Verwaltungsgericht München Beschluss, 03. Dez. 2015 - M 7 S 15.5259

bei uns veröffentlicht am03.12.2015

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

III.

Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin, mit welchem seine Versammlungsanzeige zurückgewiesen wird.

Am ... September 2015 zeigte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin eine Versammlung unter freiem Himmel an. Die Anzeige lautete: „ Hiermit zeige ich, ... (Meldeanschrift …), für jeden Samstag von 13 bis 15 Uhr (beginnend ab ... September 2015 bis einschließlich ... Dezember 2016) Kundgebungen mit jeweils ca. acht Teilnehmern an.“ Als jeweiliges Versammlungsthema wurde angeführt: „DIE RECHTE - Gegen Behördenwillkür und für die deutsche Volksgemeinschaft!“. Als jeweiliger Versammlungsleiter wurde F. T. benannt, als jeweilige zweite Versammlungsleiterin V. G. und als jeweiliger dritter Versammlungsleiter P. M. Unter dem Punkt „Jeweilige Versammlungshilfsmittel“ war u. a. angeführt „Lautsprecherwagen“. Als Kundgebungsort wurde der Max-Josefs-Platz genannt. Die Anzeige enthielt weiter folgende Aussage „Die Anzeige wird unter bestimmten Umständen wieder zurückgezogen, sobald die Stadt Rosenheim aufhört, gegen DIE RECHTE willkürlich vorzugehen.“

Mit Bescheid vom 21. Oktober 2015 wies die Behörde die Versammlungsanzeige zurück mit dem Hinweis, dass künftige, darin genannte Versammlungstermine damit nicht mehr als angezeigt gelten. In der Begründung wurde angeführt, dass die Versammlungsanzeige zurückzuweisen sei, da sie offensichtlich missbräuchlich erfolgt sei und nur dazu diene, die Behörde zu schikanieren. Eine ernsthafte Absicht, Versammlungen wöchentlich bis Ende 2016 abzuhalten, läge nicht vor. Hierfür spreche das Vorgehen bei den beiden kurzfristig abgesagten Versammlungen am 10. und 17. Oktober 2015 unter fadenscheinigen Gründen (Autopanne, Erkrankung der Versammlungsleiterin) und die Kurzfristigkeit der Absage. Diese sei vor allem im Fall der Erkrankung nicht nachvollziehbar, da eine solche sich normalerweise eher abzeichne. Es hätte möglicherweise auch ein Vertreter für die Versammlungsleitung benannt werden können, um die Versammlung trotzdem durchzuführen. Die Aussage des Herrn M., eines ehemaligen Mitgliedes der Partei DIE RECHTE, bei der Polizei, wonach der Antragsteller die Dauerversammlung angemeldet habe, um die Stadt Rosenheim zu ärgern, bestätige die mangelnde Ernsthaftigkeit. Im Übrigen spreche auch der Zusatz in der Anzeige selbst, wonach diese zurückgenommen werde, wenn die Behörde aufhöre, willkürlich gegen DIE RECHTE vorzugehen, gegen einen entsprechenden Willen, Versammlungen über einen Zeitraum von gut 15 Monaten abzuhalten. Der Antragsteller ignoriere die im Vorfeld vorgebrachte Bitte, Versammlungen ggf. rechtzeitig abzusagen, um großen Vorbereitungsaufwand zu vermeiden. Der Antragsteller habe damit der Pflicht aus Art. 13 Abs. 2 Satz 2 BayVersG, Änderungen unverzüglich mitzuteilen, nicht genügt. Die Verweigerung von Kooperationsgesprächen durch den Antragsteller erschwere eine angemessene und vernünftige Durchführung. Der Behörde gehe es nicht darum, Versammlungen zu verhindern, sondern lediglich darum, offensichtlichen Missbrauch künftig zu vermeiden.

Am 20. November 2015 erhob der Antragsteller Klage (M 7 K 15.5252) und ersuchte um Eilrechtsschutz mit dem Antrag,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 21.10.2015 ausgesprochene Zurückweisung der Versammlungsanzeige des Klägers vom ...9.2015 anzuordnen.

Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller wende sich gegen die Zurückweisung der Versammlungsanzeige und wolle zumindest ab ... Dezember 2015 die Versammlungen wie angezeigt durchführen. Die Zurückweisung sei nicht gerechtfertigt, der Antragsteller habe, sobald er Kenntnis von der Undurchführbarkeit gehabt habe, jeweils zum frühestmöglichen Zeitpunkt die zuständige Polizeidienststelle informiert. Am 10. Oktober 2015 habe der Antragsteller vormittags per E-Mail mitgeteilt, dass die Versammlung nicht durchgeführt werden könne und daher abgemeldet werde. Grund sei eine Fahrzeugpanne des Pkws der Versammlungsleitung/Lautsprecherwagens, so dass dieser nicht mehr habe eingesetzt werden können. Der Pkw sei zur Nutzung der Lautsprecheranlage im Rahmen der Versammlung erforderlich gewesen, der Lautsprecherwagen sei als Kundgabemittel angezeigt gewesen, der Antragsteller habe nicht kurzfristig über einen Ersatz-Pkw verfügt. Der Einsatz des Lautsprecherwagens sei erforderlich, da störende Gegendemonstranten versuchten durch Lärmerzeugung die Versammlung des Antragstellers zu verhindern. Es müsse dem Anmelder überlassen bleiben, ob es ihm noch sinnvoll erscheine, eine Versammlung abzuhalten, die verkürzt und ohne technische Hilfsmittel ablaufen müsse. Am 17. Oktober 2015 sei vormittags dem Polizeipräsidium mitgeteilt worden, dass die Versammlung nicht durchgeführt werden könne und daher abgemeldet werde, da die Versammlungsleiterin G. sich unmittelbar zuvor am Bein verletzt habe. Der in der Versammlungsanzeige genannte Versammlungsleiter F. T. sei vom Antragsgegner als Versammlungsleiter abgelehnt worden, mit dem in der Anzeige benannten dritten Versammlungsleiter habe man sich zuvor schon zerstritten und ihn aus der Partei ausgeschlossen. Insofern habe kein Versammlungsleiter mehr zur Verfügung gestanden. Da die Versammlung lediglich aus ca. acht Personen bestehe, was sich auch aus der Anzeige ergebe, bestünden kaum Möglichkeiten, diese Ausfälle kurzfristig zu ersetzen. Die Versammlungsanzeige vom ... September 2015 sei nicht missbräuchlich erfolgt. Die Aussage des Herrn M. werde bestritten. Dieser sei am 26. September 2015 auf einer Sitzung des Landesvorstands Bayern der Partei DIE RECHTE ausgeschlossen worden, da ihm schädliches Auftreten in der Öffentlichkeit und unwahres Verhalten im politischen und privaten Leben vorgeworfen werde. Über diesen Streit mit Herrn M. werde in verschiedenen Artikeln berichtet. Die Glaubwürdigkeit des Herrn M. sei aufgrund der im Artikel geschilderten Vorkommnisse fraglich, daher auch, ob er sich in einem angeblichen Gespräch mit dem Polizeibeamten wahrheitsgemäß geäußert habe. Jedenfalls habe der Antragsteller die Versammlungsanzeige nicht zur Schikane getätigt, sondern um politische Ziele in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Ziele könnten nicht erreicht werden, wenn der Antragsteller die Versammlung nicht durchführe. Die Unterstützer des Antragstellers seien verärgert über die kurzfristige Absage und überlegten sich eine weitere Teilnahme an den Versammlungen, wenn diese des Öfteren kurzfristig