Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 14. Dez. 2016 - 2 A 235/15

ECLI:ECLI:DE:VGSH:2016:1214.2A235.15.0A
bei uns veröffentlicht am14.12.2016

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte oder die Beigeladene vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt vom Beklagten ein bauordnungsrechtliches Einschreiten gegenüber der Bebauung auf seinem Nachbargrundstück.

2

Der Kläger ist u.a. – seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge noch im Grundbuch eingetragener – (Mit-) Eigentümer des 490 m² großen Grundstücks G1 in S... (Flst. 9/5, Fl. 5, Gemarkung T…), das in einem Abstand von ca. 0,80 m zur Ostgrenze des westlich anschließenden Grundstücks G2 (Flst. 9/4) giebelständig mit einer Breite von ca. 7,30 m mit einem 12,90 m langen eingeschossigen Einfamilienhaus mit einem ca. 45° geneigten Satteldach mit einer Firsthöhe von ca. 7 m bebaut ist. Die Traufhöhe beträgt ca. 3 m.

3

Den Angaben des Klägers zufolge ist die Lage der Grundstücke zueinander die Folge einer 1999 durchgeführten Grundstücksteilung, wobei seinerzeit das Einfamilienhaus auf dem Flurstück 9/5 bereits vorhanden war.

4

Auf dem westlich anschließenden Nachbargrundstück G2 der Beigeladenen wurde im Jahre 2014 aufgrund einer im vereinfachten Verfahren nach § 69 LBO erteilten Baugenehmigung vom 4.11.2013 ein Einfamilienhaus mit einer unmittelbar auf einer Länge von 9 m an deren Ostgrenze von Süden aus zu befahrenden Garage mit Abstellraum und einem 2,98 m breiten Flachdach mit einer Wandhöhe zwischen 2,67 m und 2,68 m bebaut. In ca. 3,10 m Entfernung zur östlichen Grundstücksgrenze schließt sich an den nördlichen Teil der Garage westlich ein Hauswirtschaftsraum mit Zugang sowohl zur Garage als auch zu der daran westlich wiederum anschließenden Küche an. Im Obergeschoss, das einen Abstand von genehmigten 2,98 m zur östlichen Grundstücksgrenze aufweist, befinden sich mit einer ca. 6,40 m breiten östlichen Außenwand Wohnräume.

5

Der Kläger legte am 3.12.2013 Widerspruch gegen diese Baugenehmigung ein und nahm diesen Widerspruch am 8.04.2014 wieder zurück.

6

Mit Schreiben vom 29.04.2015 vertrat der Kläger gegenüber dem Beklagten die Auffassung, die Garage der Beigeladenen erfülle nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 7 LBO, da sie eine statische Stütze des darüber liegenden Wohngebäudes sei und deshalb die vorgeschriebenen Abstandsflächen einzuhalten habe. Die angesichts dessen fälschlicherweise erteilte Baugenehmigung verpflichte den Beklagten zum ordnungsbehördlichen Einschreiten.

7

Mit Schreiben vom 28.07.2015 nahm der Beklagte dazu gegenüber dem Kläger mit dem Ergebnis Stellung, dass er keinen Anlass sehe, tätig zu werden.

8

Mit Schreiben vom 3.09.2015 setzte der Kläger dem Beklagten eine Frist für eine „Abhilfeentscheidung“ bis zum 15.09.2015.

9

In einer weiteren Stellungnahme vom 22.09.2015 hielt der Beklagte an seiner Auffassung fest.

10

Der Kläger hat am 16.12.2015 Klage auf Verpflichtung des Beklagten zum Erlass einer Rückbau- bzw. Beseitigungsanordnung hinsichtlich des Garagenanbaus mit Abstellraum auf dem Nachbargrundstück G2 in S... erhoben. Zur Begründung trägt er vor, er werde durch die Garage, die die Wohnräume im Obergeschoss statisch trage, in seinen Rechten verletzt, da für die Nichteinhaltung der Abstandsflächen nicht auf die Privilegierung des § 6 Abs. 7 LBO zurückgegriffen werden könne. Dazu beruft er sich auf eine Entscheidung des OVG Münster (Urt. v. 17.5.04, 7 A 3556.02).

11

Der Kläger beantragt,

12

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 17.02.1016 zu verpflichten, den Rückbau bzw. die Beseitigung des „Garagenanbaus mit Abstellraum“ auf dem Grundstück G2 in S... anzuordnen.

13

Der Beklagte beantragt,

14

die Klage abzuweisen.

15

Er ist der Auffassung, dass der Kläger keinen Anspruch auf das von ihm begehrte Einschreiten gegen das Gebäude der Beigeladene habe.

16

Die Beigeladene beantragt,

17

die Klage abzuweisen.

18

Mit Bescheid vom 17.02.2016 hat der Beklagte den Antrag des Klägers auf bauaufsichtliches Tätigwerden abgelehnt. Über den dagegen am 15.03.2016 eingelegten Widerspruch ist nicht entschieden worden.

19

Mit Beschluss vom 18.10.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

20

Dieser hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 14.12.2016 die Örtlichkeiten in Augenschein genommen und mit den Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes einschließlich des Ergebnisses der Ortsbesichtigung und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

22

Nachdem der Kläger in die ursprünglich als Untätigkeitsklage erhobene Verpflichtungsklage auf bauaufsichtliches Einschreiten den nunmehr von dem Beklagten erlassenen Ablehnungsbescheid vom 17.02.2016 einbezogen hat, ist die Klage zulässig, aber unbegründet.

23

Dem Kläger steht kein Anspruch auf das begehrte Einschreiten des Beklagten zu.

24

Als Anspruchsgrundlage für das von dem Kläger begehrte Einschreiten des Beklagten in seiner Funktion als untere Bauaufsichtsbehörde kommt allein § 59 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 LBO in Verbindung mit den nachbarschützenden Bestimmungen – wegen der Bestandskraft der das Bauplanungsrecht regelnden, nach § 69 LBO erteilten Baugenehmigung – hier allein des Bauordnungsrechts, namentlich des in § 6 LBO geregelten Abstandsflächenrechts in Betracht.

25

Gemäß § 59 Abs. 1 LBO haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Errichtung von Anlagen nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden. Sie haben die nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Nach Abs. 2 S. 1 Nr. 3 dieser Vorschrift können die Bauaufsichtsbehörden insbesondere die teilweise oder vollständige Beseitigung von Anlagen anordnen, die im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.

26

Wie bei Nachbarklagen gegen bauaufsichtliche Zulassungen gilt auch bei einem vom Nachbarn geltend gemachten Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten, dass ein solcher Anspruch nicht bereits dann besteht, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 59 Abs. 1, 2 S. 1 Nr. 3 LBO vorliegen, sondern vielmehr ist darüber hinaus erforderlich, dass der Nachbar in subjektiv-öffentlichen Nachbarrechten verletzt ist.

27

Maßgebend ist, ob das Bauvorhaben gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Ein Verstoß gegen Rechtsnormen, die zumindest auch dem Schutz des um Rechtsschutz suchenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind, ist bereits tatbestandliche Voraussetzung für einen Anspruch des Nachbarn auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens der Bauaufsichtsbehörde bei der Entscheidung darüber, ob sie gegen einen rechtswidrigen Zustand - etwa durch Erlass einer Beseitigungsanordnung - einschreiten soll.

28

Erst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, entsteht für den Nachbarn ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein mögliches bauaufsichtliches Einschreiten. Eine sog. „Ermessensreduzierung auf Null“, bei der sich dieses Ermessen dahingehend verdichtet, dass sich nur ein Einschreiten als rechtmäßige Entscheidung erweist, liegt erst dann vor, wenn geschützte Nachbarrechte in besonders gravierender Weise beeinträchtigt werden (OVG Schleswig, Beschluss vom 05.09.2008, - 1 LA 53/08 -).

29

Bauordnungsrechtliche Abstandsflächenvorschriften gehören mit ihrem unmittelbaren räumlichen Bezug zu Nachbargrundstücken zum Kernbestand des öffentlichen Baunachbarrechts. Ihre nachbarschützende Wirkung besteht nach Sinn und Zweck der Abstandsflächenvorschriften grundsätzlich unabhängig von einer tatsächlich feststellbaren Beeinträchtigung des Nachbarn. Soweit sie Nachbarschutz vermitteln, indiziert bereits ihre Verletzung die Beeinträchtigung des Nachbarn in Belangen, deren Schutz die Abstandsflächenvorschriften dienen.

30

Allerdings muss nicht jede derart indizierte Beeinträchtigung nachbarlicher Belange auch - im Sinne eines besonders intensiven oder ein wesentliches Rechtsgut des Nachbarn gefährdenden Rechtsverstoßes - stets unzumutbar sein. Diese Bewertung setzt vielmehr eine Prüfung des jeweiligen Einzelfalles voraus, ob und inwieweit die bauliche Nutzbarkeit des Nachbargrundstücks tatsächlich spürbar eingeschränkt wird (vgl. VGH München, Beschl. v. 04.07.2011, - 15 ZB 09.1237 -; OVG Lüneburg, Urt. v. 16.02.2012, - 1 LB 19/10 -; OVG Schleswig, Beschl. v. 6.01.2015, - 1 LA 60/14 -; Beschl. v. 12.12.2014, - 1 LA 57 14 -, Beschl. v. 19.04.2012, - 1 LB 4/12 -). Insoweit ist von wesentlicher Bedeutung, welche tatsächlichen negativen Auswirkung mit der streitbefangenen baulichen Anlage gerade unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Abstandsflächenvorschriften, gegen die sie verstößt, verbunden sind.

31

Es kann im vorliegenden Fall allerdings offen bleiben, ob und in wie schwerwiegender Weise überhaupt die vom Kläger behauptete Verletzung der nachbarschützenden Abstandsflächenvorschriften gegeben ist, insbesondere, ob es sich um eine solche Konstellation handelt, wie sie der Entscheidung des OVG Münster (Urt. v. 17.5.04, - 7 A 3556.02 -) zugrunde lag, und sich zudem das Erschließungsermessen der Bauaufsichtsbehörde im Sinne einer Pflicht zum Einschreiten „auf Null“ reduziert hat.

32

Denn ein Anspruch des Klägers auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen einen etwaigen Abstandsflächenverstoß durch den als Garage mit Abstellraum genehmigten Teil des Wohngebäudes der Beigeladenen ist zum einen schon nach Treu und Glauben wegen der vorhandenen Bebauung auf seinem eigenen Grundstück ausgeschlossen (dazu unter 1.) und zudem aufgrund seines Verhaltens während der Errichtung des Gebäudes der Beigeladenen verwirkt (dazu unter 2.).

33

1. Der Kläger kann sich auf eine Verletzung seiner subjektiv-öffentlichen Rechte in Form der Abstandsflächenvorschriften durch das beanstandete Bauvorhaben der Beigeladenen nicht berufen.

34

Auf einen Verstoß gegen § 6 Abs. 5 Satz 1 LBO kann sich der Kläger nach dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben jedenfalls deshalb nicht berufen, weil sich dies angesichts des auf dem eigenen Grundstück des Klägers in Abweichung von den Abstandsflächenvorgaben des § 6 LBO nur mit einem Grenzabstand von ca. 0,80 m vorhandenen Wohnhauses als unzulässige Rechtsausübung darstellt.

35

a) Die Geltendmachung eines Abwehrrechts gegen einen nachbarlichen Verstoß gegen § 6 LBO stellt sich als unzulässige Rechtsausübung und damit als Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben dar, wenn der Grundstückseigentümer selbst in vergleichbarer Weise gegen Abstandrecht verstößt (vgl. OVG Schleswig, Beschl. V. 4.05.2010, - 1 MB 5/10 -, u. v. 8.09.1992, - 1 M 45/92 -).

36

Die Unzulässigkeit der Rechtsausübung ist dabei nicht bezogen auf ein zielgerichtetes Verhalten in der Vergangenheit zu beurteilen, sie knüpft vielmehr an die gegenwärtige Geltendmachung des Abwehrrechts an. Maßgeblich ist, ob der Eigentümer mit der Wahrung von Abstandflächen nach § 6 LBO die Beachtung einer Vorschrift einfordert, deren Anforderungen er selbst nicht einhält. Das allgemeine Rechtsverständnis billigt es einem Grundstückseigentümer nicht zu, rechtliche Abwehrmaßnahmen gegen eine durch einen Nachbarn hervorgerufene Beeinträchtigung zu ergreifen und zugleich diesem Nachbarn quasi spiegelbildlich dieselbe Beeinträchtigung zuzumuten. Denn der öffentlich-rechtliche Nachbarschutz beruht auf einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit, das maßgeblich durch die objektiven Grundstücksverhältnisse geprägt ist. Erst aus der Störung des nachbarlichen Gleichgewichts und nicht schon aus der Abweichung von öffentlich-rechtlichen Normen ergibt sich deshalb der Abwehranspruch des Nachbarn.

37

b) Der Vorwurf treuwidrigen Verhaltens entfällt auch nicht dadurch, dass das Wohnhaus des Klägers ursprünglich in Einklang mit dem damals geltenden Baurecht errichtet worden sein mag und erst die Grundstücksteilung zu den heutigen Verhältnissen geführt hat; maßgeblich ist insoweit allein, dass er mit seinem Gebäude den (jetzt) erforderlichen Grenzabstand nicht einhält (vgl. OVG Schleswig, Beschl. V. 30.11.1999, - 1 M 122/99 -). Denn die Versagung des Abwehranspruchs beruht darauf, dass es unbillig wäre, einen Nachbarn den durch die grenznahen baulichen Anlagen des anderen Nachbar ausgehenden Nachteilen auszusetzen, ihm selbst aber eine Ausnutzung seines Grundstücks im Grenzbereich zu verwehren (VGH Mannheim, Urt. V. 18.11.2002, - 3 S 882/02 -).

38

c) Die Berufung auf einen etwaigen Verstoß des Gebäudes der Beigeladenen gegen § 6 Abs. 5 Satz 1 LBO ist hier eine solche unzulässige Rechtsausübung, weil der Kläger selbst zulasten des Grundstücks der Beigeladenen – mindestens - in vergleichbarer Weise gegen Abstandsrecht verstößt. Bei wertender Betrachtung ist der wechselseitige Abstandsflächenverstoß in seinen Wirkungen vergleichbar.

39

Zwar müsste, unterstellt, der als Garage genehmigte Gebäudeteil könnte nicht als iSv § 6 Abs. 7 LBO eingestuft werden, dieser einen Abstand von 3 m zur Grundstücksgrenze einhalten. Dabei geht es um einen 9 m breiten und bis zu 2,68 m hohen Gebäudeteil mit Flachdach, während von der nur mit 0,80 m Grenzabstand vorhandenen Giebelwand des klägerischen Einfamilienhauses bei einer Breite von ca. 7,30 m, einer Traufhöhe von ca. 3 m und einer Firsthöhe von ca. 7 m sowohl quantitativ als auch qualitativ mindestens ebenso starke Wirkungen auf das Grundstück der Beigeladenen ausgehen. Bereits die Erdgeschosswandflächen mit 24,12 m² (Garagenostwand) und ca. 22 m² (fensterlose Erdgeschosswestwand des klägerischen Hauses) erreichen vergleichbare Ausmaße, wobei zur Erdgeschosswandfläche des klägerischen Hauses noch die ca. 7 m hohe Giebelwand mit weiteren mindestens 12 m² Wandfläche - noch dazu oberhalb einer Höhe von 3 m - hinzukommt.

40

Im Übrigen teilt das Gericht die vom OVG Münster in der von dem Kläger herangezogenen Entscheidung (Urt. v. 17.05.2004, - 7 A 3556.02 -) vertretene, aber nicht näher begründete Auffassung, dass auch die bauliche Ausgestaltung einer Grenzgarage außerhalb der einzuhaltenden Abstandsfläche für die Einstufung als Garage iSv § 6 Abs. 7 LBO von Bedeutung sei, ausdrücklich nicht. Vielmehr ist das Gericht mit den Kommentatoren der Schleswig-Holsteinischen Landesbauordnung (Domning/Möller/Bebensee Rn 98 zu § 6 LBO) der Ansicht, dass der Umstand, dass eine solche Garage an das Hauptgebäude angegliedert oder sogar in dasselbe integriert ist, dieser nicht den Charakter einer abstandsflächenrechtlich privilegierten untergeordneten Anlage nimmt. So wird etwa auch eine Nutzung des Daches einer Grenzgarage in den Maßen des § 6 Abs. 7 LBO als Dachterrasse als unschädlich angesehen, wenn dessen Bereich außerhalb der einzuhaltenden Abstandsfläche liegt.

41

2. Darüber hinaus sind etwaige nachbarliche Abwehrrechte gegen den beanstandeten Gebäudeteil und die damit angeblich verbundenen Abstandsflächenverstöße durch das Verhalten des Klägers während der Errichtung des Gebäudes bereits verwirkt.

