Verwaltungsgericht München Urteil, 21. Jan. 2015 - M 23 K 14.50291

published on 21/01/2015 00:00
Verwaltungsgericht München Urteil, 21. Jan. 2015 - M 23 K 14.50291
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Gericht

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Tenor

I.

Der Bescheid der Beklagten vom ... Mai 2014 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge pakistanischer Staatsangehöriger punjabischer Volkszugehörigkeit, der über Griechenland und Italien - wo er im Juli 2013 eigenen Angaben zufolge Asylantrag gestellt hatte - in die Bundesrepublik Deutschland gelangte und am ... Dezember 2013 Asylantrag stellte.

Nach Feststellung eines entsprechenden EURODAC-Ergebnisses ersuchte die Beklagte am ... Februar 2014 die zuständige italienische Behörde um Übernahme; die italienische Behörde äußerte sich zur Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags nicht.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom ... Mai 2014 erklärte die Beklagte den Asylantrag für unzulässig (Nr. 1). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 2).

Durch Schriftsatz vom 26. Mai 2014, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am selben Tage, erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers hiergegen Klage und beantragte,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... Mai 2014 aufzuheben.

Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass in Italien systemische Mängel bei der Durchführung der Asylverfahren und der Unterbringung bestünden. Der Kläger sei dort obdachlos gewesen und habe betteln müssen.

Mit Schriftsatz vom 27. Mai 2014 legte die Beklagte die Behördenakte vor.

Durch Beschluss des Gerichts vom 24. Juli 2014 wurde der mit der Klage gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt (M 23 S 14.50292).

In einem weiteren Schriftsatz vom 29. Dezember 2014 legte der Klägerbevollmächtigte ein Attest des Dr. ... vom 10. Dezember 2014 vor, wonach der Kläger u. a. an einer schizophrenen Psychose leidet.

Durch Beschluss vom 5. November 2014 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG auf den Einzelrichter übertragen.

Am 21. Januar 2015 hat die mündliche Verhandlung stattgefunden, an der der Kläger teilnahm.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten erweist sich jedenfalls für den nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtswidrig und verletzt den Kläger demzufolge in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat an der mündlichen Verhandlung teilgenommen; eine Überstellung nach Italien ist nicht erfolgt.

Der angefochtene Bescheid vom ... Mai 2014 ist mit Ablauf der Überstellungsfrist rechtswidrig geworden. Die ursprüngliche Zuständigkeit der Republik Italien ist im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 VO (EG) 343/2003 („Dublin-II-Verordnung“; anwendbar gem. Art. 49 Abs. 2 VO (EU) 604/2013) auf die Beklagte übergegangen.

Die zuständige italienische Behörde hat auf das Wiederaufnahmeersuchen der Beklagten vom 27. Februar 2014 nicht reagiert, so dass die Beklagte davon ausgehen durfte, dass Italien die Aufnahme des Klägers spätestens zum 27. April 2014 akzeptiert hat (Art. 18 Abs. 7 Dublin-II-VO). Damit findet für den vorliegenden Fall die Fristenregelung des Art. 19 Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 Dublin-II-VO Anwendung; Satz 2 der letztgenannten Vorschrift ist ersichtlich nicht einschlägig. Demnach geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedsstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedsstaat nicht innerhalb von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, durchgeführt wird. Maßgeblich für den Fristbeginn ist vorliegend daher die eingetretene Fiktion der Zustimmung Italiens zur Wiederaufnahme des Klägers mangels Beantwortung des Aufnahmegesuchs spätestens zum 27. April 2014; eine Fallkonstellation einer aufschiebenden Wirkung einer Klage lag nicht vor.