abgesagt würden. Zudem werteten die Gegner des Antragstellers eine Absage zu seinen Ungunsten, mithin schade der Antragsteller sich selbst durch kurzfristige Absagen. Die Antragsgegnerin sei von einer kurzfristigen Absage wohl kaum betroffen, da die Versammlung am Tag der Versammlung ohnehin nur von der Polizei betreut werde und diese hauptsächlich logistische Vorkehrungen zu treffen habe. Der Einsatz der Polizei werde nicht durch den Kläger und die ca. acht Versammlungsteilnehmer, sondern durch die Gegendemonstranten verursacht. In der Vergangenheit habe der Antragsteller die Durchführung der Versammlung eingeklagt und die Versammlungen tatsächlich abgehalten. Dies zeige, dass er durchaus Interesse an der Durchführung habe. Der Bevollmächtigte habe der Antragsgegnerin zur Kontaktaufnahme die E-Mailadresse des Antragstellers mitgeteilt. Das Versammlungsthema laute u. a. „Gegen Behördenwillkür…“ und richte sich gegen die unbegründeten Beschränkungen des Versammlungsrechts, die in den Verfahren M 7 S 15.3737 und M 7 S 15.4229 gerichtlich festgestellt worden seien. In diesem Zusammenhang sei der Zusatz in der Versammlungsanzeige zu sehen. Der Antragsteller werde seine Versammlungen fortsetzen, solange die Antragsgegnerin das Versammlungsrecht unbegründet einschränke. Eine zeitlich weitreichende Anzeige sei erforderlich, da andernfalls politische Gruppierungen, die den Antragsteller bekämpften, ihrerseits zentral gelegene Orte über weite Zeiträume blockierten, um die Versammlungen des Antragstellers zu verhindern. Für Kooperationsgespräche stehe er weiter zur Verfügung, diese könnten aus beruflichen Gründen nur telefonisch oder per E-Mail durchgeführt werden. Die Antragsgegnerin habe mit Schreiben vom 27. November 2015 mitgeteilt, dass der Antragsteller zukünftig einzelne Versammlungen weiter anzeigen dürfe, was so zu deuten sei, dass diese dann nicht als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen würden. Dies erscheine widersprüchlich vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin die letzte Versammlungsanzeige als missbräuchlich und den Antragsteller weiterhin als unzuverlässig ansehe. Es sei auch unklar, ob nun Anzeigen für längere Zeiträume zugelassen würden, das BayVersG lasse diese mit einem Vorlauf von zwei Jahren zu. Die Antragsgegnerin verlange nun ohne ausreichenden Grund, dass der Antragsteller seine Anzeige vom September 2015 nunmehr in eine Vielzahl von Einzelanmeldungen aufteile. Soweit dem Antragsteller eine missbräuchliche Anzeige nachgewiesen werden könne, sähen das Versammlungsrecht und das Kostenrecht andere Sanktionen als die Zurückweisung einer Anzeige vor. Für das unnötige Veranlassen von Polizeieinsätzen bestünden ebenfalls verwaltungsrechtliche Vorschriften zur Aufbürdung der Kostenlast. Die Eilbedürftigkeit bestehe, da es dem Antragsteller nicht zuzumuten sei, aufgrund bloßer Verdächtigungen seine Rechte aus der ursprünglichen Anzeige nicht ausüben zu können und nunmehr wöchentliche Anzeigen tätigen zu müssen. Hinzu komme die Problematik mit konkurrierenden Gegendemonstrationen am selben Versammlungsort.

