anzuwenden (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 15.10.1999 - 1 M 3614/99 -, juris, Rn. 10; BGH, Urteil vom 10.04.1986 - III ZR 209/84 -, juris, Rn. 29; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18 Aufl. 2011, § 4, Rn. 66 ff.). Letztlich kann diese Frage aber offenbleiben (so auch schon Senatsurteil vom 25.06.1992 - 2 S 1447/90 -, juris, Rn. 22). Eine Pflichtverletzung der Beklagten ist jedenfalls darin zu sehen, dass sie es spätestens nach im Jahr 1991 erkannter Unwirksamkeit der AbwS 1984 unterlassen hat, die gebotene Globalberechnung 1984 fortzuschreiben und auf dieser Grundlage gültiges Satzungsrecht zu schaffen. In jedem Fall hätte es der Gemeindeverwaltung und dem Bürgermeister als deren Leiter oblegen, beim für die Satzungsänderung zuständigen Gemeinderat, dessen Vorsitzender der Bürgermeister ist, hierauf hinzuwirken. |
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| Besonders schwer wiegt in diesem Zusammenhang, dass die Beklagte ihrer Verpflichtung zur Fortschreibung der gebotenen Globalberechnung bis ins Jahr 2007 und die Aufarbeitung ihres Abwasserwesens sogar bis ins Jahr 2008 hinein trotz mehrfacher, z.T. eindringlicher Aufforderungen der GPA unterließ. Die Schaffung gültigen Satzungsrechts erfolgte dann schließlich erst im Jahr 2012. Der Zeitraum, in dem der Gemeinde eine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, beträgt schon ausgehend von einem sicheren Erkennen der Unwirksamkeit der AbwS 1984 spätestens im Jahr 1991 16, 17 bzw. 21 Jahre. Personalmangel und/oder -ausfälle, wie sie nach Auskunft der Stadtkämmerin Frau Z. vor ihrem Amtsantritt bei der Beklagten bestanden haben mögen oder fehlende eigene Sachkompetenz einer Gemeinde (vgl. dazu S. 52 der Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung des Gemeinderats am 25.03.2009) sind nicht geeignet, die genannte Pflichtverletzung zu rechtfertigen, zumal die Missstände zur Überzeugung des Senats langjährig und nicht nur infolge leichter Nachlässigkeit bzw. Fahrlässigkeit bestanden haben (vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 20.12.2007 - OVG 4 B 19.07 -, juris, Rn. 38). Hinzu kommt, dass die Beklagte auch bereits vor dem Erhebungsstopp im Jahr 1991 pflichtwidrig handelte, indem sie die Beiträge aufgrund der AbwS 1984 im Gemeindegebiet nicht nach den gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien erhob. |
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| Bis zur grundlegenden Aufarbeitung des Beitragswesens weist auch die unvollständige Aktenführung und unzureichende Dokumentation in diesem Bereich Pflichtverletzungen auf, was u.a. zur Folge hatte, dass es z.T. zu unzulässigen Doppelveranlagungen kam und sich die beitragsrelevanten Sachverhalte - selbst nach einer professionellen und gründlichen Aufarbeitung - offenbar nicht nur vereinzelt nicht mehr vollständig und rechtssicher ermitteln lassen. |
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| Denn auch ohne dass es eines ausdrücklichen Ausspruchs im Gesetz bedarf, besteht nach dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG die behördliche Pflicht zur Anlegung und Führung von Akten (vgl. BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 06.06.1983 - 2 BvR 244/83 -, juris, Rn. 2; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 22.12.2000 - 2 L 38/99 -, juris, Rn. 55; Nds. OVG, Urteil vom 28.04.2015 - 5 LB 141/14 -, juris, Rn. 97 ff.; Ritgen, in: Knack/Hennecke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 24, Rn. 51 und § 29 Rn. 16 m.w.N.; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 29, Rn. 29 f.). Zumal bei Rechtsvorgängen, die sich - wie im Bereich des Wasser-/Abwasserbeitragswesens - meist über längere Zeit erstrecken, ist die den Behörden nach dem Grundgesetz obliegende Vollziehung der Gesetze nicht ohne eine Dokumentation der einzelnen Verwaltungsvorgänge denkbar, die das bisherige sachbezogene Geschehen sowie mögliche Erkenntnisquellen für das zukünftig in Frage kommende behördliche Handeln enthält. Erst derartige schriftliche Akten gestatten der vollziehenden Gewalt eine fortlaufende Kenntnis aller für sie maßgeblichen Umstände ohne Rücksicht darauf, ob aus innerorganisatorischen Gründen oder wegen der Zuständigkeitsbegründung einer anderen Behörde ein neuer Bediensteter, der kein eigenes Wissen über die Vorgeschichte besitzt, mit der Bearbeitung der Sache betraut wird. Die Aktenführung liegt damit zugleich im wohlverstandenen Interesse des betroffenen Einzelnen, der nur auf der Grundlage möglichst vollständiger Erfassung aller rechtlich erheblichen Tatsachen seinen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf angemessene Behandlung seiner Angelegenheit durch die zuständigen Behörden - und