42

a) Für die Verwirkung des materiellen Rechts kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 07.02.1974, - 3 C 115.71 -, BVerwGE 44, 339; vom 20.01.1977, - 5 C 18.76 - BVerwGE 52, 16 und vom 16.05.1991, - 4 C 4.89 -, NVwZ 1991, 1182) und dem folgend auch der Obergerichte (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 28.08.1989 - 8 S 1345/87-, NVwZ 1989, 76; OVG Schleswig, Urt. v. 7.03.1995, - 1 L 26/94 -; OVG Greifswald, Beschl. vom 05.11.2001 - 3 M 93/01 -, NVwZ-RR 2003, 15) darauf an, ob der Berechtigte während eines längeren Zeitraums ein ihm zustehendes Recht nicht geltend macht, obwohl er hierfür Anlass hat, und ob ein solches Verhalten geeignet ist, bei dem Verpflichteten den Eindruck zu erwecken, der Berechtigte werde sein Recht nicht (mehr) ausüben.

43

Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass zu der Frage, welche (genaue) Dauer der Nichtausübung eines - ausübbaren - Rechts zu dessen Verwirkung führt, keine allgemein geltenden Bemessungskriterien angegeben werden können; dies sei von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Grundsätzlich gelte allerdings ein „Mindestzeitraum“, der sich „nach oben hin deutlich von der jeweils in Betracht kommenden regelmäßigen Rechtsbehelfsfrist“ unterscheide; eine Verwirkung des materiellen Abwehrrechts komme „erst dann in Betracht, wenn der Berechtigte deutlich länger als einen Monat untätig geblieben ist“ (BVerwG, Urt. v. 16.05.1991, - 4 C 4.89 -).

44

Danach ist eine Verwirkung des nachbarlichen Abwehrrechts unabhängig von der Erteilung einer Baugenehmigung und sogar gegenüber einem ungenehmigten Bauvorhaben sowie deutlich vor Ablauf einer einjährigen Frist möglich (OVG Schleswig, Urt. v. 26.03.1997, - 1 L 322/97 -; vgl. auch Beschl. v. 11.08.2003, - 1 LA 137/02 -, NordÖR 2004, 244).

45

Die Verwirkung eines Rechtes setzt außer der Untätigkeit des Berechtigten während eines längeren Zeitraumes ferner voraus, dass besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Das Verhalten des Berechtigten muss beim Verpflichteten also nicht nur die Vorstellung begründet haben, dass das Recht nicht mehr geltend gemacht werde, der Verpflichtete muss sich hierauf auch tatsächlich eingerichtet haben.

46

Diese Grundsätze, wonach ein Rechtsverlust durch Verwirkung nur dann eintritt, wenn die verzögerte Geltendmachung des Rechts ursächlich für bestimmte Dispositionen des Verpflichteten ist und gerade im Hinblick auf das durch Untätigkeit des Berechtigten geschaffene und betätigte Vertrauen des Verpflichteten die verspätete Geltendmachung des Rechts treuwidrig erscheint, gelten auch im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis zwischen Bauherrn und Grundstücksnachbarn.

47

b) Unter Anwendung dieser Grundsätze ist eine Verwirkung gegenüber dem beanstandeten Gebäudeteil deshalb anzunehmen, weil der Kläger nicht nur die Bauphase im Jahre 2014 hat verstreichen lassen, ohne gegenüber dem Vorhaben in beachtlicher Weise Einwände zu erheben, sondern sogar seinen zuvor gegen die Baugenehmigung erhobenen Widerspruch im Frühjahr 2014 ausdrücklich zurückgenommen hat.

48

Zwar erlangte die im vereinfachten Verfahren gem. § 69 LBO ohne ausdrückliche Prüfung der Abstandsflächenvorschriften erteilte Baugenehmigung aufgrund ihres deshalb nur eingeschränkten Regelungsgehalts durch die Rücknahme des Widerspruchs gegenüber dem Kläger keine Bestandskraft hinsichtlich der Abstandsflächen.

49

Gleichwohl durfte die Beigeladene nach der Rücknahme des Widerspruchs und der gleichzeitigen Untätigkeit des Klägers jedenfalls bis zur Rohbaufertigstellung davon ausgehen, dass der Kläger gegen ihr Vorhaben auch hinsichtlich des Standortes und der Abstandsflächen keine Einwände mehr erhebt. Im Vertrauen darauf stellte sie das Vorhaben jedenfalls im Rohbau fertig, bevor der Kläger erneut versuchte, gegen ihr Vorhaben vorzugehen.

50

Insoweit sei nur klarstellend darauf hingewiesen, dass der zurückgenommene Widerspruch ohnehin keinen Erfolg gehabt hätte, weil gegenüber der Baugenehmigung eine Verletzung bauordnungsrechtlicher nachbarschützender Vorschriften wie der Regelungen in § 6 LBO nicht eingewandt werden konnte, da die im vereinfachten Verfahren gem. § 69 LBO ohne ausdrückliche Prüfung der Abstandsflächenvorschriften erteilte Baugenehmigung aufgrund ihres deshalb nur eingeschränkten Regelungsgehalts insoweit bereits nicht in Nachbarrechte aus § 6 LBO eingreifen konnte. Dem darüber hinaus – vor Bestandskraft der Baugenehmigung - noch möglichen Einwand eines Verstoßes gegen das – bauplanungsrechtliche - Gebot der Rücksichtnahme wegen der Wirkungen des Gebäudes, stand bereits seinerzeit entgegen, dass sich der Kläger die zweifellos beengte Lage durch die Bebauung seines eigenen Grundstücks selbst entscheidend mit zurechnen lassen muss.

51

Da der Kläger unabhängig davon, ob er in subjektiv-öffentlichen Rechten durch das Gebäude der Beigeladenen verletzt ist, aus zwei selbstständig tragenden Gründen jeweils gehindert ist, sich auf diese Rechte zu berufen, besteht kein Anspruch auf das begehrte Einschreiten.

52

Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gem. § 167 Abs. 2 VwGO iVm §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

53

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nach § 162 Abs. 3 VwGO aus Billigkeit für erstattungsfähig erklärt worden, weil sie einen eigenen Antrag gestellt hat und damit das Risiko eigener Kostenpflicht nach § 154 Abs. 3 VwGO eingegangen ist.


Urteilsbesprechung zu Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 14. Dez. 2016 - 2 A 235/15

Urteilsbesprechungen zu Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 14. Dez. 2016 - 2 A 235/15

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 162


(1) Kosten sind die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens. (2) Die Gebühren und Auslage
Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 14. Dez. 2016 - 2 A 235/15 zitiert 5 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

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Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

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Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 2. Kammer, Einzelrichter - vom 22.04.2008 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Antragsverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Antragsverfahren auf

15.000,-- Euro

festgesetzt.

Gründe

1

Der Zulassungsantrag bleibt erfolglos, denn die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

2

1) Der Senat hat keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); jedenfalls rechtfertigen die dargelegten Gründe (§ 124 a Abs. 4 S. 4 VwGO) solche Zweifel nicht. Nach Aktenlage spricht vielmehr alles dafür, dass das Verwaltungsgericht die Klage zu recht abgewiesen hat. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte gegen die Beigeladene die begehrte Nutzungsuntersagung mit Zwangsgeldandrohung erlässt. Diese Maßnahme steht gemäß §§ 86 Abs. 1 S. 3 LBO, 228 ff LVwG im Ermessen der Behörde. Einzelne Überschreitungen der Baugenehmigung braucht der Beklagte danach keineswegs unter Androhung eines Zwangsgeldes zu verbieten. Eine Verpflichtung hierzu besteht nur ausnahmsweise bei einer sogenannten Ermessensreduzierung zu Gunsten der Klägerin. Eine solche Ermessensreduzierung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Nachbarrechte der Klägerin in besonders gravierender Weise beeinträchtigt werden. Dies gilt auch für Rechte der Klägerin, die auf den Nebenbestimmungen der Baugenehmigung in Verbindung mit der zivilrechtlichen Vereinbarung mit der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen beruhen. Die Auffassung der Klägerin, dass eine Verletzung dieser Rechte regelmäßig ein ordnungsbehördliches Einschreiten erfordere, teilt der Senat nicht. Auch insoweit gelten die allgemeinen Grundsätze nach §§ 86 Abs. 1 S. 3 LBO, 228 ff LVwG. Besonders gravierende Verstöße sind hier nicht erkennbar. Dies hat das Verwaltungsgericht mit zutreffenden Gründen, auf die der Senat Bezug nimmt, ausgeführt (zur Beurteilungsgrundlage des Verwaltungsgerichts und dem Erfordernis, weitere Beweise zu erheben vgl. unten zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 3 Nr. 5 VwGO). Auf die Frage, ob – wie das Verwaltungsgericht meint – unzulässige Reifenwechsel an Lkws auf dem Vorplatz noch weniger störend empfunden werden, wenn die Lärmschutzwand vollständig repariert wird, kommt es nicht an, denn dieser Gesichtspunkt war für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich. Es hat auf diesen Gesichtspunkt nur ergänzend abgestellt. Unabhängig davon überzeugt der Hinweis der Klägerin, dass der Montagelärm vom Grundstück der Beigeladenen nach einer Reparatur der Lärmschutzwand sogar noch stärker empfunden werde als im Zeitpunkt der Ortsbesichtigung, nicht. Ihre in diesem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, die Öffnung der Lärmschutzwand sei zur Straße ausgerichtet, widerspricht den Feststellungen des Verwaltungsgerichts. In der in Gegenwart der Klägerin und ihrem Rechtsanwalt aufgenommenen Niederschrift über die Beweisaufnahme und die mündliche Verhandlung vom 22. April 2008 heißt es, dass „an der Lärmschutzwand zur Seite der Firma Helm in ein … Stück der Lärmschutzwand“ fehle.

3

2. Es liegt auch kein erheblicher Verfahrensfehler vor. Das Verwaltungsgericht war insbesondere nicht verpflichtet, weitere Beweise zu erheben. Es hat eine Ortsbesichtigung durchgeführt und die mit Schriftsatz der Klägerin vom 29. Januar 2008 vorgelegten Dokumente und Fotos gewürdigt. Weitere Beweise zu erheben, insbesondere eine Vernehmung der von der Klägerin benannten Zeugen war nicht erforderlich, weil vereinzelte Verstöße gegen die Baugenehmigung unstreitig sind und mit den Beweisanträgen kein substantiierter Sachverhalt unter Beweis gestellt wurde, aus dem eine Ermessensreduzierung zu Gunsten der Klägerin abgeleitet werden könnte. Auch die Klägerin hat sich von einer Zeugenvernehmung offenbar keine weiteren entscheidungserheblichen Erkenntnisse versprochen; anderenfalls hätte es nahegelegen, in der mündlichen Verhandlung einen Beweisantrag zu stellen.

4

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

5

Der Senat hält es für billig, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil diese keinen Sachantrag gestellt und sich somit nicht am Kostenrisiko des Verfahrens beteiligt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).

6

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.

7

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

8

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 S. 5, 66 Abs. 3 S. 3 GKG).


Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 1. Kammer - vom 18. November 2009 geändert:

Der Bescheid des Beklagten vom 13. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Dezember 2007 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Muschelfischereibetrieben der Beigeladenen das Einbringen von importierten Miesmuscheln in den Nationalpark "Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer" zu untersagen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens haben der Beklagte zu 1/2 und die Beigeladenen jeweils zu 1/8 zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Den Kostenschuldnern wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein vom Land anerkannter (Naturschutz-) Verein, will mit seiner Klage erreichen, dass der Beklagte den Beigeladenen untersagt, importierte Miesmuscheln (nebst Begleitarten) in die zum Nationalpark "Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer" gehörenden Küstengewässer einzubringen. Die Bereiche, in denen die Beigeladenen die importierten Miesmuscheln (nur) aussetzen, liegen in der Schutzzone 2 des Nationalparks. Sie gehören zum FFH-Gebiet DE-0916-391 ("Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und angrenzende Küstengebiete").

2

Durch Bescheid vom 08. November 2005 hatte das damals zuständige Amt für ländliche Räume Kiel (als obere Fischereibehörde) den Beigeladenen auf der Grundlage des § 40 Abs. 5 LFischG eine Befreiung von der Bestimmung des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG erteilt, die es verbietet, Muscheln, die aus Gebieten außerhalb der schleswig-holsteinischen Küstengewässer stammen, in schleswig-holsteinische Gewässer einzubringen, und ihnen gestattet, Miesmuscheln (Mytilus edulis) aus englischen Küstengewässern in die schleswig-holsteinischen Küstengewässer der Nordsee auszusetzen. Die Befreiung war befristet bis zum 31. März 2006. Durch Bescheid vom 03. Januar 2007 erteilte das Amt eine weitere - bis zum 31. Dezember 2007 befristete - Befreiung für das Einbringen von aus Großbritannien und Irland stammenden Miesmuscheln. Während des gerichtlichen Verfahrens - durch Bescheide vom 30. Juni 2008 und 31. August 2011 - haben das Amt bzw. sein Rechtsnachfolger, das Landesamt für Landwirtschaft , Umwelt und ländliche Räume (Abteilung Fischerei) weitere Befreiungen für das Einbringen von Miesmuscheln aus Großbritannien und Irland, zunächst befristet bis zum 30. Juni 2011, dann verlängert bis zum 31. Dezember 2016, erteilt. Begründet wurde das Erfordernis der Befreiungen damit, dass es in den schleswig-holsteinischen Küstengewässern, vermutlich wegen des Ausbleibens strengerer Winter, seit Jahren kaum noch zur Aussaat junger Miesmuscheln komme und die Betriebe der Beigeladenen daher ohne den Import ausländischer Muscheln zur Regeneration der Bestände wirtschaftlich nicht überleben könnten. Die Befreiungen seien zu erteilen gewesen, weil es in britischen und irischen Küstengewässern keine frei lebenden Organismen gebe, die als neue Muschelschädlinge oder Verursacher seuchenartiger Krankheiten eingeschleppt werden könnten.

3

Den (Befreiungs-) Bescheiden waren bzw. sind - außer den Befristungen - weitere Nebenbestimmungen beigefügt, u.a. die Auflage, die importierten Miesmuscheln vor dem Ausbringen auf die Kulturen mindestens 2 Stunden mit Süßwasser bedeckt zu halten, den vom 03. Januar 2007, 30. Juni 2008 und 31. August 2011 ferner die Auflage, ein sog. Monitoring durch Entnahme von Stichproben aus den importierten Muscheln durchzuführen, um bei Feststellung einer exotischen, invasiven Art ggf. die Befreiung widerrufen zu können.

4

Im Hinblick auf die Lage der Ausbringungsflächen im FFH-Gebiet DE-0916-391 wurden vor der Erteilung der Befreiungen sog. Verträglichkeitsprüfungen durchgeführt. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Erhaltungsziele des FFH-Gebiets durch das Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln nicht zu erwarten sei. Das wird - zusammengefasst - z.B. in der Verträglichkeitsprüfung vom 24. Juni 2008 wie folgt begründet:

5

"In den britischen und irischen Küstengewässern gibt es nach Auswertung der aktuellen Artenlisten 36 exotische Arten, für die ein Nachweis in deutschen Küstengewässern fehlt. Für keine der Arten kann mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass durch Muschelimporte Individuen dieser Arten vital in die deutschen Küstengewässer eingebracht werden und dort auch Populationen ausbilden. Für die meisten der Arten stellen die Muschelimporte aber keinen primären Vektor dar. Von den Arten, für die angenommen werden muss, dass die Muschelimporte einen wesentlichen anthropogenen Vektor darstellen, besteht in 2 bzw. 6 Fällen eine etwas erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sich Populationen dieser Arten in der deutschen Bucht etablieren werden. In den Monitoringproben des Jahres 2007 war eine dieser Arten (Tricellaria inopinata) enthalten. Für keine dieser Arten ist ein invasives Verhalten oder negative Auswirkungen auf menschliche Gesundheit oder die Wirtschaft bekannt."

6

Mit Schreiben vom 31. Mai 2007 beantragte u.a. der Kläger beim Rechtsvorgänger des Beklagten, dem Landesamt für den "Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer", im Wege behördlichen Einschreitens umgehend das weitere naturschutzrechtlich genehmigungsbedürftige, aber nicht genehmigte Ausbringen von Miesmuscheln zu verhindern und auf der Grundlage des § 34 Abs. 5 LNatSchG 2007 anzuordnen, dass die naturschutzrechtlich ungenehmigt bereits angesiedelten oder ausgesetzten Muscheln wieder beseitigt würden. Diese Anträge lehnte das Landesamt durch Bescheid vom 13. September 2007 ab. Zur Begründung führte es aus: Es lägen keine Erkenntnisse dafür vor, dass andere Miesmuschelarten als die Mytilus edulis ausgesetzt und angesiedelt worden seien. Da diese Miesmuschelart im schleswig-holsteinischen Wattenmeer heimisch sei, seien weder Befreiungen nach dem Nationalparkgesetz noch nach dem Landesnaturschutzgesetz erforderlich. Das Einbringen importierter Miesmuscheln dieser Art sei eine im Nationalpark zulässige Nutzung. Zudem seien die den Beigeladenen erteilten fischereirechtlichen Erlaubnisse und Befreiungen bestandskräftig und deshalb auch für das Landesamt bindend.