Mit Schreiben vom 27. November 2015 beantragte die Antragsgegnerin,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung wird ausgeführt, die Ausführungen zu den Verhinderungsgründen stellten Schutzbehauptungen dar. Es werde nicht näher ausgeführt oder ein Beweis vorgetragen, inwiefern eine Fahrzeugpanne bzw. eine Beinverletzung vorgelegen habe. Der Antragsteller werde als Zeuge benannt, was als sehr „dünn“ bezeichnet werden könne. Bei der Fahrzeugpanne sei nicht nachvollziehbar, weshalb nicht auf andere Verkehrsmittel habe ausgewichen werden können. Die angebliche Notwendigkeit des Fahrzeugs für den Einsatz des Lautsprecherwagens sei ebenfalls nicht stichhaltig, da fragwürdig sei, warum eine Gruppe von ca. acht Versammlungsteilnehmern eine solche Anlage überhaupt benötige. Selbst wenn man die verletzungsbedingte Verhinderung von Frau G. unterstelle, hätte es die Möglichkeit gegeben, mit der Polizei als Versammlungsbehörde Kontakt aufzunehmen und unter den sieben verbleibenden Versammlungsteilnehmern eine Person als Versammlungsleiter vorzuschlagen. Dies sei in vergleichbaren Fällen üblich, der Antragsteller habe diesen Weg nicht einmal versucht. Weiteres Indiz für die Annahme der mangelnden Ernsthaftigkeit der Versammlungsanzeige sei die Art und Weise der Absage und die damit verbundene Kurzfristigkeit zum Zwecke der Schikane. Die von der Antragsgegnerin gezogenen Schlüsse aus dem Verhalten des Antragstellers deckten sich auch mit der Aussage von Herrn M. In diesem Zusammenhang sei zu erwähnen, dass der Antragsteller selbst mehrfach einschlägig vorbestraft sei und es zumindest fraglich sei, inwiefern seine Aussagen seriöser seien als die des Herrn M. Im Übrigen hätte der Antragsteller, wenn nach seiner Ansicht Herr M. nicht mehr als Versammlungsleiter tragbar sei, dies der Behörde unverzüglich anzeigen müssen und hätte ggf. einen anderen stellvertretenden Versammlungsleiter benennen können. Dieses Unterlassen stelle einen Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 Satz 2 BayVersG dar und könne der Antragsgegnerin nicht dahingehend entgegengehalten werden, dass der Antragsteller aufgrund der Verhinderung der einzig verbliebenen Versammlungsleiterin gehindert gewesen wäre, die Versammlung durchzuführen. Die Tatsache, dass er diese Mitteilung unterlassen habe, trage mit zur Annahme bei, dass er der Anzeige keine große und ernsthafte Bedeutung zumesse. Entgegen der Ansicht des Antragstellers habe in den von ihm zitierten gerichtlichen Verfahren keine inhaltliche Prüfung stattgefunden, die Verfahren seien vielmehr förmlich eingestellt worden. Die Argumentation des Antragstellers, wonach die Absage von seinen Gegnern dahingehend ausgelegt würde, dass er die Versammlung aufgrund mangelnden Interesses absage, sei „an den Haaren herbeigezogen“. Die angekündigte Kooperationsbereitschaft werde nach wie vor angezweifelt. Sollte der Antragsteller ernsthaftes Interesse daran haben, über 16 Monate wöchentlich Demonstrationen in Rosenheim durchzuführen, dann könne er sich - trotz Berufstätigkeit - auch einmal die Zeit nehmen, zu einem persönlichen Kooperationsgespräch nach Rosenheim zu kommen. Die Tatsache, dass er dies nach wie vor ablehne, stütze die Einschätzung, dass mangelnder Kooperationswille vorliege und es an der nötigen Ernsthaftigkeit fehle. Ein besonderes Vollzugsinteresse sei auch gegeben. Es bedürfe der dringenden Klarstellung, dass eine einmal getätigte Versammlungsanzeige, zu der Fakten vorlägen, wonach die Ernsthaftigkeit in Frage gestellt werden könne, von der Behörde langfristig nicht hingenommen und kritiklos akzeptiert werden müsse. Komme es nicht zu einer Klärung, bestehe die Gefahr, dass wöchentliche größere Polizeikräfte völlig umsonst in Bereitschaft gehalten werden müssten und für weitere wichtige Aufgaben nicht zur Verfügung stünden. Das Versammlungsrecht sehe vom Sinn und Zweck her zwar weitgehende Rechte für den Veranstalter vor und erlaube kaum Beschränkungsmöglichkeiten für die Behörde. Diese könne aber nicht dazu führen, dass es zu einer missbräuchlichen Verwendung komme. Die Versammlungsanzeige sei eine der wenigen Verpflichtungen im Versammlungsrecht, die der Veranstalter durchführen müsse. Der Stadt gehe es nicht um die Beschneidung der Versammlungsrechte des Antragstellers. Es bleibe ihm unbenommen, einzelne Versammlungen künftig anzumelden, wenn er tatsächlich in Rosenheim demonstrieren wolle.

Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.

II.

Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Entfaltet ein Rechtsbehelf - wie hier nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. Art. 25 BayVersG - keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Bei der vom Gericht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu treffenden Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen, die ein wesentliches, wenn auch nicht das alleinige Indiz für bzw. gegen die Begründetheit des Begehrens im einstweiligen Rechtsschutz sind. Zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, ist schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt (BVerfG, B.v. 12.5.2010 - 1 BvR 2636/04 - juris Rn. 18 m. w. N.). Soweit möglich, ist als Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme daher in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen (BVerfG, a. a. O., u. B.v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 - juris Rn. 18).

Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Klage zu treffende Abwägungsentscheidung führt zu dem Ergebnis, dass das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids überwiegt. Denn wenn auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts noch keine abschließende Aussage über die Erfolgsaussichten der Klage getroffen werden kann, ist es zumindest wahrscheinlicher, dass der Bescheid der Antragsgegnerin Bestand haben wird. Demzufolge kommt dem Vollzugsinteresse ein größeres Gewicht zu.

Der Antragsteller wendet sich vorliegend gegen die Zurückweisung seiner Versammlungsanzeige vom ... September 2015, in der er für jeden Samstag, beginnend ab ... September 2015 bis einschließlich ... Dezember 2016 eine Versammlung am Max-Josefs-Platz in Rosenheim angezeigt hat. Das Gericht geht davon aus, dass Vorratsanzeigen grundsätzlich zulässig sind, wie sich aus Art. 13 Abs. 1 Satz 4 BayVersG ergibt, wonach eine Anzeige frühestens zwei Jahre vor dem geplanten Versammlungsbeginn möglich ist. Die Anzeige muss sich auf konkret geplante und zu bezeichnende Versammlungen beziehen, dem Sinn der gesetzlichen Regelung widersprechend sind hingegen rein vorsorgliche Anzeigen von Veranstaltungen, deren tatsächliche Durchführung offen und fraglich bleibt (Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage, § 14 Rn. 8). Die Beurteilung einer Versammlungsanzeige richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen und kann dementsprechend bei rechtsmissbräuchlicher Nutzung zurückgewiesen werden.

Vorliegend bestehen beachtliche Anhaltspunkte dafür, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung die Einschätzung der Antragsgegnerin, dem Antragsteller fehle es an der ernsthaften Absicht, die angezeigten wöchentlichen Versammlungen abzuhalten, gerechtfertigt war. Dafür spricht die zweimalige kurzfristige Absage von Versammlungsterminen unter der Angabe von wenig untermauerten und kaum eine Versammlungsabsage tragenden Gründen. So wurde für die behauptete Beinverletzung der Versammlungsleiterin G. weder ein Attest vorgelegt noch ausgeführt, inwieweit es sich hier um eine schwerwiegende Verletzung gehandelt hat. Eine Abhaltung der Versammlung am 10. Oktober 2015 wäre auch ohne Lautsprechereinsatz möglich gewesen, vor allem wenn man berücksichtigt, wie wichtig dem Antragsteller die Versammlung entsprechend seinem Vortrag im diesbezüglichen Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht war. Die Aussage des Herrn M. gegenüber der Polizei stützt die Annahme eines fehlenden ernstlichen Willens des Antragstellers hinsichtlich der angezeigten Versammlungen. Zudem zeigte sich der Antragsteller im Vorfeld nicht kooperationsbereit, hatte zeitweise angekündigt, nur noch über das Verwaltungsgericht mit den Behörden zu kommunizieren und war weder persönlich noch über den Prozessbevollmächtigten erreichbar, als die Polizei kurz vor den jeweiligen Versammlungen Einzelheiten zur Durchführung abklären wollte.