gegebenenfalls durch die Gerichte - mit Erfolg geltend machen kann (vgl. BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 06.06.1983 - 2 BvR 244/83 -, juris, Rn. 2). Gerade mit Blick auf die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes kommt der Aktenführungspflicht eine subjektiv-rechtliche Seite zu (vgl. OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 22.12.2000 - 2 L 38/99 -, juris, Rn. 56 und Rn. 59). Im Einzelnen sind die Behörden verpflichtet, den bisherigen wesentlichen sachbezogenen Geschehensablauf objektiv, vollständig, nachvollziehbar und wahrheitsgemäß zu dokumentieren (Gebot der Aktenwahrheit, Aktenklarheit und Aktenvollständigkeit; vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 07.05.2013 - 3 L 398/13 -, juris, Rn. 5; Ritgen, in: Knack/Hennecke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 24, Rn. 51 und § 29 Rn. 16; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 29, Rn. 12c). Was wesentlich ist, richtet sich nach dem jeweiligen materiellen und formellen Recht des jeweiligen Rechtsgebiets, wobei insbesondere die Bedeutung der Angelegenheit im öffentlichen und privaten Interesse zu berücksichtigen ist. Zu den zur Verwaltungsakte zu nehmenden wesentlichen Vorgängen gehören außer den bei der Behörde eingegangenen verfahrensbezogenen Dokumente auch Kopien eigener Schreiben, behördliche Verfügungen, Niederschriften über Besprechungen und Vermerke über alle sonstigen erheblichen Vorgänge sowie schriftliche Niederlegungen einer Beweiserhebung (vgl. Ritgen, in: Knack/Hennecke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 29, Rn. 16; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 29, Rn. 32). Schließlich sind die Behörden verpflichtet, den Aktenbestand langfristig zu sichern (vgl. Ritgen, in: Knack/Hennecke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 29, Rn. 17 m.w.N.; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 29, Rn. 31; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 29, Rn. 1b). Pflichtverletzungen im Bereich der Aktenführung und Dokumentation gehen zumindest dann zu Lasten der Behörde, wenn eine Aktenführung ganz unterbleibt oder wenn bestehende Akten oder Aktenteile im Rahmen der Sachbearbeitung keine Berücksichtigung finden, etwa weil sie nicht auffindbar sind oder vom Sachbearbeiter nicht herangezogen worden sind (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 28.04.2015 - 5 LB 141/14 -, juris, Rn. 99). Dementsprechend kann - unter dem Gesichtspunkt des Verbots rechtsmissbräuchlichen Verhaltens - eine Verletzung der Pflicht zur ordnungsgemäßen Aktenführung eine Beweislastumkehr zu Gunsten des beweispflichtigen Bürgers zur Folge haben (vgl. OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 22.12.2000 - 2 L 38/99 -, juris, Rn. 53; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 29, Rn. 1c; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 29, Rn. 32). |
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| (2) Die genannten Pflichtverletzungen der Beklagten können sich zumindest teilweise auch auf den Kläger nachteilig ausgewirkt haben, weswegen es unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls treuwidrig und nicht mehr zumutbar erscheint, ihn zu dem mit Beitragsbescheid vom 15.08.2013 festgesetzten Abwasserbeitrag in Höhe von 7.395,90 EUR heranzuziehen. |
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| Zu sehen ist insoweit zunächst, dass zwischen dem vom Verwaltungsgericht zu Recht (ungefähr) auf die Jahreswende 1989/1990 taxierten Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage für das klägerische Grundstück und der verfahrensgegenständlichen Beitragsfestsetzung vom 15.08.2013 rund 23 ½ Jahre liegen.Unabhängig von der vom baden-württembergischen Landesgesetzgeber zu bestimmenden Höchstfrist liegt ein Zeitraum von über zwei Jahrzehnten zumindest in einem Bereich, in dem etwa die Landesgesetzgeber in Bayern (vgl. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe bb Spiegelstrich 1 BayKAG), Mecklenburg-Vorpommern (vgl. § 12 Abs. 2 Nr. 1 KAG M-V) und Sachsen (vgl. § 3a Abs. 3 SächsKAG) eine Beitragserhebung nicht mehr gestatten. Zwar begründet der lange Zeitablauf zwischen dem tatsächlichen Anschluss oder der erstmaligen Anschlussmöglichkeit und der Beitragserhebung für sich allein noch kein schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers darauf, zu Beiträgen nicht (mehr) herangezogen zu werden, wenn er zugleich die Vorteile der Einrichtung in Anspruch nimmt bzw. in Anspruch nehmen konnte (vgl. Senatsurteil vom 28.09.1995 - 2 S 3068/94 -; ähnlich unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung: BayVGH, Beschluss vom 05.12.2001- 23 ZS 01.2926 -, juris, Rn. 5). Jedoch ist die erhebliche Zeitdauer im Rahmen der Gesamtbetrachtung der Einzelfallumstände ein Faktor unter mehreren, der - wie vorliegend - gegen die fortbestehende Zumutbarkeit der Abgabenerhebung sprechen kann. |