7

Den Widerspruch des Klägers wies das Landesamt durch Bescheid vom 21. Dezember 2007 zurück. Zur Begründung wiederholte es im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Bescheid vom 13. September 2007 und betonte nochmals, dass Beteiligungsrechte des Klägers, aus denen er seinen Anspruch auf Einschreiten nur herleiten könnte, angesichts der nicht erforderlichen Befreiung von den Verboten des Nationalparkgesetzes und der nicht erforderlichen artenschutzrechtlichen Genehmigung nach § 34 LNatSchG 2007 nicht verletzt seien.

8

Am 28. Dezember 2007 hat der Kläger Klage erhoben.

9

Er hat beantragt,

10

den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide (seines Rechtsvorgängers) vom 13. September 2007 und 21. Dezember 2007 zu verpflichten, den Muschelfischereibetrieben der Beigeladenen das Einbringen der importierten Miesmuscheln einschließlich der Begleitarten in den Nationalpark "Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer" zu untersagen.

11

Der Beklagte und die Beigeladenen haben beantragt,

12

die Klage abzuweisen.

13

Wegen der erstinstanzlich von den Beteiligten zur Begründung dieser Anträge vorgebrachten Argumente nimmt der Senat gem. § 130 b S. 1 VwGO Bezug auf die entsprechenden Passagen im Tatbestand des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 18. November 2009, die er sich zu Eigen macht.

14

Mit diesem Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei unzulässig; denn Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Klägers als anerkannter Naturschutzverein seien nicht verletzt worden. In den Verfahren, die zur Erteilung der Befreiungen nach § 40 Abs. 5 LFischG geführt hätten, sei er nicht zu beteiligen gewesen. Außerdem habe diese Befreiungen nicht der Beklagte erteilt, sondern das Amt für ländliche Räume Kiel als obere Fischereibehörde. Der Beklagte selbst (bzw. sein Rechtsvorgänger) habe keine Befreiungen von Verboten zum Schutz des Nationalparks und von Verboten und Geboten zum Schutz des FFH-Gebiets erteilt. Er habe auch nicht Projekte oder Pläne nach § 30 Abs. 4 und 5 LNatSchG 2007 zugelassen, bei denen die Verträglichkeitsprüfung ergeben habe, dass sie zu erheblichen Beeinträchtigungen des FFH-Gebiets führten. Allerdings könne ein anerkannter Naturschutzverein, wenn ein naturschutzrechtliches Befreiungsverfahren, an dem er zu beteiligen gewesen wäre, nicht durchgeführt werde, beanspruchen, dass die zuständige Behörde alle Maßnahmen unterbinde, die ohne das an sich erforderliche Befreiungsverfahren durchgeführt würden. Diesen Anspruch könne der Kläger jedoch nicht geltend machen, weil der Beklagte ein Verfahren zur Erteilung einer Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG, das die Einbringung standortfremder Pflanzen und gebietsfremder Tiere untersage, zu Recht nicht durchgeführt habe. Eine Befreiung von diesem Verbot sei nicht erforderlich gewesen, weil das Aussetzen von aus Großbritannien und Irland importierten Miesmuscheln Muschelfischerei im Sinne des § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG sei und es sich deshalb um eine im Nationalpark nach dieser Vorschrift zulässige Nutzung handele. Abgesehen davon, würden mit der Aussetzung der importierten Miesmuscheln keine gebietsfremden Arten angesiedelt. Die bloß mögliche, nicht gewollte Einbringung von an den importierten Miesmuscheln anhaftenden gebietsfremden Arten oder von Miesmuscheln anderer Arten - wenn es solche anderen Arten überhaupt gebe - verstoße nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 04. Dezember 2008 nicht gegen das Einbringungs- und Aussetzungsverbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG und entsprechender allgemeiner artenschutzrechtlicher Vorschriften.

15

Das Urteil wurde dem Kläger am 19. April 2010 zugestellt. Am 10. Mai 2010 hat er einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, am 21. Juni 2010, einem Montag, hat er den Antrag begründet. Der Senat hat diesem Antrag durch Beschluss vom 05. November 2010 auf der Grundlage des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO entsprochen. Mit Schriftsatz vom 09. Dezember 2010 - eingegangen innerhalb der vom Vorsitzenden verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 22. Dezember 2010 - begründet der Kläger seine Berufung zusammengefasst wie folgt: Seine Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsrechte aus § 59 Nr. 5 LNatSchG a.F. seien dadurch verletzt bzw. umgangen worden, dass eine Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG, Pflanzen standortfremder Arten einzubringen oder Tiere solcher Arten auszusetzen, die im Nationalpark nicht ihren Lebensraum hätten, nicht erteilt worden sei. Eine solche Befreiung sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hier erforderlich gewesen. Dass mit den aus britischen und irischen Küstengewässern importierten Miesmuscheln standortfremde, nicht heimische Arten in den Nationalpark eingebracht würden, sei nach den Ergebnissen der untersuchten Stichproben nicht zweifelhaft. Dabei gehe es nicht nur um die sog. Begleitarten und andere Miesmuschelarten als die der Art Mytilus edulis, sondern auch die aus britischen und irischen Küstengewässern stammende Miesmuschel der Art Mytilus edulis sei eine biologisch und geographisch abgrenzbare Teilpopulation und damit eine Art, die im Nationalpark nicht ihren Lebensraum habe. Schon gar nicht gebe es eine nordostatlantische Artengemeinschaft in dem Sinne, dass alle Arten, die in diesem geographischen Bereich an irgendeiner Stelle vorkämen, in dem gesamten Bereich nicht standortfremd seien. Angesichts dessen, dass aufgrund der untersuchten Stichproben feststehe, dass mit den importierten Miesmuscheln standortfremde Arten ins Wattenmeer eingebracht würden, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass das unabsichtlich, bloß fahrlässig, geschehe. Das Urteil des EuGH vom 04. Dezember 2008, auf das sich die anderen Verfahrensbeteiligten und das Verwaltungsgericht zur Stützung ihrer gegenteiligen Auffassung beriefen, sei nicht einschlägig. Das Einbringen importierter Miesmuscheln sei auch keine im Nationalpark ausdrücklich zugelassene Maßnahme oder Nutzung. Es sei insbesondere keine nach § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG zulässige Muschelfischerei nach Maßgabe der §§ 40 und 41 LFischG. Das ergebe sich zum einen aus der Begriffsbestimmung der Fischerei in § 3 LFischG, zum anderen aus den Vorschriften des Nationalparkgesetzes selbst, die zwischen dem Einbringen bzw. Aussetzen und der Fischerei unterschieden (§ 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 / § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 7). Gegen die Annahme, dass mit einer Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG vom Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG auch das Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG überwunden werde, spreche ferner, dass die Verbotstatbestände nicht identisch seien und vor allem artenschutzrechtliche Aspekte bei der Prüfung, ob eine Befreiung nach der genannten fischereirechtlichen Vorschrift zu erteilen sei, keine Rolle spielten und spielen dürften. Auch eine Beteiligung der obersten Naturschutzbehörde - wie im Falle der Erlaubnis nach § 40 Abs. 1 LFischG - oder anderer Naturschutzbehörden oder -verbände sei nicht vorgesehen. Des Weiteren sei auch der Verbotstatbestand des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 7, 2. Alternative, NPG erfüllt, und auch dieser Verstoß werde nicht über § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG "sanktioniert". Der eben dargelegten Auffassung, dass das - artenschutzrechtliche - Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG nicht über § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG durch die - fischereirechtliche - Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG verdrängt werde, stehe auch nicht die sog. Unberührtheitsklausel des § 39 Abs. 2 BNatSchG a.F. entgegen. Entsprechendes gelte für den - durch das Einbringen importierter Miesmuscheln gegebenen - Verstoß gegen das allgemeine artenschutzrechtliche Verschlechterungsverbot aus § 34 Abs. 4 S. 1 LNatSchG a.F. .

16

Der Kläger verweist zur Begründung dafür, dass seine Mitwirkungsrechte verletzt seien, ferner auf das beim Verwaltungsgericht anhängige Verfahren mit dem Az. 7 A 114/10, in dem er zunächst die Aufhebung des Befreiungsbescheids vom 30. Juni 2008 beantragt hatte und nunmehr die Aufhebung des Befreiungsbescheids vom 31. August 2011 beantragt: Die im Rahmen der Befreiungsentscheidungen durchgeführten Verträglichkeitsprüfungen seien zu dem Ergebnis gekommen, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Erhaltungsziele des FFH-Gebiets nicht zu besorgen sei. Das sei falsch, weil die - spezialgesetzlich - im Nationalparkgesetz enthaltenen Schutzzwecke bzw. Erhaltungsziele, vor allem die bezüglich des Artenschutzes, bei den Prüfungen "außer Blick" geraten seien. Hätte man richtigerweise eine erhebliche Beeinträchtigung angenommen, hätte nach § 30 Abs. 4 LNatSchG a.F. geprüft werden müssen, ob das Einbringen importierter Miesmuscheln unter den in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen dennoch hätte zugelassen werden können. An diesem Verfahren wäre er, der Kläger, zu beteiligen gewesen.

17

Der Kläger beantragt,

18

das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem Klagantrag zu erkennen,

19

hilfsweise, durch Einholung von Sachverständigengutachten Beweis über die Fragen zu erheben,

20

a) ob es sich bei den aus Großbritannien und Irland eingeführten Muscheln der Art Mytilus edulis um eine biologisch oder geographisch abgrenzbare Teilpopulation und damit um eine Art handelt, die im Nationalpark nicht ihren Lebensraum hat,

21

b) mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit beim Import von Muscheln der Art Mytilus edulis aus Großbritannien und Irland unvermeidbar auch Exemplare der Mittelmeermiesmuschel (Mytilus galloprovincialis) eingeführt werden.

22

Der Beklagte und die Beigeladenen beantragen,

23

die Berufung zurückzuweisen.

24

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und wiederholen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen.

25

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Berufungsverfahren wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie die Gerichtsakte des Verfahrens 7 A 114/10 (nebst Beiakten) verwiesen. Deren Inhalt ist - soweit erforderlich - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

26

Die (zulässige) Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 13. September 2007 und der ihn bestätigende Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2007 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Er kann beanspruchen, dass der Beklagte den Beigeladenen das Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln in den Nationalpark "Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer" untersagt.

27

Grundlage dieses Anspruchs ist die Verletzung der Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsrechte des Klägers, eines anerkannten Naturschutzvereins im Sinne des § 58 LNatSchG (vom 06.03.2007 = a.F.), § 3 des Umweltrechtsbehelfsgesetzes (URG): Wird ein naturschutzrechtliches Befreiungsverfahren, an dem ein solcher anerkannter Naturschutzverein zu beteiligen gewesen wäre, rechtswidrigerweise nicht durchgeführt, kann der Verein beanspruchen, dass die zuständige Behörde die Maßnahmen oder Handlungen unterbindet, für die die erforderliche Befreiung nicht eingeholt und bezüglich derer sein Beteiligungsrecht somit vereitelt worden ist; denn die Vereitelung dieses Rechts darf nicht sanktionslos bleiben, das behördliche Eingriffsermessen ist insoweit auf Null reduziert (Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 15.12.2008 - 4 ME 315/08 -, NuR 2009, 130 m.w.N.; OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 06.11.2006 - 2 M 311/06 -, NuR 2007, 208; Thüringer OVG, Urt. v. 02.07.2003 - 1 KO 289/02 -, NuR 2004,325; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 14.05.1997 - 11 A 43.96 -, BVerwGE 104, 367 ff, 373). Die Voraussetzungen für diesen Anspruch sind hier gegeben.

28

Für das Aus- bzw. Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln in die Gewässer des Nationalparks "Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer" bedurfte es nach § 6 Abs. 4 S. 2 NPG einer Befreiung von der Schutzbestimmung des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG, nach der es nicht zulässig ist, in den Nationalpark Pflanzen standortfremder Arten einzubringen oder Tiere solcher Arten auszusetzen, die dort nicht ihren Lebensraum haben. Diese Befreiung ist nicht beantragt und erteilt worden, so dass der Kläger um sein Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsrecht aus § 59 Nr. 5 LNatSchG a.F. (vgl. jetzt: § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG in der Fassung vom 29.07.2009 = BNatSchG n.F.) "gebracht" worden ist. Nach dieser Bestimmung ist anerkannten Naturschutzvereinigungen vor der Erteilung von Befreiungen von Geboten und Verboten zum Schutz (u.a.) von Nationalparken Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben.

29

Gegen das Erfordernis einer Befreiung von der Schutzbestimmung des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG wenden der Beklagte und die Beigeladenen ein, das Aus- bzw. Einbringen der importierten Miesmuscheln in den Nationalpark sei aufgrund der dafür erteilten Befreiungen nach § 40 Abs. 5 LFischG (von dem Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG) eine "ausdrücklich zugelassene Maßnahme und Nutzung" im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 1 NPG, nämlich Muschelfischerei nach Maßgabe der §§ 40 und 41 LFischG (§ 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG), und deshalb bedürfe es keiner - zusätzlichen - Befreiung von der Schutzbestimmung des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG. Diese Einwendung schlägt nicht durch.

30

Es erscheint schon zweifelhaft, ob das Aus- bzw. Einbringen importierter Miesmuscheln in die zum Nationalpark gehörenden Küstengewässer (Muschel-) "Fischerei" ist. Zwar gehört nach der Begriffsbestimmung in § 3 Abs. 1 LFischG zur Fischerei nicht nur das Fangen und das Sich-Aneignen von Fischen und Muscheln (vgl. § 2 Abs. 1 LFischG), sondern auch die Hege. Diese umfasst u.a. den Aufbau und die Erhaltung eines artenreichen, heimischen und gesunden Fisch- und Muschelbestands. Jedoch liegt es angesichts dessen, dass das Aus- bzw. Einbringen importierter Muscheln wegen der damit verbundenen Gefahr des Einschleppens von seuchenartigen Krankheiten und Muschelschädlingen nach § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG im Grundsatz verboten ist, eher fern, dieses als Hegemaßnahme einzuordnen und zu bewerten. Der oben dargestellten Argumentation des Beklagten und der Beigeladenen könnte daher allenfalls dann nähergetreten werden, wenn sich der Gesetzgeber im § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG durch die darin enthaltene Bezugnahme auf die §§ 40 und 41 LFischG von der - allgemeinen - Begriffsbestimmung der Fischerei in § 3 Abs. 1 LFischG gelöst hätte. Das ist bezüglich der Muschelzucht der Fall. Zwar wird in § 40 Abs. 1 S. 1 LFischG noch zwischen Muschelfischerei und Muschelzucht unterschieden. Dass der Begriff der Muschelfischerei in § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG aber auch die Muschelzucht umfassen soll, ergibt sich aus der Bezugnahme auf § 41 LFischG, in dem die Anlage von Muschelkulturen in den Küstengewässern geregelt wird. Das Aus- bzw. Einbringen importierter Muscheln ist allerdings - entgegen der Auffassung des Beklagten - keine Muschelzucht und damit unter diesem Gesichtspunkt keine Muschelfischerei im Sinne des § 6 Abs. 3 Nr. 2 NPG. Der Begriff "Zucht" beinhaltet mehr als das bloße Aussetzen und das sich anschließende Sich-Selbst-Überlassen, um das es hier geht. Er erfordert eine gewisse Kontrolle über die ausgesetzten Muscheln, wie das - beispielsweise - bei Aquakulturen der Fall ist, und eine gewisse Zielrichtung, die über die bloße "wilde", unkontrollierte Vermehrung hinausgeht (eine Zielrichtung, wie sie beispielsweise von der Erzeugerorganisation der schleswig-holsteinischen Muschelzüchter mit dem Projekt "Forschungsprojekt zur Aufzucht und Gewinnung von Miesmuschelsaat" in der Salzwasserlagune des Beltringharder Koogs verfolgt worden ist, vgl. dazu den Beschluss des Senats vom 01.11.2010 - 1 LA 31/10 -). Ob die Abkehr von der - allgemeinen - Begriffsbestimmung der Fischerei nicht nur bezüglich der Muschelzucht, sondern auch bezüglich des (von ihr somit nicht umfassten) Aus- bzw. Einbringens importierter Muscheln durch die pauschale - nicht, wie in § 6 Abs. 2 Nr. 2 NPG, auf den ersten Absatz beschränkte - Bezugnahme auf § 40 LFischG erfolgen sollte, kann hier jedoch letztlich dahingestellt bleiben; denn die obige Einwendung des Beklagten und der Beigeladenen griffe auch dann nicht durch, wenn man das unterstellte:

31

Eine "ausdrücklich zugelassene Maßnahme und Nutzung" im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 1 NPG kann zur Überzeugung des Senats keine Maßnahme oder Nutzung sein, die - wie hier das Aus- bzw. Einbringen importierter Muscheln nach § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG - ausdrücklich verboten und nur über eine Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG im betreffenden Einzelfall zugelassen worden ist. Das ergibt sich aus der Gesetzessystematik. Die ausdrücklich zugelassenen Maßnahmen und Nutzungen sind in den Absätzen 1 bis 3 des § 6 NPG enumerativ und abschließend - generalisierend - aufgeführt. Soweit sich eine generell zugelassene Maßnahme / Nutzung im Rahmen einer erteilten Erlaubnis zu halten hat und durch diese beschränkt wird, wird das ausdrücklich erwähnt (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 2 NPG). Entsprechendes findet sich bezeichnenderweise für - von bloßen Erlaubnissen zu unterscheidende - Befreiungen nicht in dem "Katalog" des § 6 Abs. 1 - 3 NPG (etwa des Inhalts: "im Rahmen einer Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG"). Soweit eine Maßnahme / Nutzung über den generell zugelassenen Rahmen hinausgehen soll, wird das Erfordernis einer gesonderten - im Einzelfall zu erteilenden - Genehmigung durch die für den Nationalpark zuständige Behörde, also den Beklagten, besonders hervorgehoben (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 4 NPG; vgl. auch § 6 Abs. 2 Nr. 3 NPG: Einvernehmen der für den Nationalpark zuständigen Behörde erforderlich). Wenn jedoch bereits für das bloße Überschreiten des Rahmens einer generell zulässigen Maßnahme / Nutzung eine Genehmigung der für den Nationalpark zuständigen Behörde oder zumindestens ihr Einvernehmen erforderlich ist, verbietet sich die Annahme, dass für eine Befreiung von einem in einer in Bezug genommenen Vorschrift enthaltenen Verbot für eine bestimmte Maßnahme / Nutzung keine Genehmigung der für den Nationalpark zuständigen Behörde eingeholt werden muss.