Weiter hat das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigt, dass dem Antragsteller bei einer Ablehnung seines Antrags im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine gewichtigen Nachteile entstehen. Es bleibt ihm unbenommen, einzelne ernsthaft von ihm geplante Versammlungen an konkreten Terminen unter den Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 und 2 BayVersG bei der zuständigen Behörde anzuzeigen. Darauf hat auch die Behörde in ihrem Bescheid hingewiesen. Für eine Zurückweisung einer solchen Anzeige durch die Behörde ist nichts ersichtlich.

Soweit der Antragsteller vorgetragen hat, eine zeitlich weitreichende Anzeige sei erforderlich, da ansonsten zentral gelegene Orte durch Dritte belegt würden, um Versammlungen des Antragstellers zu verhindern, hat dieses Argument nur bedingt Gültigkeit. Im Versammlungsrecht gibt es keine strikte Ausrichtung am Prioritätsgrundsatz und damit auch kein Erstanmelderprivileg. Bei Mehrfachbelegung eines Ortes ist vielmehr im Wege der praktischen Konkordanz ein Ausgleich der Interessen der jeweils ihr Grundrecht nach Art. 8 GG wahrnehmenden Demonstrationsteilnehmer herbeizuführen (vgl. VGH BW, B.v. 30.4.2002 - 1 S 1050/02 - juris Rn. 16 m. w. N.). Im Übrigen unterstehen flächendeckende Anmeldungen mit dem alleinigen Ziel, eine andere Demonstration zu verhindern, nicht dem Schutz des Art. 8 GG (vgl. VGH BW, B.v. 30.4.2002 - 1 S 1050/02 - juris Rn. 15 m. w. N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG i. V. m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 (BayVGH, B. v. 10.4.2014 - 10 C 14.587 - juris Rn. 8).

Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht München Beschluss, 03. Dez. 2015 - M 7 S 15.5259

Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht München Beschluss, 03. Dez. 2015 - M 7 S 15.5259

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 80


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 52 Verfahren vor Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit


(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 53 Einstweiliger Rechtsschutz und Verfahren nach § 148 Absatz 1 und 2 des Aktiengesetzes


(1) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 3 der Zivilprozessordnung: 1. über die Anordnung eines Arrests, zur Erwirkung eines Europäischen Beschlusses zur vorläufigen Kontenpfändung, wenn keine Festgebühren bestimmt sind, und auf Erlas
Verwaltungsgericht München Beschluss, 03. Dez. 2015 - M 7 S 15.5259 zitiert 6 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

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(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

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(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 8


(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

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Verwaltungsgericht München Beschluss, 03. Dez. 2015 - M 7 S 15.5259 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).

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Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2014 - 10 C 14.587

bei uns veröffentlicht am 10.04.2014

Tenor Die Beschwerde wird verworfen. Gründe Die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin gegen die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 5. September

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 20. Dez. 2012 - 1 BvR 2794/10

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Tenor 1. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 15. Oktober 2010 - 3 L 1556/10 - und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010 - 3 B 307/10 - verletzen die Beschwerde

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bei uns veröffentlicht am 12.05.2010

Tenor Das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 16. April 2003 - 11 K 671/02 -, soweit darin die Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 4 in dem

Referenzen

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 16. April 2003 - 11 K 671/02 -, soweit darin die Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 4 in dem Auflagenbescheid des Polizeipräsidiums Bielefeld vom 1. März 2002 - VL 12.5-231-W-02/01 - abgewiesen wird, und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Oktober 2004 - 5 A 2764/03 -, soweit darin der Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung zurückgewiesen wird, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden in dem vorgenannten Umfang aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung an das Verwaltungsgericht Minden zurückverwiesen.

...