|
| Im konkreten Einzelfall ist weiter zu berücksichtigen, dass die aufgezeigten qualifizierten Pflichtverletzungen der Beklagten insoweit Außenwirkung hatten, als eine Beitragserhebung im Zeitraum vom 1991 bis nach dem Inkrafttreten der AbwS 2012 gemeindeweit unterblieb, wobei die Missstände im Wasser-/Abwasserbeitragswesen in der beklagten Gemeinde allgemein bekannt gewesen sein dürften, nachdem die Beklagte - wie im Prüfungsbericht der GPA vom 22.03.2007 festgestellt - in den 1990er-Jahren auf den Widerspruch von Betroffenen hin wiederholt rechtswidrige Beitragsbescheide aufhob. Vor diesem Hintergrund bestand - worauf die Stadtkämmerin Fr. Z. im Rahmen der nichtöffentlichen Sitzung des Gemeinderats vom 25.03.2009 (vgl. Niederschrift, Seite 52) zu Recht hingewiesen hatte - ein Zustand der Rechtsunsicherheit, der zwar für sich genommen der Bildung eines schutzwürdigen Vertrauens auf künftig unterbleibende Beitragserhebung entgegengestanden haben kann, jedoch insbesondere angesichts seiner erheblichen Dauer als weiterer, gegen die fortbestehende Zumutbarkeit der Abgabenerhebung sprechender Umstand angesehen werden muss (weitergehend: Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in BW, Bd. 1, § 2 KAG, Rn. 14 [Stand November 2012], der in diesem Fall aus Gründen des Vertrauensschutzes einen gänzlichen Ausschluss der Abgabenerhebung für möglich erachtet). |
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| Von besonderer Bedeutung ist weiterhin, dass die mangelhafte Aktenführung und Dokumentation der Beklagten konkrete Auswirkungen auf den Fall des Klägers hatte. Dies zeigt sich bereits daran, dass sich der Zeitpunkt des Eintritts der Vorteilslage hinsichtlich der klägerischen Grundstücke heute nicht mehr exakt und sicher bestimmen lässt, weswegen auch das Verwaltungsgericht - letztlich nur unter Würdigung verschiedener Umstände und Indizien - lediglich zur ungefähren Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts gelangt ist. Nachdem es im Gemeindegebiet in der Vergangenheit mehrfach zu rechtswidrigen Doppelveranlagungen gekommen war, lässt sich nach den Unterlagen der Beklagten auch nicht sicher ausschließen, dass für die Grundstücke - etwa vom Vater des Klägers als dessen Rechtsvorgänger - bereits schon einmal Beiträge bezahlt worden sind, von denen die Beteiligten übereinstimmend keine Kenntnis haben. |
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| Insofern bestehen Unklarheiten im Sachverhalt, hinsichtlich derer es unbillig erscheint, etwaige Nachteile dem Kläger aufzuerlegen. Dass er selbst noch Unterlagen seines Vaters ausfindig machen konnte, aus denen das Verwaltungsgericht „mit großer Wahrscheinlichkeit“ auf den Zeitpunkt der erstmaligen Anschlussmöglichkeit des klägerischen Grundstücks an die öffentliche Abwasserbeseitigung zur Jahreswende 1989/1990 geschlossen hat, kann ihm nicht entgegengehalten werden und entlastet die Beklagte nicht, zumal diese - wie sich der Aufstellung anhängiger Widerspruchsverfahren im an die Beklagte gerichteten Hinweisschreiben des Landratsamts Calw vom 28.10.2014 zum Petitionsverfahren 15/03204 entnehmen lässt - in 368 von 421 Fällen, in denen Widerspruch erhoben worden war, Abwasserbeitragsbescheide hinsichtlich Grundstücken erlassen hatte, bei denen die Vorteilslage bereits vor mehr als 30 Jahren vor deren Erlass eingetreten war. Nach dem oben Ausgeführten geht eine Verletzung der Verpflichtung zur Führung ordnungsgemäßer und vollständiger Akten sowie zu deren langfristiger Aufbewahrung zu Lasten der Beklagten. |
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| Bei einer Gesamtwürdigung aller aufgezeigten Umstände kommt der Senat daher im vorliegenden Einzelfall zu dem Ergebnis, dass es trotz langjähriger Nutzung der öffentlichen Abwassereinrichtungen durch den Kläger bzw. dessen Vater hier nicht mehr zumutbar erscheint, ihn mit der Abgabenerhebung zu konfrontieren. |
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| Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war hier nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären, weil es dem Kläger angesichts der Komplexität der Rechtslage nicht zumutbar war, das Vorverfahren selbst zu führen. |
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| Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor. |
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| Beschluss vom 12. Juli 2018 |
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| Der Beschluss ist unanfechtbar. |
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