32

Ein anderes Ergebnis - keine zusätzliche Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG neben der Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG von dem Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG erforderlich - ließe sich allenfalls dann rechtfertigen, wenn mit den von der oberen Fischereibehörde erteilten Befreiungen von dem Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG auch der Verbotstatbestand des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG mit "abgedeckt" würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Die genannten Verbotstatbestände unterscheiden sich sowohl von ihrem Inhalt bzw. ihrer Reichweite als auch hinsichtlich ihrer Zielsetzung:

33

Nach § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG ist es verboten, Muscheln, die aus Gebieten außerhalb der schleswig-holsteinischen Küstengewässer stammen, in schleswig-holsteinische Gewässer auszubringen. Das können Muscheln sein, die im Nationalpark nicht ihren Lebensraum haben - insoweit wäre zugleich der Verbotstatbestand des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG betroffen -, ferner solche, die zwar im Nationalpark ihren Lebensraum haben, wie Miesmuscheln der Art Mytilus edulis, die aber nicht aus schleswig-holsteinischen, sondern beispielsweise aus hamburgischen oder niedersächsischen Küstengewässern stammen; insoweit wäre der Verbotstatbestand des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG nicht gleichzeitig einschlägig. Allerdings ist auch der umgekehrte Fall möglich: Das Aus- bzw. Einbringen von Muscheln in den Nationalpark, die zwar aus schleswig-holsteinischen Küstengewässern stammen, z.B. denen an der Ostseeküste, die aber im Nationalpark nicht ihren Lebensraum haben, ist nach § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG verboten, nach § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG dagegen nicht. Diese Unterschiede bezüglich des Anwendungsbereichs der Verbotstatbestände resultieren aus den unterschiedlichen Zielen und Zwecken, die mit diesen Verboten verfolgt werden und die im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Bedeutung gewinnen: Das Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG knüpft ausschließlich an die Herkunft der Muscheln aus Gebieten außerhalb der schleswig-holsteinischen Küstengewässer an. Sein Zweck ist es, das Einschleppen von seuchenartigen Krankheiten und Muschelschädlingen zu verhindern. Das ist ein (fischerei-) wirtschaftlicher Zweck. Es geht darum, die Muschelwirtschaft vor den - wirtschaftlichen - Schäden durch eingeschleppte Seuchen und Muschelschädlinge zu bewahren, nicht dagegen um die Wahrung der Belange des Artenschutzes, d.h. den Schutz der im Nationalpark natürlich vorkommenden Tierarten vor der "Konkurrenz" durch dort nicht heimische Arten und vor der Störung und der Veränderung ihrer natürlichen Lebensstätten und Lebensbedingungen (vgl. § 2 Abs. 1 NPG, § 39 Abs. 1 BNatSchG vom 25.03.2002 = a.F., § 37 Abs. 1 BNatSchG n.F., Art. 22 Buchstabe b der FFH-Richtlinie). Dementsprechend kann und darf die Ablehnung eines Antrags auf Befreiung von dem Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG nicht darauf gestützt werden, dass durch das Aus- bzw. Einbringen importierter Muscheln artenschutzrechtliche Belange beeinträchtigt werden, sondern - tragend - nur darauf, dass dadurch seuchenartige Krankheiten und Muschelschädlinge eingeschleppt werden und wirtschaftliche Schäden entstehen könnten. Dass das Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG einen ausschließlich (fischerei-) wirtschaftlichen Zweck und Hintergrund hat, wird auch daraus deutlich, dass für die Befreiung von diesem Verbot auf der Grundlage des § 40 Abs. 5 LFischG - anders als bei der Erteilung der Erlaubnis nach § 40 Abs. 1 S. 1 LFischG (vgl. Abs. 1 S. 4) - nicht das Einvernehmen der obersten oder anderer Naturschutzbehörden vorgeschrieben ist. Das alles ist beim Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG anders: Es dient, indem es an die Gebiets- bzw. Standortfremdheit der eingebrachten bzw. ausgesetzten Arten anknüpft und diese zum maßgebenden Kriterium macht, ausschließlich dem Artenschutz. Das bedeutet (zusammengefasst), dass - abgesehen davon, dass für die Befreiungen verschiedene Behörden zuständig sind - eine Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG auch der Sache nach nicht gleichzeitig eine Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG beinhalten kann.

34

Das Erfordernis, eine zusätzliche Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG - unter Beteiligung des Klägers - einzuholen, entfällt auch nicht aufgrund der sog. Unberührtheitsklausel des § 39 Abs. 2 S. 1 BNatSchG a.F. / 37 Abs. 2 S. 1 BNatSchG n.F.. Danach bleiben u.a. die Vorschriften des Fischereirechts von den in dem betreffenden Abschnitt bzw. Kapitel des Bundesnaturschutzgesetzes und den aufgrund dieses Abschnitts bzw. Kapitels erlassenen Rechtsvorschriften unberührt. Diese Klausel greift hier schon deshalb nicht ein, weil sie nach dem eindeutigen Wortlaut der genannten Bestimmungen nur das Verhältnis des Fischereirechts zu den bundesrechtlichen artenschutzrechtlichen Bestimmungen des Abschnitts / Kapitels 5 des Bundesnaturschutzgesetzes und den aufgrund dieses Abschnitts / Kapitels erlassenen artenschutzrechtlichen Rechtsvorschriften regelt (Gellermann, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht, Komm., § 37 BNatSchG, Rn. 11). Zu letzteren gehört § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG nicht. Selbst wenn man das aber anders sähe, änderte das im Ergebnis nichts: Nach § 39 Abs. 2 S. 2 BNatSchG a.F. / 37 Abs. 2 S. 2 BNatSchG n.F. verbleibt es - vorbehaltlich der Rechte der Fischereiberechtigten - bei der Anwendung der Vorschriften des Abschnitts / Kapitels 5 des Bundesnaturschutzgesetzes und den auf deren Grundlage erlassenen artenschutzrechtlichen Vorschriften, soweit die fischereirechtlichen Vorschriften keine besonderen Bestimmungen zum Schutz der betreffenden Arten enthalten. Diese Voraussetzungen liegen hier vor: Das Landesfischereigesetz enthält - wie dargelegt - keine Bestimmungen, die es ermöglichten oder forderten, bei der Erteilung einer Befreiung von dem Verbot des § 40 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 LFischG artenschutzrechtliche Belange zu berücksichtigen. Es gibt auch keine Rechte der Fischereiberechtigten, die den artenschutzrechtlichen Belangen vorgingen. Solche Rechte können die Beigeladenen insbesondere nicht aus den erteilten Befreiungen nach § 40 Abs. 5 LFischG herleiten. Ob die derzeit noch aktuelle Befreiung vom 31. August 2011 zu Recht erteilt worden ist und ob diese ausreicht oder es daneben noch einer Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG bedarf, ist ja gerade Gegenstand des beim Verwaltungsgericht unter dem Az. 7 A 114/10 anhängigen und dieses Verfahrens. Schließlich ist auf die Vorschriften der §§ 41 Abs. 2 S. 2, S. 4 Nr. 3 BNatSchG a.F., § 34 Abs. 4 S. 1, S. 3 Nr. 2 und Nr. 3 LNatSchG a.F., § 40 Abs. 4 S. 1, S. 4 Nr. 3 BNatSchG n.F. hinzuweisen. Auch danach ist das Aussetzen, Ausbringen oder Ansiedeln von Pflanzen und Tieren gebietsfremder Arten ohne Genehmigung der zuständigen Naturschutzbehörde verboten. Das gilt ausdrücklich auch für das Ansiedeln solcher Tiere, die dem Jagd- oder Fischereirecht unterliegen.

35

Entgegen der Auffassung des Beklagten, der Beigeladenen und des Verwaltungsgerichts verstößt das Aus- bzw. Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln gegen das Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG. Es werden damit (auch) Tiere solcher Arten ausgesetzt, die im Nationalpark nicht ihren Lebensraum haben.

36

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die aus britischen und irischen Küstengewässern stammende Miesmuschel der Art Mytilus edulis - nur das Einbringen dieser Art wird mit den erteilten Befreiungen nach § 40 Abs. 5 LFischG gestattet - eine abgrenzbare Teilpopulation dieser Art und damit eine eigene Art ist, die im Nationalpark nicht ihren Lebensraum hat; denn selbst wenn man das verneinte, wäre der Verbotstatbestand des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG erfüllt. Mit den Miesmuscheln (der Art Mytilus edulis) gelangen andere Arten in die Gewässer des Nationalparks, die dort nicht ihren Lebensraum haben. Das ist auch als "Aussetzen" im Sinne dieses Verbotstatbestands zu werten.

37

Dass mit den "einige tausend Tonnen" (Verträglichkeitsprüfung vom 28. Dezember 2006, Ziff. 3.1; nach den Angaben der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung ca. 2000 bis 3000 t/Jahr) aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln auch sog. Begleitarten in das schleswig-holsteinische Wattenmeer und damit in den Nationalpark gelangen, ist unbestritten. Begleitarten sind Tiere und Pflanzen bzw. deren Fortpflanzungsstadien, die entweder lose zwischen den Muscheln liegen, in dem mit ihnen entnommenen Sediment, oder an diesen haften oder sich in der (Muschel-) Mantelhülle befinden oder sich als Parasiten in das Muschelgewebe "eingenistet" haben (Verträglichkeitsprüfung vom 28. Dezember 2006, Ziff. 3.3.1). Es gibt keine Methode - auch nicht die angeordnete zweistündige Bedeckung der Muscheln mit Süßwasser -, mit der gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass die Begleitarten mit in das Wattenmeer und damit in den Nationalpark gelangen (Verträglichkeitsprüfung vom 28. Dezember 2006, Ziff. 3.1). Darunter sind auch Arten, die im Nationalpark (bisher) nicht ihren Lebensraum haben. Das steht aufgrund der Verträglichkeitsprüfungen und der Ergebnisse der Untersuchungen der Monitoring-Stichproben fest. In der im Tatbestand zitierten "Zusammenfassung" der Verträglichkeitsprüfung vom 24. Juni 2008 heißt es, dass in den Monitoring-Stichproben des Jahres 2007 von den 2 bis 6 exotischen Arten, bei denen die Muschelimporte einen wesentlichen anthropogenen Vektor darstellten und bei denen eine etwas erhöhte Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie sich in der Deutschen Bucht - und damit im Nationalpark - etablieren würden, eine dieser Arten (Tricellaria inopinata) enthalten gewesen sei. In Ziff. 4.4.2 derselben Verträglichkeitsprüfung wird - nicht völlig übereinstimmend mit der eben wiedergegebenen "Zusammenfassung" - als Ergebnis des begleitenden Monitorings berichtet, dass in 7 Miesmuschelproben insgesamt 4 Arten festgestellt worden seien, die im schleswig-holsteinischen Wattenmeer bisher noch nicht nachgewiesen seien. Es handele sich um das Moostierchen Tricellaria inopinata (3 Einbringungsvorgänge), das Moostierchen Anguinella palmata (4 Einbringungsvorgänge), die Muschel Mercenaria mercenaria (Einzelfund) und die Assel Ciatura carinata (2 Einbringungsvorgänge). 2 dieser Arten (Tricellaria und Mercenaria) seien aufgrund der Verhältnisse in Großbritannien und Irland erwartet worden, die beiden anderen Arten würden nicht als exotische, sondern als der nordostatlantischen Artengemeinschaft zugehörig eingeordnet (vgl. die Untersuchungen von Lackschewitz zur Artenzusammensetzung von Proben, die aus aus dem Mündungsgebiet der Themse stammenden Miesmuschellieferungen gezogen wurden, vom 28. Februar 2007 und 19. April 2007 [Bl. 121 ff. und 151 ff. der Verwaltungsvorgänge]). Wenn die - auf beachtliche Gründe gestützte - Kritik des Klägers an der Art und Weise der Durchführung des begleitenden Monitorings und der dabei erfolgten "Artdiagnose" nur teilweise berechtigt wäre (vgl. die "Naturschutzfachliche Stellungnahme zu den Schriftsätzen von MLUR vom 26.05.2008 und der Beigeladenen vom 27.06.2008" = Anlage K 8, S. 6 ff.), würde sich die Zahl der mit den importierten Miesmuscheln in den Nationalpark gelangten, dort bisher nicht nachgewiesenen (Begleit-) Arten aller Voraussicht nach noch - über die 4 positiv festgestellten hinaus - erhöhen.

38

Angesichts dessen, dass somit festgestellt worden ist, dass mit den importierten Miesmuscheln - mindestens - 2 exotische Arten in das nicht zu ihrem Lebensraum gehörende schleswig-holsteinische Wattenmeer und damit in den Nationalpark gelangt sind (von denen eine - wie dargelegt - sogar das Potential hat, sich dort dauerhaft anzusiedeln), bedarf es keiner Auseinandersetzung mit den Versuchen des Beklagten und der Beigeladenen, über den Begriff der nordostatlantischen Artengemeinschaft die Zahl der im Nationalpark heimischen Arten auszudehnen - auf solche, die, wie z.B. das Moostierchen Anguinella palmata und die Assel Ciatura carinata, im Nationalpark bisher nicht nachgewiesen sind, aber zu dieser Artengemeinschaft gehören sollen. Trotzdem sei dazu - weil nicht entscheidungserheblich: in der gebotenen Kürze - Folgendes angemerkt: Die Artengemeinschaft der nordostatlantischen Küstengewässer, zu denen die Atlantikküste Frankreichs, die Küsten Großbritanniens, Irlands, der Färöer Inseln, aller Nordseeanlieger und des Baltikums gezählt werden und zu der alle Arten gehören sollen, für die kein anthropogener Eintrag in diese Gewässer bekannt ist (Verträglichkeitsprüfung vom 24. Juni 2008, Ziff. 3.2.3.2.1), gibt es nach Auffassung des Senats (derzeit noch) nicht. Zur Begründung verweist er auf die schon erwähnte "Naturschutzfachliche Stellungnahme zu den Schriftsätzen von MLUR vom 26.05.2008 und der Beigeladenen vom 27.06.2008" (Anlage K 8, S. 2 f.) sowie die "Naturschutzfachliche Stellungnahme zu der Genehmigung des Imports von Miesmuscheln in den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer bis zum 30. Juni 2011" (Anlage zur Widerspruchsbegründung, Ziff. 1, S. 1 bis 4). Die darin enthaltenen Ausführungen sind überzeugend, der Senat macht sie sich daher zu Eigen. Vergeblich berufen sich der Beklagte und die Beigeladenen auch auf die Begriffsbestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 vom 11. Juni 2007 über die Verwendung nicht heimischer und gebietsfremder Arten in der Aquakultur. Zum einen ist diese Verordnung auf den hier zu beurteilenden - anderen - Sachverhalt nicht anwendbar. Zum anderen - und das vor allem - ist nicht entscheidend, dass nach dieser Verordnung für die Klassifizierung einer Art als heimisch bereits ausreicht, wenn der Bereich, in dem sie ausgebracht wird, zu ihrem "potentiell" natürlichen Verbreitungsgebiet gehört und sie auch nicht aus biogeographischen Gründen gehindert ist, dieses Gebiet zu erreichen (vgl. Art. 3 Ziff. 6 Buchstabe a und Ziff. 7). Vielmehr ist maßgeblich, wie die hier in Rede stehende Schutzbestimmung des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG diese Begriffe definiert. Danach ist für die Klassifizierung einer Art als standortfremd oder heimisch darauf abzustellen, ob sie im Nationalpark ihren Lebensraum "hat" oder nicht, nicht dagegen darauf, ob sie ihn dort "haben könnte" oder "nicht haben könnte". Auch nach der Begriffsbestimmung im Bundesnaturschutzgesetz (§ 10 Abs. 2 Nr. 6 a.F., 7 Abs. 2 Nr. 8 n.F.) ist für die Klassifizierung maßgebend, ob die Art in dem betreffenden Gebiet in freier Natur vorkommt oder nicht, und nicht, ob sie dort vorkommen oder nicht vorkommen könnte. Im Übrigen spricht Erhebliches dafür, dass sich auch bei Zugrundelegung der Begriffsbestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 kein anderes Ergebnis ergäbe. Der Senat nimmt insoweit Bezug auf die Ausführungen in der "Vorläufigen naturschutzfachlichen Auswertung des begleitenden Monitorings zum Saatmuschelimport 2007" vom 22. Januar 2008 (durch die Nationalparkbehörde). Dort heißt es auf S. 3:

39

"… Da das europäische Wattenmeer eine gut abgrenzbare biogeographische Einheit ist, deren Lebensgemeinschaft sich von anderen biogeographischen Einheiten unterscheidet, ist dies die Gebietseinheit, die für eine Bewertung zugrunde gelegt werden kann. Arten, die im Wattenmeer nicht vorkommen, haben hier nicht ihren natürlichen Lebensbereich und unter den gegenwärtigen Bedingungen auch nicht ihr potentielles Verbreitungsgebiet, da das Wattenmeer ein offenes System ist. Wäre ein natürlicher Übertragungsvektor vorhanden (z.B. Meeresströmungen für pelagische Larvalstadien) und wären die Standortbedingungen geeignet, wären die Arten aus anderen Gebieten auch im Wattenmeer vorhanden. Arten, die im Wattenmeer nicht vorkommen, sind demnach hier auch nicht heimisch …"

40

Angemerkt sei ferner, dass der Senat davon ausgeht, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit den Muschelimporten auch die sog. Mittelmeermiesmuschel (Mytilus galloprovincialis), die im Verhältnis zur Nordseemiesmuschel (Mytilus edulis) nach der Begriffsbestimmung in § 10 Abs. 2 Nr. 3 BNatSchG a.F. / 7 Abs. 2 Nr. 3 BNatSchG n.F. eine eigene Art ist, in den Nationalpark gelangt. Sie ist bisher dort nicht nachgewiesen und hat damit dort nicht ihren Lebensraum. Ihre Einordnung durch die Fischereibehörden als nicht standortfremd beruht auf der Prämisse, dass es eine nordostatlantische Artengemeinschaft gibt und sie zu dieser gehört (vgl. den Vermerk vom 16.04.2008 über das Arbeitsgespräch der Abteilungen 2 und 4 des MLUR zu den Anträgen auf Muschelimporte ab 01.07.2008, S. 3), eine Prämisse, die der Senat - wie dargelegt - nicht teilt. Davon, dass die Mittelmeermiesmuschel mit den Muschelimporten in den Nationalpark gelangt, ist deshalb auszugehen, weil es in britischen, vor allem aber in irischen Küstengewässern, also den Herkunftsgebieten der Muschelimporte, erhebliche Bestände der Mittelmeermiesmuschel und von fertilen, d.h. fortpflanzungsfähigen Miesmuschelhybriden gibt. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf den in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Aktenvermerk über den "Import von Miesmuscheln aus irischen und britischen Gewässern in den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer" (Stand: 13.07.2007) und die "Naturschutzfachliche Stellungnahme zu der Genehmigung des Imports von Miesmuscheln in den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer bis zum 30. Juni 2011" (Anlage zur Widerspruchsbegründung) sowie die darin zitierten Quellen. Der in dem Aktenvermerk enthaltene Hinweis auf die Widersprüchlichkeit zweier Studien ändert nichts an dem grundsätzlichen Befund, dass in britischen und irischen Küstengewässern die Mittelmeermiesmuschel und Hybridformen nicht nur vereinzelt vorkommen: Die "total" unterschiedlichen Ergebnisse - einerseits: Mittelmeermiesmuscheln und Hybridformen dominieren, andererseits: praktisch keine Mittelmeermiesmuscheln festgestellt - betrafen nach ergänzenden Recherchen lediglich eine Probestelle (bei Wexford / Irland), bei zwei anderen identischen Probestellen gab es dagegen nur geringfügige Unterschiede (S. 2). Als Fazit zitiert der Verfasser des Vermerks dementsprechend einen der Begutachter der Proben mit der Aussage, dass - wenn man Muscheln aus Irland importiere - klar sei, dass man höchstwahrscheinlich auch einige Mytilus galloprovincialis mit "hereinnehmen" werde (S. 2). Auch die Biologin (Dr. …), die im Rahmen des begleitenden Monitoring Proben aus englischen Saatmuschellieferungen untersucht hat, schließt es aufgrund des Vorkommens der Mytilus galloprovincialis in englischen Küstengewässern nicht aus, dass diese Art in das schleswig-holsteinische Wattenmeer eingetragen werden könnte (Bericht vom 28.02. 2007, S. 7 u.). Dass sie sich so vorsichtig und zurückhaltend ausdrückt, beruht - wohl (nur) - darauf, dass sie die genetischen Untersuchungen, mit denen sie das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein dieser Art sicher hätte feststellen können, nicht durchgeführt hat. Dazu hatte sie auch keinen Auftrag. Weitere Proben sind gleichfalls nicht darauf untersucht worden, ob sie Exemplare der Mytilus galloprovincialis enthielten. Auch der neueste auf der Grundlage des § 40 Abs. 5 LFischG erteilte Befreiungsbescheid vom 31. August 2011 schreibt eine solche Untersuchung nicht vor. Offenbar nehmen es die Fischereibehörden aufgrund dessen, dass sie die Mytilus galloprovincialis der nordostatlantischen Artengemeinschaft zurechnen und sie sie daher - nach Auffassung des Senats zu Unrecht - als eine Art einordnen, die im Nationalpark ihren Lebensraum hat, bewusst in Kauf, dass sie mit den Muschelimporten dorthin gelangt.

41

Die Art und Weise, wie die 2 festgestellten exotischen Begleitarten (und die mindestens 2 weiteren nicht exotischen Begleitarten und höchstwahrscheinlich auch die Mytilus galloprovincialis, die - wenn man davon ausgeht, dass es die nordostatlantische Artengemeinschaft nicht gibt - im Nationalpark ebenfalls nicht ihren Lebensraum haben) in den Nationalpark gelangt sind und gelangen - zusammen mit den importierten Miesmuscheln der Art Mytilus edulis -, ist "Aussetzen" im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG. Die vom Beklagten, den Beigeladenen und dem Verwaltungsgericht unter Berufung auf das Urteil des EuGH vom 04. Dezember 2008 - C 249/07 - und Art. 3 Ziff. 10 der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 vertretene Auffassung, unter den Begriff des "Aussetzens" falle nur das absichtliche, zielgerichtete Aus- bzw. Einbringen von Arten, hier also das Aus- bzw. Einbringen der aus britischen und irischen Küstengewässern importierten Miesmuscheln der Art Mytilus edulis, nicht dagegen das Einbringen von Begleitarten (oder Miesmuscheln der Art Mytilus galloprovincialis), überzeugt nicht. Zwar erklärt der EuGH in diesem Urteil, in dem es um die Auslegung des Begriffs der "absichtlichen Ansiedlung" nicht heimischer Arten im Sinne des Art. 22 Buchstabe b der FFH-Richtlinie geht, seine Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs der "absichtlichen Tötung" im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Buchstabe a der FFH-Richtlinie nicht für übertragbar. Nach dieser Rechtsprechung reicht es für die Verwirklichung des Merkmals "Absicht" bereits aus, wenn der Handelnde die Tötung eines Exemplars einer geschützten Tierart in Kauf nimmt. Das soll für das absichtliche Ansiedeln nicht heimischer Arten im Sinne des Art. 22 Buchstabe b der FFH-Richtlinie nicht gleichermaßen gelten. Wenn sich bei der Umsetzung nicht standort- bzw. nicht gebietsfremder Muscheln lediglich das - bekannte - Risiko verwirklicht, dass z.B. an den Muscheln haftende Exoten, also nicht heimische Arten, an den betreffenden Orten eingebracht werden, soll das kein absichtliches Ansiedeln im Sinne des Art. 22 Buchstabe b der FFH-Richtlinie sein (Rn. 34 bis 37 des UA). Dieser - letztere - Rechtssatz ist jedoch wiederum auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Zum einen ist der Begriff des "Aussetzens" im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG nicht identisch mit dem Begriff der "absichtlichen Ansiedlung" im Sinne des Art. 22 Buchstabe b der FFH-Richtlinie: In § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG fehlt bereits der Zusatz "absichtlich". Außerdem wird mit "Ansiedlung" - auch schon ohne, aber erst recht mit dem Zusatz "absichtlich" - das planmäßige menschliche Vorgehen zum Aus- und Einbringen einer Art mit dem Ziel bezeichnet, dieser Art am betreffenden Ort eine neue Lebensstätte zu schaffen (Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht, Komm., § 41 BNatSchG, Rn. 24; Lorz/Müller/Stöckel, Naturschutzrecht, Komm., 2. Aufl. 2003, § 41 BNatSchG, Rn. 20; Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch, Komm. zum BNatSchG, 2. Aufl. 2003, § 41 Rn. 13). Diese Zielrichtung beinhaltet der Begriff "Aussetzen" nicht. Ein "Aussetzen" ist bereits gegeben, wenn eine Art in die Natur "entlassen" und dann sich selbst überlassen wird (Gassner u.a., a.a.O., 1. Aufl. 1996, § 20 d Rn. 9). Zum anderen unterscheidet sich der Fall des EuGH in tatsächlicher Hinsicht - entscheidend - von dem vorliegenden: Das Risiko, dass mit den umgesetzten Muscheln auch exotische Begleitarten eingebracht werden könnten, war im Fall des EuGH zwar bekannt (Rn. 37). Wie hoch dieses Risiko war, hatte der in jenem Fall beklagte Staat, die Niederlande, jedoch nicht nachgewiesen. Die von ihm vorgelegte Untersuchung reichte dem EuGH nicht aus, um "die sichere Bestimmung des Vorhandenseins oder des Umfangs des Risikos" einzuschätzen (Rn. 51). Diese Ausführungen lassen den Schluss zu, dass der EuGH - wenn die Niederlande durch geeignete Untersuchungen bzw. Gutachten nachgewiesen hätten, dass die Gefahr, dass sich das Risiko verwirklicht, sehr hoch ist - wohl ein absichtliches Ansiedeln bzw. - diesen Begriff verwendet der EuGH - eine absichtliche Einführung im Sinne eines In-Kauf-Nehmens der an den Muscheln haftenden Begleitarten angenommen hätte. Im vorliegenden Fall steht dagegen aufgrund der Untersuchungen der Stichproben im Rahmen des begleitenden Monitorings und der u.a. darauf gestützten Verträglichkeitsprüfungen fest, dass sich das Risiko, dass mit den importierten Miesmuscheln standortfremde Begleitarten in das Wattenmeer und damit in den Nationalpark gelangen, bereits verwirklicht hatte und dass somit auch das Risiko, dass das erneut geschieht, außerordentlich hoch ist. Diese dargelegten Unterschiede zum Urteil des EuGH und auch zur Definition des Begriffs der "Einführung" in Art. 3 Ziff. 10 der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 (als das absichtliche Verbringen einer nicht heimischen Art in ein Milieu außerhalb ihres natürlichen Lebensbereichs) rechtfertigen es, im Falle des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG den Tatbestand des "Aussetzens" bereits dann als erfüllt anzusehen, wenn sich die handelnden Personen beim Einbringen der aus britischen und irischen Küstengewässern importierten Miesmuscheln des - hohen - Risikos bewusst sind, dass damit auch standortfremde Begleitarten (oder auch Miesmuscheln der Art Mytilus galloprovincialis) in den Nationalpark gelangen, sie sich aber - um anderer Ziele Willen - damit abfinden bzw. das in Kauf nehmen. Dass die Beigeladenen beim Einbringen der importierten Miesmuscheln mit diesem bedingten Vorsatz, dem sog. dolus eventualis (vgl. dazu Lackner, Komm. zum StGB, 19. Aufl. § 15 Rn. 23 f.), spätestens seit dem Zeitpunkt handeln, seit dem sie die Ergebnisse des begleitenden Monitorings kennen, ist nicht zweifelhaft. Mit dieser Interpretation des Begriffs des "Aussetzens" befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit der Interpretation des - oben erwähnten - Tötungstatbestands aus Art. 12 Abs. 1 Buchstabe a der FFH-Richtlinie / § 42 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG a.F. / 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG n.F. durch das Bundesverwaltungsgericht: Dieses bejaht dessen - vorsätzliche - Verwirklichung z.B. durch eine Straßenbaumaßnahme dann, wenn sich dadurch das Tötungsrisiko für die betroffenen geschützten Tierarten in signifikanter Weise erhöht (u.a. Urt. v. 09.07.2008 - 9 A 14.07 - BVerwGE 131, 274 ff., Rn. 91). Auch durch das Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln erhöht sich - wie dargelegt - das Risiko, dass Arten in den Nationalpark gelangen, die dort nicht ihren Lebensraum haben, in signifikanter Weise. Abschließend sei zu diesem Komplex angemerkt, dass es für die Erfüllung des Verbotstatbestands des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG keine Rolle spielt, ob die in den im Rahmen des Monitorings gezogenen Stichproben festgestellten standortfremden Arten ein invasives Verhalten zeigen oder ob negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder auf die im Nationalpark erlaubten wirtschaftlichen Betätigungen durch sie zu erwarten sind.

42

Nach allem steht fest, dass es für das Aus- bzw. Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln in den Nationalpark neben der Befreiung nach § 40 Abs. 5 LFischG zusätzlich einer Befreiung von dem Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 NPG bedarf und das Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsrecht des Klägers dadurch verletzt worden ist, dass dieses Befreiungsverfahren nicht durchgeführt worden ist. Angesichts dessen kann es dahingestellt bleiben, ob Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsrechte des Klägers auch deshalb verletzt sind, weil das - nach seiner Auffassung zusätzlich erforderliche - "Abweichungsverfahren" nach § 30 Abs. 4 LNatSchG a.F. / 34 Abs. 3 BNatSchG n.F., an dem er zu beteiligen gewesen wäre (§ 59 Nr. 6 LNatSchG a.F., § 40 Abs. 2 LNatSchG n.F.), nicht durchgeführt worden ist.

43

Schließlich sind auch die vom Beklagten geäußerten Bedenken an seiner Passivlegitimation nicht berechtigt: Er war und ist als für den Nationalpark zuständige untere Naturschutzbehörde im Sinne des § 50 Abs. 1 Nr. 3 LNatSchG a.F. / § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 LNatSchG n.F. zuständig für das Einschreiten gegen Maßnahmen und Nutzungen, die - wie hier das Einbringen aus britischen und irischen Küstengewässern importierter Miesmuscheln - gegen Bestimmungen zum Schutz des Nationalparks, hier das Verbot des § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, verstoßen (§ 7 Abs. 2 NPG i.V.m. § 52 Abs. 1 LNatSchG a.F. / § 2 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 S. 1 LNatSchG n.F. unter Verweis auf § 3 Abs. 2 BNatSchG n.F.).

44

Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte und die Beigeladenen - anteilig - zu tragen, weil sie unterlegen sind (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Zulässigkeit, auch die Beigeladenen mit einem Teil der Verfahrenskosten zu belasten, ergibt sich aus § 154 Abs. 3 VwGO: Die Beigeladenen haben - wie dafür vorausgesetzt - Anträge gestellt.

45

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

46

Gründe, die die Zulassung der Revision rechtfertigten (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.


Tenor

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 2. Kammer, Einzelrichterin - vom 30.09.2014 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Antragsverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Antragsverfahren auf

15.000,00 Euro

festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Klägerin begehrt bauaufsichtliches Einschreiten der Beklagten gegen einen Wintergartenanbau des Beigeladenen. Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage mit Urteil vom 30.09.2014 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Anbau unterschreite zwar den vorgeschriebenen Abstand, doch sei das Ermessen der Beklagten nicht auf ein Einschreiten reduziert, da die Unterschreitung mit 8 cm eine kaum spürbare Bagatelle sei. Zudem liege eine unzulässige Rechtsausübung iSd § 242 BGB vor, da die Klägerin einen 1,8 m hohen und 40 m langen Flechtzaun errichtet habe, der den Eindruck einer geschlossenen Wand erzeuge und in den Abstandsflächen wegen gebäudegleicher Wirkungen unzulässig sei.

2

Ihren Antrag auf Zulassung der Berufung stützt die Klägerin auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 5 VwGO.

II.

3

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

4

1. Die von der Klägerin dargelegten Gründe lösen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des klagabweisenden Urteils des Verwaltungsgerichts aus.