Was den sechsmonatigen Fristlauf betrifft, folgt das erkennende Gericht ausdrücklich der überzeugenden Argumentation des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in dessen Entscheidung vom 27. August 2014 (A 11 S 1285/14, juris Rn. 36 ff., 58), wonach die sechsmonatige Überstellungsfrist zwar grundsätzlich ab Zustimmung des zuständigen Mitgliedsstaates zur Rückübernahme zu berechnen ist. In einem Fall (wie dem vorliegenden), in dem ein bei Gericht geltend gemachter Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage in Bezug auf die Abschiebungsanordnung erfolglos blieb, liege aber eine zu schließende Regelungslücke der Dublin - Regularien vor und sei der Zeitraum zwischen dem Tag der Zustellung des ablehnenden Bescheids an den Kläger bis längstens dem Tag der Zustellung der gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren an die Beklagtenseite hinzuzurechnen; es sei Ablaufhemmung (entsprechend § 209 BGB) gegeben. Auf die Einzelheiten der vorzitierten Entscheidung einschließlich der hierin vorgenommenen Auseinandersetzung mit in der Rechtsprechung diskutierten anderen Wegen der Fristberechnung (etwa VG Göttingen v. 30.6.2014, 2 B 86/14, juris Rn. 36) wird ausdrücklich Bezug genommen.

Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass zu der an sich am 27. Oktober 2014 ausgelaufenen Überstellungsfrist der Zeitraum zwischen dem 17. Mai 2014 (Bescheidszustellung) und dem Tag der Zustellung der Entscheidung an die Beklagte im Verfahren M 23 S 14. 50292 am 11. August 2014 hinzuzurechnen ist. Die Frist ist demnach spätestens zum 21. Januar 2015 abgelaufen, mithin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

Somit ist der Asylantrag des Klägers auch nicht mehr nach § 27 a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig und kommt eine Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedsstaat nach § 34 a AsylVfG ebenfalls nicht mehr in Betracht. Dass Italien ausnahmsweise nach Fristablauf weiterhin zur Übernahme bereit wäre, ist weder vorgetragen noch dokumentiert noch ersichtlich.

Der Kläger ist auch in seinen Rechten verletzt. Zwar handelt es sich bei den Dublin-Regularien an sich um rein objektive Zuständigkeitsvorschriften, welche grundsätzlich keine subjektiven Rechte der Asylantragsteller begründen (vgl. BeckOK Ausländerrecht/Günther AsylVfG § 27 a Rn. 30). Wenn allerdings - wie hier - die Überstellungsfrist abgelaufen und allein die Zuständigkeit der Beklagten bleibt, kann der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens als notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem dann zuständigen Staat geltend gemacht werden (vgl. VG Regensburg v. 21.10.2014 - RO 9 K 14.30217 - juris Rn. 20).

Da der Kläger mangels Zuständigkeit Italiens aus rechtlichen Gründen nicht mehr dorthin abgeschoben werden kann, erweist sich die angeordnete Abschiebung als rechtswidrig.

Eine etwaige Umdeutung des Bescheids vom ... Mai 2014 in eine ablehnende Entscheidung im Sinne von § 71 a AsylVfG kommt nicht in Betracht (vgl. VG Regensburg vom 3. 10. 2014, RO 9 K 14.30260/RO 9RO 9 K 14.50218 - juris Rn. 26 ff); sie wurde im Übrigen von Beklagtenseite auch weder vorgetragen noch in Anspruch genommen.

Auf die schriftsätzlich vorgetragenen individuellen Umstände des Klägers und dessen Erkrankung kam es für die Entscheidung nicht (mehr) an.

Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO und mit dem Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO stattzugeben.

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Lastenausgleichsgesetz - LAG

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au
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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

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published on 03/11/2014 00:00

Tenor I. Die Verfahren RO 9 K 14.30260 und RO 9 K 14.50218 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. II. Die Bescheide der Beklagten vom 3. Februar und 22. August 2014 werden aufgehoben. III. Die Kosten der Verfahren trägt di
published on 07/12/2015 00:00

Gründe 1 Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.
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published on 20/05/2015 00:00

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Tatbestand Der Kläger ist eigenen An
published on 20/05/2015 00:00

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Tatbestand Der Kläger ist eigenen An
published on 20/07/2015 00:00

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Tatbestand Der Kläger ist eigenen Angaben
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Annotations

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist, wird in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.