5

1.1 Die Klägerin geht in ihrem Zulassungsantrag von dem - im erstinstanzlichen Ortstermin durch Messung ermittelten - Abstand zwischen der Wintergarten-Außenwand und dem (grenzständig errichteten) Holz-Flechtzaun von 2,92 m aus, mithin von einer Unterschreitung des nach § 6 Abs. 5 S. 1 LBO gebotenen Abstands um 8 cm; sie meint nur, es sei - zusätzlich - eine Breite von 20 cm im Bereich des Fundaments zu berücksichtigen. Das überzeugt nicht: Nach den von der Klägerin im erstinstanzlichen Termin überreichten Fotos ist das Fundament unterhalb der Grasnarbe nur (undeutlich) zu erkennen; es tritt in keiner Weise nach außen hervor. Ansatzpunkte für eine andere Beurteilung werden im Zulassungsantrag nicht dargelegt. Bei einer Unterschreitung des einzuhaltenden Abstands um 8 cm ist - wie das Verwaltungsgericht überzeugend ausgeführt hat - das Ermessen der Beklagten zum bauaufsichtlichen Einschreiten - sicher - nicht auf Null reduziert. Aus welchen Gründen dies im Hinblick auf die Breite des unter der Grasnarbe liegenden Fundaments anders sein soll, wird im Zulassungsantrag nicht dargelegt; Gründe dafür sind auch nicht ersichtlich.

6

1.2 Soweit die Klägerin die These angreift, sie könne sich nach Treu und Glauben auf einen Verstoß des Beigeladenen gegen § 6 Abs. 5 S. 1 LBO nicht mehr berufen, nachdem ihr Flechtzaun zu Lasten des Beigeladenen in vergleichbarer Weise gegen das Abstandsflächenrecht verstoße (S. 14 f. des Urt.-Abdr.), wird dadurch die erstinstanzliche Klagabweisung schon deshalb nicht in Frage gestellt, weil diese allein und selbständig tragend von den zu 1.1 behandelten Erwägungen gestützt wird.

7

Anzumerken bleibt, dass der 1,8 m bzw. 1,5 m hohe Flechtzaun dazu führt, dass die - geringfügige - Abstandsunterschreitung vom Grundstück der Klägerin aus praktisch nicht mehr wahrnehmbar ist, was - zusätzlich - gegen eine Reduzierung des Einschreitensermessens auf Null spricht. Auf die - von der Beklagten verneinte (Schriftsatz vom 05.01.2014) - Frage, ob der 40 m lange Flechtzaun von der unter dem 23.04.1993 erteilten Genehmigung für einen 32 m langen Flechtzaun gedeckt ist, kommt es entscheidungserheblich nicht an.

8

2. Die Frage, ob ein Einschreitensanspruch unabhängig von tatsächlichen Beeinträchtigungen bzw. ab welchem Maß (der Abstandsunterschreitung) besteht, rechtfertigt keine Berufungszulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

9

In der Rechtsprechung - auch - des Senats ist geklärt, dass eine Reduzierung des Einschreitensermessens erst bei mehr als lediglich geringfügigen Verstößen gegen nachbarschützende Baurechtsbestimmungen in Betracht kommt (vgl. zuletzt Beschl. des Senats vom 12.12.2014, 1 LA 57/14, n. v.; vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 13.12.1991, 3 S 2358/91, VBlBW 1992, 148).Die Ermessensentscheidung hat sich an der betroffenen Nachbarrechtsverletzung im Einzelfall zu orientieren. Maßgebend sind insoweit die Zahl und die Art der Verstöße gegen nachbarschützende Vorschriften sowie das konkrete Ausmaß der davon ausgehenden Beeinträchtigungen für das Nachbargrundstück (Urt. des Senats v. 19.04.2012, 1 LB 4/12, NordÖR 2013, 345 [bei Juris Rn. 26]; vgl. auch OVG Lüneburg, Urt. v. 16.02.2012, 1 LB 19/10, BeckRS 2012, 48458, bei juris Tn. 39 m.w.N.). Bei unzumutbaren Beeinträchtigungen wäre die Behörde „in aller Regel zum Einschreiten gegen illegale bauliche Anlagen oder Nutzungen verpflichtet, es sei denn, es stünden ihr sachliche Gründe für eine Untätigkeit zur Seite“ (VGH Mannheim, Beschl. v. 13.12.1991, 3 S 2358/91, VBlBW 1992, 148). Im vorliegenden Fall kann schon - im Ansatz - nicht von unzumutbaren Beeinträchtigungen des Grundstücks der Klägerin oder dessen baulicher Nutzung gesprochen werden.

10

3. Der gem. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemachte Verfahrensfehler rechtfertigt ebenfalls keine Berufungszulassung.

11

Selbst wenn es zutreffen sollte, dass das Verwaltungsgericht - trotz Erörterung der Abstandsproblematik und gerichtlicher „Vermessung“ des Abstandes in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung - nicht auf einen durch die Errichtung des 1,80 m hohen Flechtzauns der Klägerin bewirkten Abstandsverstoß hingewiesen haben sollte, läge darin kein Gehörsverstoß. Das Verwaltungsgericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten schon in der mündlichen Verhandlung auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinzuweisen und offenzulegen, wie es seine Entscheidung im Einzelnen zu begründen beabsichtigt. Anders ist es nur, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellen will, mit dem bzw. mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.06.2012, 5 B 5.12, [Juris Rn. 12]). Das war hier nicht der Fall, zumal dem von der Klägerin geltend gemachten Einschreitensanspruch schon von der Beklagten ein auf § 242 BGB gestützter Einwand entgegengesetzt worden war (S. 4 des Bescheides vom 23.04.2012). Dieser war zwar auf Verwirkung gestützt, deren Vorliegen das Verwaltungsgericht in seinem Urteil (S. 13 u. des Abdr.) hat dahin stehen lassen, doch konnte die Klägerin damit rechnen, dass ihr Begehren auch im Hinblick auf andere, für Abstandskonflikte typische Fallgruppen einer Treuwidrigkeit - wie hier der unzulässigen Rechtsausübung - überprüft werden würde.

12

Unabhängig davon würde die geltend gemachte Gehörsverletzung die erstinstanzliche Entscheidung nur „partiell“ betreffen, weil sie allein die (oben 1.2 behandelte) These betrifft, die Klägerin habe in vergleichbarer Weise wie der Beigeladene gegen das Abstandsflächenrecht verstoßen. Ist das angefochtene Urteil - wie hier - auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt (kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs das Gesamtergebnis des Verfahrens betrifft. Die Klagabweisung wird - wie ausgeführt - schon durch die (oben 1.1 behandelte) Ablehnung eines Einschreitensanspruchs der Klägerin gestützt, so dass das erstinstanzliche Urteil auf der geltend gemachten Gehörsverletzung - auch wenn sie vorläge - nicht beruhen kann. Ein Hinweis des Verwaltungsgerichts in dem von der Klägerin für richtig erachteten Sinne hätte sich auf das Ergebnis der Entscheidung nicht auswirken können, da die Klagabweisung daneben - tragend - auf die Verneinung eines Einschreitensanspruchs gestützt werden konnte.

13

4. Weitere Zulassungsgründe sind nicht dargelegt worden. Der Zulassungsantrag war deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist damit rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

14

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO nicht erstattungsfähig, weil er sich nicht am Zulassungsverfahren beteiligt hat.

15

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.

16

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 S. 5, 66 Abs. 3 S. 3 GKG).


Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - Einzelrichterin der 8. Kammer - vom 06. Dezember 2011 geändert:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 04. Februar 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2010 verpflichtet, gegen die auf dem Grundstück … (Flurstück …, Flur …, Gemarkung …) im Jahre 2007 errichtete Baulichkeit unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts weitergehend bauaufsichtlich einzuschreiten.

Die Kosten des Verfahrens haben die Beklagte und der Beigeladene je zur Hälfte zu tragen. Ihre außergerichtlichen Kosten tragen sie selbst.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Kostenschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der jeweils erstattungsfähigen Kosten abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger und der Beigeladene sind Nachbarn. Der Beigeladene hat auf seinem Grundstück - … in Kiel - eine Doppelgarage errichtet. Der Kläger verlangt von der Beklagten, dagegen bauaufsichtlich einzuschreiten.

2

Der Beigeladene hat nach Kauf seines Grundstücks im Jahre 1986 im Jahre 1991/92 eine Garage an der Grenze zum Nachbargrundstück gebaut. Das Gebäude hatte eine Länge von 11,50 m und eine Breite von 3,20 m. Der damalige Grundstücksnachbar hatte der Errichtung dieser Garage zugestimmt.

3

Diese Garage ist abgebrannt.

4

Ab Mitte 2007 begann der Beigeladene mit dem Neubau einer Doppelgarage. Das an der Grenze zum Grundstück des Klägers errichtete Gebäude hat eine Länge von 8,765 m und eine Breite von 6,500 m und ist mit einem Satteldach mit 45° Neigung ausgestattet, wobei das Dach auf der dem Grundstücks des Klägers zugewandten Seite einen 1 m breiten Traufüberstand hat. In Traufrichtung weist das Gebäude inklusive Dachüberstand und Regenrinne eine Länge von 9,335 m auf. Die an der Grenze zum Grundstück des Klägers errichtete Wand weist nach den Feststellungen der Beklagten auf dem Grundstück des Klägers eine Höhe von 2,80 m - gemessen von der vorgefundenen Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut - auf; die Wandhöhe beträgt ausgehend von dem Geländeverlauf auf dem benachbarten Grundstück des Klägers zwischen 3,05 m und 3,13 m. Die Garage weist zum Grundstück des Klägers hin keinerlei Fenster- oder Türöffnungen auf. An der westlichen (dem Grundstück des Beigeladenen zugewandten) Traufseite ist im Erdgeschoss eine Tür mit zwei Fenstern eingebaut, außerdem befinden sich in der Dachfläche zwei Dachflächenfenster. Im Nordgiebel ist im Erdgeschoss eine Tür und im Dachgeschoss eine weitere Tür mit zwei Fenstern eingebaut worden; dort war der Bau einer Außentreppe vorgesehen.

5

Mit Schreiben vom 20. Juni 2007 beantragte der Kläger ein baubehördliches Einschreiten der Beklagten, da die für eine Grenzgarage zulässige mittlere Wandhöhe von 2,75 m überschritten werde. Die Beklagte erließ zunächst eine Baueinstellungsverfügung, die auf den Widerspruch des Beigeladenen und nach Einschaltung des Innenministeriums (Fachaufsicht) wieder aufgehoben wurde. Mit Bescheid vom 04. Januar 2008 wurde ein baubehördliches Einschreiten abgelehnt. Nach Widerspruch und Untätigkeitsklage wurde in einem Ortstermin des Verwaltungsgerichts vom 31. Oktober 2008 festgestellt, dass die östliche Wandhöhe der Garage eine Höhe von 3,10 m - gemessen vom Grundstück des Kläger aus - aufweise und die Länge auf Grund der Dachkonstruktion mehr als 9 m betrage. Die Beklagte gab darauf die Erklärung zu Protokoll, gegen das streitbefangene Bauvorhaben auf dem Grundstück des Beigeladenen einzuschreiten.

6

Der Rechtsstreit wurde daraufhin in der Hauptsache für erledigt erklärt und das Verfahren eingestellt.

7

Durch bauaufsichtliche Anordnung vom 04. Februar 2009 gab die Beklagte dem Beigeladenen auf, (1) im Dachgeschoss die Fenster bis auf zwei sowie die Tür zurückzubauen, (2) die Querbalkenlage auf eine Höhe von maximal 2 m zu reduzieren und (3) die gesamte Dachlänge auf 9 m zu reduzieren; zugleich wurde ein Zwangsgeld angedroht.

8

Den Widerspruch des Beigeladenen gegen diese Verfügung wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2010 "teilweise" zurück und führte in den Gründen aus, die "verbleibende mittlere Wandhöhe von 3,10 m" (zum Grundstück des Klägers) werde geduldet, da davon keine besondere Störung des Nachbargrundstückes ausgehe. Der Widerspruch gegen die Reduzierung der Dachlänge werde zurückgewiesen und die Forderung, die Querbalkenlage auf eine Höhe von maximal 2 m zu reduzieren, werde nach Einzug einer vom Beigeladenen beabsichtigten Zwischendecke nicht mehr aufrecht erhalten. Das gleiche gelte für die Forderung, die Fenster im Dachgeschoss sowie die Türen zurückzubauen. Eine zu der Tür im Giebel führende Treppenanlage samt Podest sei genehmigungspflichtig und in den einzuhaltenden Abstandsflächen unzulässig.

9

Die dagegen gerichtete Klage des Beigeladenen blieb erfolglos (Urteil des Verwaltungsgerichts vom 06.12.2011, - 8 A 120/10 -).

10

Der Widerspruch des Klägers gegen die Verfügung vom 04. Februar 2009 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2010 mit der Begründung zurückgewiesen, ein weitergehendes Einschreiten könne der Kläger nicht beanspruchen.

11

Der Kläger hat dagegen am 27. Mai 2010 Klage erhoben, die das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 06. Dezember 2011 abgewiesen hat. Wegen der Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.

12

Gegen das am 27. Dezember 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 04. Januar 2012 die Zulassung der Berufung beantragt. Diesem Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 01. März 2012 entsprochen.

13

Der Kläger ist der Ansicht, er könne ein weitergehendes bauaufsichtliches Einschreiten beanspruchen. Die Beklagte habe dies im vorangegangenen Verwaltungsrechtsstreit durch die zu Protokoll abgegebene Erklärung, gegen das Bauvorhaben einschreiten zu wollen, verfahrenswirksam zugesichert. Diese Zusicherung schließe die Höhe der grenzständigen Wand der Garage ein. Die grenzständige Garage beeinträchtige nachbarliche Belange erheblich. Die Höhenüberschreitung sei nicht nur geringfügig und wirke sich - zusammen mit dem Satteldach mit 45° Dachneigung - dahingehend aus, dass der Garage eine "einfamilienhausgleiche" Größe und Massivität und eine bedrängende oder gar erdrückende Wirkung zukomme. Das optische Erscheinungsbild führe dazu, dass die Baulichkeit begrifflich keine Garage mehr sei und folglich auch abstandsflächenrechtlich nicht mehr privilegiert sei. Die Dimensionierung und die Ausgestaltung des Dachgeschosses als Aufenthaltsraum mit mehreren Fenstern sei mit einer Garage nicht vereinbar.

14

Der Kläger beantragt,

15

das erstinstanzliche Urteil vom 06. Dezember 2011 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 04. Februar 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2010 zu verpflichten, gegen die auf dem Grundstück … (Flurstück …, Flur …, Gemarkung …) im Jahre 2007 errichtete Baulichkeit bauaufsichtlich einzuschreiten,

16

hilfsweise,

17

den Beklagten zu einem Einschreiten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten.

18

Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,

19

die Berufung zurückzuweisen.

20

Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger könne ein weitergehendes Einschreiten gegen das Bauvorhaben des Beigeladenen nicht beanspruchen. Der im Vorprozess abgegebenen Zusicherung sei mit den angefochtenen Bescheiden hinreichend entsprochen worden; der Wortlaut der Zusicherung führe zu keiner Verpflichtung zur Vornahme ganz konkreter Maßnahmen. Auch bei einer Ermessensreduzierung bleibe ein Spielraum hinsichtlich der anzuwendenden Mittel. Selbst bei einer mittleren Wandhöhe der Garage von 3,10 m seien für den Kläger angesichts der Entfernung von 8 - 10 m zu seinem Haus keine spürbaren Beeinträchtigungen erkennbar. Belichtung, Besonnung und Belüftung seien nicht betroffen. Von der Garage gehe auch keine bedrängende oder erdrückende Wirkung aus. Einen Anspruch auf eine bestimmte Dachform oder einen bestimmten Anblick habe der Kläger nicht. Ein Anspruch auf Einschreiten folge auch nicht aus der Gefahr einer zweckentfremdeten Nutzung der Garage oder deren "einfamilienhausgleicher" Größe. Bei einer rechtswidrigen Nutzung könne diese untersagt werden, was hier aber nicht streitgegenständlich sei. Das Bauwerk entspreche dem Typus einer "Garage", wie sich aus dessen Position auf den Grundstück und dem Umstand ergebe, dass es ein Ersatzbau für eine vorher abgebrannte Garage errichtet worden sei. Die Fenster und die Dämmung im Dachgeschoss dienten - schlüssig - dem Zweck, dort im Winter Pflanzen zu lagern.

21

Der Beigeladene hält die Grenzgarage für zulässig. Sie sei an die Stelle der 1991/92 (seinerzeit) mit Zustimmung des Nachbarn genehmigten Garage auf der Höhe der damals hergestellten Fundamentplatte errichtet worden. Die Höhe sei allenfalls geringfügig durch eine neue Betonschüttung zur Herstellung der Fundamentplatte verändert worden.

22

Der Berichterstatter hat am 03. April 2012 einen Ortstermin durchgeführt und die Örtlichkeit in Augenschein genommen.

23

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die eingereichten Schriftsätze - nebst Anlagen - sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagte, die vorgelegen habe und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

24

Die zugelassene Berufung des Klägers ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 04. Februar 2009 und vom 19. Mai 2010 schöpfen den Anspruch des Klägers auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Begehren, gegen das Bauvorhaben des Beigeladenen bauaufsichtlich einzuschreiten, nicht aus. Die Beklagte ist deshalb verpflichtet, darüber eine erneute Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu treffen.

25

Das vom Beigeladenen errichtete Gebäude wäre als Garage gemäß § 69 Abs. 1 Nr. 1 a LBO 2000 bzw. § 63 Abs. 1 Nr. 1 b LBO 2009 genehmigungs-/anzeigefrei bzw. verfahrensfrei, wenn es sich dabei um eine notwendige Garage nach § 6 Abs. 10 LBO 2000 bzw. 6 Abs. 7 LB 2009 handelte. Nach den zuletzt genannten Vorschriften sind auf dem Baugrundstück Garagen in den Abstandsflächen und ohne eigene Abstandsflächen zulässig, sofern sie an keiner der jeweiligen Grundstücksgrenze eine größere Gesamtlänge als 9 m aufweisen und keine mittlere Wandhöhe von mehr als 2,75 m über der an der Grundstücksgrenze festgelegten Geländeoberfläche haben (§ 6 Abs. 10 Satz 2 LBO 2000, § 6 Abs. 7 Satz 2 LBO 2009). Eine "Garage" im Sinne der genannten Bestimmungen liegt auch dann vor, wenn das Gebäude nicht ausschließlich zur Unterbringung von Kraftfahrzeugen dient, sondern auch Nebenräume aufweist, die (nur) als Abstellraum genutzt werden können. Solche Nebenräume sind mit dem Hauptzweck "Garage" verträglich, wenn und soweit sie für die Nutzung des Gebäudes - insgesamt - nicht prägend und die Räume nicht zum dauernden Aufenthalt von Menschen geeignet sind (vgl. Domning/Möller/Suttkus, LBO, Stand: August 2010, § 6 Rn. 100, OVG Bautzen, Beschl. v. 22.08.2007, 1 B 862/06, LKV 2009, 32; VGH München, Beschl. v. 07.03.2006, 15 ZB 06.300, juris, Tn. 6). Für die in einem Garagengebäude untergebrachten Nebenräume, die auch im Keller oder im Dachraum liegen können, ist zu fordern, dass sie der prägenden Garagennutzung deutlich untergeordnet bleiben, so dass das gesamte Grenzgebäude gegenüber dem (Haupt-)Haus auch optisch noch als bloßes Nebengebäude in Erscheinung tritt. Insbesondere dürfen die Nebenräume nach ihrer Größe und Gestaltung den Rahmen eines unselbstständigen Teils der Garage nicht sprengen (vgl. VGH München, Beschl. v. 28.03.2007, 14 B 04.3492, juris, Tn. 16 m.w.N.).

26

Ein Gebäude, das den dargestellten Anforderungen entspricht, ist vom Nachbarn hinzunehmen. Es kann in aller Regel auch nicht als (planungsrechtlich) rücksichtslos eingeordnet werden. Für eine Grenzgarage, auf die ein 45°-Satteldach aufgebracht ist, gilt grundsätzlich nichts anderes. Dagegen verliert eine Grenzgarage, die sich nicht (mehr) im Rahmen der o.g. Vorgaben hält, ihre "Privilegierung" als ein Gebäude, das in den Abstandsflächen zulässigerweise errichtet werden kann. Daraus resultiert die Befugnis der Bauaufsichtsbehörde, zu Gunsten eines Nachbarn gegen die im Widerspruch zu den Vorschriften über den Grenzabstand errichtete Garage vorzugehen. Diese Befugnis steht im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde, so dass der Nachbar ihre Ausübung nur beanspruchen kann, wenn das Ermessen auf Grund der Umstände im Einzelfall auf Null reduziert ist. Das Ermessen wird beeinflusst - einerseits - durch Zahl und Art der Verstöße gegen nachbarschützende Vorschriften und - andererseits - durch das Ausmaß der davon ausgehenden Beeinträchtigungen für das Nachbargrundstück (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 16.02.2012, 1 LB 19/10, BeckRS 2012, 48458, bei juris Tn. 39 m.w.N.). Im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber (ausschließlich) solche Gebäude in den Abstandsflächen privilegiert, die über keine Aufenthaltsräume (§ 2 Abs. 7, § 51 LBO 2000; § 2 Abs. 5, § 48 Abs. 1 LBO 2009) verfügen, gewinnt das zu Gunsten des Nachbarn ausschlagende Ermessen der Bauaufsichtsbehörde in dem Maße an Gewicht, in dem das errichtete Gebäude objektiv zur Aufnahme von Aufenthaltsräumen geeignet ist. Ebenso, wie ein Nachbar ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen einen "isolierten" Aufenthaltsraum in den Abstandsflächen beanspruchen könnte, wird dies auch regelmäßig der Fall sein, wenn einer - ansonsten - privilegierten Grenzgarage ein zur Aufenthaltszecken geeigneter Raum hinzugefügt wird.

27

Die Beklagte hat zwar ihr Einschreitensermessen erkannt, bei ihrer Ermessensentscheidung aber die mit dem Bauvorhaben des Beigeladenen verbundenen Baurechtsverstöße nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in ihre Entscheidung eingestellt.

28

Entgegen der Ansicht des Klägers war die Beklagte insoweit allerdings nicht in einem bestimmten Sinne an die im Vorprozess (am 31.10.2008) abgegebene Zusicherung, gegen den Bau des Beigeladenen einschreiten zu wollen, gebunden. Die Zusicherung war zwar veranlasst durch die seinerzeit im Ortstermin getroffenen Feststellungen, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung zusammenfassend als "Mängelliste" bezeichnet hat. Sie war aber nicht auf einen bestimmten, später zu erlassenden Verwaltungsakt gerichtet. Die Beklagte hat das "Ob" des Einschreitens entschieden, das "Wie" aber einer weiteren Prüfung überantwortet.

29

Die Beklagte ist - danach - eingeschritten: Sie fordert einen Rückbau des Daches auf 9 m Länge. Ihre Forderung, im Dachraum die Querbalkenlage auf maximal 2 m Höhe zu reduzieren, hat sie im Widerspruchsbescheid insoweit modifiziert, als sie diese nicht mehr aufrecht erhalten wird, wenn der Beigeladene eine Zwischendecke eingezogen hat. Die Forderung, das Dachgeschoss bis auf zwei Fenster und die Tür zurückzubauen, hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid fallen gelassen.

30

Die damit umrissenen Entscheidungen werden den - nachbarrelevanten - Baurechtsverstößen durch das vom Beigeladenen errichtete Gebäude nicht hinreichend gerecht. Zwar ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der einzuhaltenden Wandhöhe (§ 6 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 LBO 2009/§ 6 Abs. 10 Satz 2 Nr. 2 LBO 2000) kein Einschreiten zu beanspruchen. Demgegenüber erfordert aber die Gestaltung des Dachraums über der Garage ein weitergehendes Einschreiten.

31

Was die Höhe der "Grenzwand" zum Grundstück des Klägers betrifft, kommt es auf die auf der Grundstücksseite des Beigeladenen festgestellte Wandhöhe an, nicht auf diejenige Höhe, die sich ausgehend von der Geländeoberfläche des Grundstücks des Klägers ergibt. Die Wandhöhe beträgt nach dem - insoweit beanstandungsfrei festgestellten - Aufmaß der Beklagten vom 16. April 2012 im Mittel 2,80 m, gemessen von der Geländeoberfläche auf dem Grundstück des Beigeladenen bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut (§ 6 Abs. 4 Satz 2 LBO 2000 = LBO 2009). Soweit der Kläger dagegen einwendet, das Messergebnis sei zu korrigieren, weil die Geländeoberfläche durch eine Aufschüttung verändert worden sei und die Traufhöhe (Dachrinne) höher liege als der Schnittpunkt Wand/Dachhaut, ist dem nicht zu folgen. Eine Veränderung der Geländeoberfläche ist im Zusammenhang mit der jetzt errichteten Garage nach Überzeugung des Gerichts allenfalls in geringem Umfange erfolgt, soweit die Fundamentplatte der alten (abgebrannten) Garage mit einer neuen Betonschicht übergossen worden ist. Im Übrigen ist - wie auch die Ortsbesichtigung ergeben hat - das Gelände auf dem Grundstück des Beigeladenen unverändert geblieben. In der mündlichen Verhandlung ist die Möglichkeit erörtert worden, dass die Geländeoberfläche im Zusammenhang mit dem Bau der alten Garage (1991/92) verändert worden ist. Dieser Bau ist seinerzeit mit Zustimmung des Nachbarn - des Rechtsvorgängers des Klägers - erfolgt; eine solche Zustimmung umfasst auch die Höhenlage des Baus. Die vom Kläger festgestellte Differenz der Geländehöhenpunkte zur Höhe des Sohlenfundaments der alten Garage (vgl. Anlage K5 zur Klageschrift, Schreiben v. 16.08.2007) mag eine Höhenveränderung im Zusammenhang mit dem Bau der alten Garage belegen, als Rechtsnachfolger des damaligen Grundstückseigentümers hat der Kläger diese jedoch hinzunehmen; die damals verwirklichte Geländehöhe ist dem Grundstück gleichsam "angewachsen" und das Recht des Klägers, auch gegen diese Aufschüttung vorzugehen, ist verwirkt. Damit ist die Beklagte von einem korrekten (unteren) Bezugspunkt für die Feststellung der Wandhöhe ausgegangen. In Bezug auf den oberen Bezugspunkt ist die Wandhöhe unabhängig von der Lage der Dachrinne (Traufe) von der Beklagten korrekt bestimmt worden. Der Beigeladene hat - damit - die zulässige Wandhöhe von 2,75 m um ca. 5 cm überschritten. Allein eine solche Überschreitung verpflichtet die Beklagte nicht zu einem bauaufsichtlichen Einschreiten, denn sie ist als eine Bagatelle einzustufen. Die Überschreitung des zulässigen Maßes ist derart geringfügig, dass weder öffentliche noch private nachbarliche Belange ernsthaft berührt werden; auch die dadurch bedingten Auswirkungen auf die Besonnung des Grundstücks des Klägers sind kaum spürbar (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 16.02.2012, a.a.O., Tn. 46).

32

Demgegenüber weicht das Bauvorhaben hinsichtlich des Dachraumes in einem Maße von den Privilegierungsvoraussetzungen in § 6 Abs. 10 LBO 2000 / § 6 Abs. 7 LBO 2009 ab, dass die Beklagte insoweit weitergehend einzuschreiten verpflichtet ist.

33

Der Kläger hat in Frage gestellt, ob das - von ihm als "einfamilienhausgleich" bezeichnete - Gebäude überhaupt noch als eine privilegierte Garage im Sinne der genannten Vorschriften angesehen werden kann, weil das Gebäude von seinem Dachgeschoss geprägt werde, das nach seinen Ausmaßen und seiner Gestaltung einen wärmegedämmten Ausbau zulasse sowie mit Fenstern und Türen sowie (Außen)Treppe ausgeführt werde; dies vermittle die "Anmutung" einer "hochwertigen" Nutzung. Die Frage, ob und ggf. inwieweit der Beigeladene - anstelle der (auch) in der mündlichen Verhandlung angegebenen Nutzung des Dachraumes als Abstellraum für Pflanzen - eine andere, insbesondere unzulässige Nutzung zu Aufenthaltszwecken beabsichtigt oder beabsichtigt hat, mag Spekulationen überlassen bleiben. Für die baurechtliche Beurteilung kommt es nicht darauf, sondern auf das objektive Erscheinungsbild und die Frage an, ob der als "Abstellraum" ausgewiesene Raum der prägenden Garagennutzung noch deutlich untergeordnet ist.  Das kann in Anbetracht der Gegebenheiten nicht mehr angenommen werden, und zwar auch dann nicht, wenn die (verbliebenen) Anordnungen der Beklagten (Dachlängenverkürzung, Zwischendecke) befolgt werden.

34

Der Dachgeschossraum wird nach seiner Größe, seiner Bauausführung (u.a. Isolierung) seiner Höhe und seiner Belichtung objektiv nicht mehr durch die Nutzung oder Funktion der darunter liegenden Garage (mit-)geprägt. Die Bodenfläche des Dachraums ist durch den 1 m breiten Dachüberstand auf der Westseite 7,50 breit, was bei 45° Dachneigung zu einer (zum Grundstück des Klägers zwar zurückversetzen, aber) höheren Firsthöhe führt. Im Inneren entsteht dadurch ein - größeres, geräumiges - Dachraumvolumen. Die Höhenlage der Querbalken (Kehlbalken) führt dazu, dass eine für Aufenthaltsräume erforderliche Höhe ohne Weiteres erreicht werden kann. Das Format der auf der Westseite angebrachten beiden Dachflächenfenster sowie der im Nordgiebel eingebauten zwei Fenster und der Tür führen dazu, dass der Dachraum objektiv für eine andere bzw. weitergehende Nutzung geeignet ist, als sie einem einfachen Neben- oder Abstellraum zuzuordnen ist.

35

Unter diesen Umständen ist die Beklagte unzureichend gegen das Bauvorhaben des Beigeladenen eingeschritten. Sie hat nicht hinreichend berücksichtigt, dass ein der Garage nicht mehr untergeordneter Dachraum die Privilegierung der Grenzgarage insgesamt in Frage stellt und dazu führt, dass der Nachbar dieses Gebäude - als "aliud" zu einer Grenzgarage - in den Abstandsflächen nicht mehr dulden muss.

36

Die Forderung nach Reduzierung der Dachlänge auf 9 m (wie in § 6 Abs. 10 S. 2 Nr. 1 LBO 2000 bzw. § 6 Abs. 7 S. 2 Nr. 1 LBO 2009 gefordert) ist für die erforderliche optische und funktionale Unterordnung des Dachraums unter den Zweck des Grenzgebäudes (Garage) wenig ergiebig. Das wäre hinsichtlich der im Dachraum herzustellenden Raumhöhe schon eher der Fall, weil die Raumhöhe die künftigen Nutzungsmöglichkeiten maßgeblich bestimmt. Insoweit hat die Beklagte allerdings die Klarheit der im Ausgangsbescheid verlangten Reduzierung der Querbalkenlage auf max. 2 m Höhe getrübt, indem sie im Widerspruchsbescheid ausgeführt hat, diese Forderung werde nicht mehr aufrecht erhalten, nachdem der Beigeladene eine Zwischendecke eingezogen haben wird. Unklar bleibt, in welcher Höhe die Zwischendecke eingezogen werden soll. Der vom Beigeladenen (im Ortstermin) geäußerte Wunsch, die Zwischendecke so einzuziehen, dass dadurch der Lichtraum der Dachflächenfenster nicht beeinträchtigt wird, deutet darauf hin, dass er eine größere Höhe als (nur) 2 m herstellen möchte. Die (Oberkante der) Dachflächenfenster kann indes als selbst geschaffener "Zwangspunkt" für die Festlegung der Höhe einer - die untergeordnete Raumnutzung gewährleistende - Zwischendecke nicht maßgeblich sein.

37

Eine hinreichende - optische und funktionale - Unterordnung des Dachraumes unter die Hauptnutzung des Gebäudes als Doppelgarage kann erst angenommen werden, wenn diese auf Dauer und verlässlich durch die bauliche Gestaltung des Dachraums zum Ausdruck kommt. Vorkehrungen, die (zunächst) eingebaut, später aber ohne größeren Aufwand wieder entfernt werden könnten, genügen insoweit nicht.

38

Die Beklagte wird insoweit erneut zu entscheiden haben, in welcher Weise eine dauerhafte und verlässliche untergeordnete Ausgestaltung des Dachraumes als Nebenraum zur Doppelgarage sichergestellt werden kann. Dazu kann die Beklagte zwischen mehreren in Betracht kommenden Maßnahmen auswählen, die entweder als solche oder in ihrer Kombination dem geforderten Ziel dienen. So läge es im Rahmen des Ermessens, dem Umstand der Breite des Dachbodens von 7,50 m dadurch Rechnung zu tragen, dass die Dachneigung soweit reduziert wird, dass eine geringere Raumhöhe entsteht. Zur Vermeidung des mit einer solchen Anordnung verbundenen Aufwandes kommen auch andere Maßnahmen in Betracht, wenn deren effektive Wirksamkeit in Bezug auf das o. g. Ziel vergleichbar ist. Dazu zählen die - höhenmäßig genau definierte - Anordnung des Einbaus einer Zwischendecke in einer soliden Weise, die nicht ohne Weiteres wieder zu entfernen ist, weiter die Anordnung des Entfernens von Dachflächenfenstern bzw. der Tür und Fensteröffnungen im Nordgiebel. Auch die Zugänglichkeit des Dachraums kann zur geforderten funktionalen und optischen Unterordnung beitragen; ein Abstellraum bedarf weder einer Außentreppe noch einer den Anforderungen des § 35 Abs. 1 LBO genügenden Innentreppe, da ein solcher Raum nur für eine gelegentliche, nicht alltägliche Nutzung vorgesehen ist. Dafür genügen einschiebbare Treppen, Stiegen oder - etwa zum Lastentransport - Luken.

39

Der von dem Beigeladenen angegebene Nutzungszweck des Dachraumes zur Überwinterung von Pflanzen würde demjenigen eines Abstellraumes entsprechen, erfordert indes weder eine bestimmte Raumhöhe noch eine bestimmte Belichtung noch einen "normalen" Treppenaufgang. Überwinternde Pflanzen können in Behältnissen transportiert werden, die auch über eine Auszugstreppe, eine Leiter oder eine Luke zu befördern sind. Lichtzufuhr ist während der Überwinterung nicht für alle Pflanzenarten erforderlich, manche Pflanzenarten vertragen sogar leichten Frost, andere können im Pflanzbehälter gegen Kälte isoliert werden.

40

Ein Einschreiten der Beklagten, das - unter Beachtung der vorstehend umrissenden Rechtsauffassung des Senats - dauerhaft und verlässlich sicherstellt, dass der Dachraum über der Doppelgarage nur als untergeordneter Abstellraum gestaltet ist, sorgt zugleich dafür, dass damit ein Nebenraum zur Garage vorliegt und damit die Privilegierung der Grenzgarage nach § 6 Abs. 10 LBO 2000 / § 6 Abs. 7 LBO 2009 gerechtfertigt ist. Ein Dachraum, der objektiv als Aufenthaltsraum i.S.d. § 2 Abs. 5, § 48 LBO geeignet ist, erfüllt diese Anforderung nicht.

41

Die Beklagte war nach alledem zu einem weitergehenden bauaufsichtlichen Einschreiten gegenüber dem Beigeladenen zu verpflichten.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 159 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO.

43

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO.

44

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach §§ 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 8. Kammer - vom 08. März 2010 geändert.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 14. Juli 2009 wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin wendet sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 14. Juli 2009 zur Errichtung eines mehrgeschossigen Wohngebäudes. Sie hat die Ansicht vertreten, das genehmigte Vorhaben unterschreite die erforderlichen Abstandsflächen.

2

Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin angeordnet, da eine Abstandsflächenunterschreitung vorliege, die bei einer "wertenden" Betrachtungsweise spürbarer ausfalle als eine vom Gebäude der Antragstellerin ausgehende Abstandsflächenunterschreitung.

3

Die Antragsgegnerin verteidigt mit der dagegen eingelegten Beschwerde ihre bisherige, anderslautende Auffassung.

II.

4

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 08. März 2010 ist begründet. Die dargelegten Gründe, die Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führen zu einer Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses und zu einer Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

5

Die Zugrundelegung einer "gemittelten" Geländehöhe zur Berechnung der einzuhaltenden Abstandsflächen ist rechtlich nicht zu beanstanden (unten 1). Auf dieser Grundlage ergibt sich eine Abstandsflächenunterschreitung durch das Bauvorhaben der Beigeladenen in einem geringfügigen Umfang (unten 2).

6

1) Die angefochtene Baugenehmigung geht bei der Ermittlung der einzuhaltenden Abstandsflächen von einer "gemittelten" Geländehöhe aus, die sich aus dem Niveau am … (5,32 m über NN) und demjenigen am … (8,39 m über NN) errechnet. Die Bauvorlage (Bl. 44 der Beiakte A: "Lageplan und Abstandsflächen") mit der diesbezüglichen Eintragung » Geländehöhe Mittelwert C: (8,39 + 5,32) x 0,5 = 6,86 « sowie die Bezugnahme auf den Mittelwert 6,86 m bei der (in der Zeichnung eingetragenen) Berechnung der Abstandsflächen belegt, dass die Bauaufsichtsbehörde die beantragte Art und Weise der Abstandsflächenberechnung gebilligt und damit auch genehmigt hat.

7

Die Bildung eines "Mittelwertes" als Bezugsgröße für die Abstandsflächenberechnung ist – im Ergebnis – rechtlich nicht zu beanstanden.

8

In der Baugenehmigung kann nach § 2 Abs. 3 Satz 3 LBO 2009 eine Geländeoberfläche bestimmt werden, wenn – wie hier – eine planerische Festsetzung dazu fehlt. Die Bestimmung der Geländeoberfläche schließt die Möglichkeit ein, von der natürlichen Geländeoberfläche abzuweichen. Dazu kann Veranlassung bestehen, wenn das vorgefundene Gelände durch Aufschüttungen verändert wird (vgl. dazu VGH Mannheim, Beschl. v. 22.08.1994, 3 S 1798/94, BRS 56 Nr. 113 [bei Juris Tz. 3], OVG Münster, Beschl. v. 29.09.1995, 11 B 1258/95, NVwZ-RR 1996, 311) oder wenn der ursprüngliche natürliche Geländeverlauf aufgrund von Veränderungen nicht mehr in Erscheinung tritt (vgl. dazu OVG Saarlouis, Urt. v. 30.09.1997, 2 R 30/96, BRS 59 Nr. 121). Im vorliegenden Fall rechtfertigt die Besonderheit des Hanggrundstücks eine von der Zufälligkeit des wechselnden "Steigungswinkels" abweichende Bestimmung der Geländeoberfläche.

9

Die Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin bei der Bestimmung der Geländeoberfläche auf den (o. g.) Mittelwert ist rechtlich nicht zu beanstanden.

10

Die Bauaufsichtsbehörde muss bei dieser Bestimmung im Rahmen ihres Ermessens auf die Belange der Nachbarn achten, dies "allerdings nicht vorrangig’, sondern in (gerechter) Abwägung mit den Interessen des Bauherrn an der Verwirklichung seines Vorhabens" (Beschl. des Senats vom 25.03.2002, 1 M 47/01, n. v.; VGH München, Beschl. v. 09.02.1994, 26 CS 93.3437, Juris und Beschl. v. 31.10.2008, 14 CS 08.1970, Juris; OVG Koblenz, Urt. v. 02.04.2003, 8 A 10938/02, Juris). Dabei sind alle Umstände des Einzelfalles sowie das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild zu berücksichtigen (vgl. OVG Greifswald, Urt. v. 23.06.1998, 3 L 227/97, NordÖR 1998, 402/403). Ohne die hinreichende Beachtung nachbarlicher Belange kann die Bestimmung einer vom natürlichen Verlauf abweichenden Geländeoberfläche wegen ihrer Auswirkungen auf die für die Abstandsfläche relevante Wandhöhe eines Bauvorhabens die Rechte des Nachbarn verletzen. Die Bestimmung darf nicht dazu führen, dass Verstöße gegen Bauvorschriften, die an die Höhe von Gebäudeteilen über der Geländeoberfläche anknüpfen, einseitig zu Lasten eines Nachbarn "kaschiert" werden (Beschl. des Senats vom 25.03.2002, a.a.O.; VGH München, Beschl. v. 04.03.1996, 2 S 95.2580, BRS 58 Nr. 116; OVG Lüneburg, Urt. v. 25.03.1908, 1 A 29/79, BRS 36 Nr. 123).

11

Eine einseitig zu Lasten der Antragstellerin gehende Bestimmung der Geländeoberfläche ist vorliegend nicht erfolgt. Die "Mittelung" führt nicht etwa zu einer rechnerischen Geländehöhe, die von der Umgebung "absticht", sondern dazu, dass sich die Geländehöhe relativ eng an den vorgefundenen Verlauf des Hanggrundstücks anlehnt. Sie weicht überdies auch nicht wesentlich von der Geländehöhe ab, die der Genehmigung des Bauvorhabens der Antragstellerin vom 21. Januar 1971 (s. "Schnittzeichnung" vom 25.11.1970) zugrunde liegt.

12

Der Senat übersieht nicht, dass sich bei Zugrundelegung der aus den genehmigten Bauvorlagen ablesbaren metrischen Angaben zur tatsächlichen Geländehöhe und zur Gebäudehöhe (§ 6 Abs. 4 Satz 2 LBO) eine andere Abstandsflächenberechnung "in Richtung" des Grundstücks der Antragstellerin ergibt, die – im Verlauf der Grenze – gem. § 6 Abs. 4 und 5 LBO zu Abstandsflächenunterschreitungen führt. Nach der Berechnung des Senats (unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Beteiligten) ergäben sich ausgehend von den einzelnen metrischen Höhenangaben Abstandsflächen auf dem Nachbargrundstück (der Antragstellerin) in einer Tiefe von 0,19 m bis 0,40 m, nur im Bereich des Treppenhauses liegt der Wert bei ca. 2 m, wobei hier der Fall des § 6 Abs. 6 Nr. 2 LBO zu Gunsten der Beigeladenen eingreift.

13

Die Annahme, die Mittelung der Geländehöhe diene der "Kaschierung" von Abstandsflächenunterschreitungen und benachteilige die Antragstellerin einseitig, ist bei dieser Sachlage nicht begründet. Ihr Grundstück war hinsichtlich der "gemittelten" Geländehöhe gewissermaßen vorbelastet, weil auch schon das vor der jetzt genehmigten Bebauung anstehende und baulich genutzte Gelände in etwa die Höhenlage aufwies, die der rechnerischen Mittelung entspricht. Es konnte die Antragstellerin deshalb nicht überraschen, dass eine Neubebauung auf vergleichbarer Höhenlage erfolgen würde. Vor diesem Hintergrund hat die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen nicht überschritten, als sie die in den Bauvorlagen angegebene Mittelung der Geländehöhe genehmigt hat.

14

2) Bei Zugrundlegung des Mittelwertes werden die Abstandsflächen – bis auf eine "Spitze" im Bereich der 7-m-Geländehöhe - eingehalten; auf die diesbezügliche - korrekte - Berechnung der Antragsgegnerin (S. 2 [Mitte] der Beschwerdebegründung vom 31.03.2010) nimmt der Senat Bezug.

15

Im Bereich der 7-m-Geländehöhe ist die abstandsflächenrelevante Wandhöhe nicht aus dem o. g. Mittelwert, sondern aus der tatsächlichen Geländehöhe abgeleitet worden. Diese Berechnungsweise ist indes ausgeschlossen, nachdem die Geländehöhe auf den Mittelwert bestimmt worden ist. Wird dieser in Ansatz gebracht, ergibt sich eine Abstandsfläche von (16,19 m [Attikahöhe] – 6,86 m = 9,33 m x 0,4 =) 3,73 m, was zu einer (geringfügigen) Abstandsfläche auf dem Nachbargrundstück - in einer "Spitze" von 7 cm Tiefe - führt.

16

3) Ein nachbarliches Abwehrrecht der Antragstellerin besteht gegen die aufgezeigte Abstandsflächenunterschreitung nicht, weil ihr Gebäude die Abstandsflächen in einem deutlich größerem Umfang unterschreitet, was – entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts – auch bei einer "wertenden" Betrachtungsweise zur Verwirkung ihres nachbarrechtlichen Abwehranspruchs führt. Dies gilt auch dann, wenn man – abweichend von den bisherigen Ausführungen – die Abstandsflächen nach Maßgabe der tatsächlichen Geländehöhen errechnet, wie sie aus den metrischen Angaben in der genehmigten Bauzeichnung zu entnehmen sind. Die Abstandsflächenunterschreitung durch das Bauvorhaben der Beigeladenen fällt dann zwar größer aus, die Verwirkung des nachbarlichen Abwehranspruchs bleibt aber auch dann bestehen.

17

a) Die vom Vorhaben der Beigeladenen ausgehenden Abstandsflächen liegen bei einer am tatsächlichen Geländehöhenverlauf orientierten Berechnung mit einem Wert von 16,8 qm auf dem Grundstück der Antragstellerin. Dies belegt die in der Anlage zum Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30.04.2010 vorgelegte – korrekte – Berechnung.

18

Die von dem 1971 genehmigten Bauvorhaben der Antragstellerin zu wahrenden Abstandsflächen liegen im Umfang von (insgesamt) 48 qm auf dem Grundstück der Beigeladenen (Anlage 1 zur Beschwerdebegründung vom 31.03.2010).

19

b) Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Senats, dass ein Nachbar, der die vorgeschriebenen Abstandsflächen selbst nicht einhält, eine Unterschreitung der Abstandsflächen durch den benachbarten Bauherrn nicht abwehren kann (Beschl. des Senats v. 08.09.1992, 1 M 45/92, SchlHA 1993, 258; Domning/Möller/Suttkus, Bauordnungsrecht Schl.-H., Stand Okt. 2007, § 6 LBO Rn. 10 m. w. N; vgl. auch OVG Lüneburg, Urt. v. 12.09.1984, 6 A 49/83, BRS 42 Nr. 196). Das trifft vorliegend für die Antragstellerin zu.

20

Der Umstand, dass die Rechtsvorgängerin der Beigeladenen am 30. Oktober 1970 der Abstandsflächenunterschreitung durch die Antragstellerin zugestimmt hat (Bl. 46 der Beiakte C), führt zu keiner anderen Bewertung. Die Nachbarzustimmung "mindert" die baurechtliche Situation der Beigeladenen nicht. Diese kann vielmehr erwarten, dass jedenfalls einer Abstandsflächenunterschreitung, die nicht gravierender ausfällt als die "frühere", der Antragstellerin zuzurechnende, nicht entgegengetreten wird.

21

Die – unter Bezugnahme auf den Beschluss des Senats vom 01.02.2000 (1 M 132/99, SchlHA 2001, 69; vgl. auch OVG Berlin, Urt. v. 11.02.2003, 2 B 16.99, BauR 2003, 770 [Ls.] und OVG Lüneburg, Beschl. v. 30.03.1999, 1 M 897/99, BauR 1999, 1163 f.) vertretene – Annahme, die von der Abstandsflächenunterschreitung des Vorhabens der Beigeladenen ausgehende Beeinträchtigung sei "bei wertender Betrachtung spürbar erheblicher" als diejenige, die durch das Gebäude der Antragstellerin verursacht wird, ist nicht haltbar.

22

Die quantitative Gegenüberstellung der wechselseitigen Abstandsflächenunterschreitungen fällt eindeutig zu Lasten der Antragstellerin aus. Soweit in die "wertende" Betrachtung auch qualitative Gesichtpunkte – insbesondere die Himmelsrichtung und die Besonnung (vgl. OVG Münster, Urt. v. 24.04.2001, 10 A 1402/98, BRS 64 Nr. 188) - einbezogen werden, begründet dies kein anderes Ergebnis. Dem Verwaltungsgericht ist zwar beizupflichten, dass in dem "deutlich sensibleren vorderen südlichen Bereich" des Terrassenhauses der Antragstellerin Beeinträchtigungen der Besonnung möglich sind (voraussichtlich nachmittags und abends, bei "tief" stehender Sonne). Diese Beeinträchtigungen sind aber nur zu einem – vernachlässigbar – geringen Teil auf die im Zentimeterbereich liegende Abstandsflächenunterschreitung in diesem Bereich zurückzuführen. Bei Zugrundlegung der tatsächlichen Geländehöhe ergeben sich Werte zwischen 19 cm und 40 cm. Es kommt hinzu, dass die möglichen Beeinträchtigungen der Besonnung nach der Ausrichtung der Fenster im Erdgeschoss des Gebäudes der Antragstellerin wegen der (rein) südwärtigen Ausrichtung zum … nur gering ausfallen können; erst ab dem ersten Obergeschoss sind – auf der Terrasse – und bzgl. der (west-)seitigen Fenster nachteilige Wirkungen möglich. Die von der Antragstellerin vorgelegte Skizze (Anlage Ast 4 zum Schriftsatz vom 20.11.2009), in der der Gebäudeschnitt ihres Hauses (rot) "über" demjenigen des Bauvorhabens der Beigeladenen (schwarz) dargestellt ist, verdeutlicht indes, dass die möglichen Besonnungsnachteile nicht durch die Abstandsfläche, sondern durch das Aufeinandertreffen des Terrassenhauses mit der quaderförmigen Kubatur des Bauvorhabens der Beigeladenen bedingt sind. Diesem Effekt könnte auch durch Abstandsflächenwahrung nicht entgegengewirkt werden.

23

Die qualitative Betrachtungsweise führt somit zu keinem für die Antragstellerin günstigeren Ergebnis.

24

3) Der Beschwerde war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.

25

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig.

26

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Kosten sind die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens.

(2) Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines Rechtsbeistands, in den in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nummer 3 und 3a genannten Angelegenheiten auch einer der dort genannten Personen, sind stets erstattungsfähig. Soweit ein Vorverfahren geschwebt hat, sind Gebühren und Auslagen erstattungsfähig, wenn das Gericht die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig erklärt. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können an Stelle ihrer tatsächlichen notwendigen Aufwendungen für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen den in Nummer 7002 der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz bestimmten Höchstsatz der Pauschale fordern.

(3) Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nur erstattungsfähig, wenn sie das Gericht aus Billigkeit der unterliegenden Partei oder der Staatskasse auferlegt.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.