Gründe

1

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer als Veranstalter einer Versammlung gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die eine versammlungsrechtliche Auflage gemäß § 15 Abs. 1 VersG zum Gegenstand haben, aufgrund derer die Teilnehmer der Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer meldete aus Anlass der vom 27. Januar bis zum 17. März 2002 in Bielefeld gezeigten Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944" (im Folgenden: Wehrmachtsausstellung) für den 2. März 2002 in Bielefeld eine Versammlung unter freiem Himmel mit dem Motto "Die Soldaten der Wehrmacht waren Helden, keine Verbrecher" an. Mit sofort vollziehbarer Verbotsverfügung vom 18. Februar 2002 verbot das Polizeipräsidium Bielefeld die Versammlung. Die hiergegen vom Beschwerdeführer angestrengten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor den Verwaltungsgerichten blieben erfolglos (vgl. VG Minden, Beschluss vom 27. Februar 2002 - 11 L 185/02 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1. März 2002 - 5 B 388/02 -, juris).

3

2. Mit Beschluss vom 1. März 2002 stellte die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Beschwerdeführers gegen die Verbotsverfügung wieder her (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. März 2002 - 1 BvQ 5/02 -, NVwZ 2002, S. 982).

4

3. Mit Bescheid vom 1. März 2002 ordnete das Polizeipräsidium Bielefeld daraufhin für die Durchführung der Versammlung eine Reihe von Auflagen an, darunter auch die Auflage Nr. 4:

5

"Die Teilnehmer der Versammlung werden vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht".

6

4. Im Laufe des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht legte der Beschwerdeführer eidesstattliche Versicherungen von zwei Teilnehmern der einen Monat zuvor am 2. Februar 2002 durchgeführten, ebenfalls gegen die Wehrmachtsausstellung gerichteten Versammlung der NPD vor (im Folgenden: Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002). Darin schilderten die zwei Teilnehmer, dass ihnen auf der Versammlung die Aufgabe zugefallen sei, den Lautsprecherwagen gegen eventuelle Übergriffe gewaltsamer Gegendemonstranten zu sichern, insbesondere zu verhindern, dass eventuell Steinwürfe oder sonstige Wurfgeschosse die Fenster beschädigten. Des Weiteren legte der Beschwerdeführer die eidesstattliche Versicherung eines Teilnehmers einer Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig vor. Darin schilderte dieser, dass die Versammlung von linken Demonstranten mit Steinen, Flaschen und anderen Gegenständen beworfen worden sei. Nur den Ordnern der Versammlung sei es zu verdanken gewesen, dass die Teilnehmer der Versammlung von einer berechtigten Notwehrreaktion hätten zurückgehalten werden können. Einmal sei eine Polizeikette gegen die Teilnehmer vorgegangen, als sie sich hätten verteidigen wollen.

7

5. Mit angegriffenem Urteil vom 16. April 2003 wies das Verwaltungsgericht - unter anderem - die Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 4 im Auflagenbescheid vom 1. März 2002 ab. Für seine Gefahrenprognose gemäß § 15 Abs. 1 VersG stützte sich das Verwaltungsgericht auf den Umstand, dass die zwei Teilnehmer der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 Steinwürfe oder sonstige Wurfgeschosse befürchtet hätten. Außerdem bezog das Verwaltungsgericht den Umstand mit ein, dass es laut der eidesstattlichen Versicherung des Teilnehmers der Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig tatsächlich zu Gewalttätigkeiten durch Gegendemonstranten gekommen sei. Ebenso wie die beiden Teilnehmer der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 die Bereitschaft zu gewalttätigem (Angriffs- oder Abwehr-)Verhalten aus den Reihen der Gegenversammlung für möglich gehalten hätten, habe das Polizeipräsidium Bielefeld Vergleichbares bei der geplanten Versammlung vier Wochen später befürchten müssen, und zwar bei den Teilnehmern der vom Beschwerdeführer angemeldeten Versammlung genauso wie bei den Gegendemonstranten, zumal zu beiden Versammlungen am 2. März 2002 jeweils zahlreiche, in der Menge schwer zu kontrollierende Teilnehmer erwartet worden seien (der Beschwerdeführer sei bei der Anmeldung seiner Versammlung von 1.000 bis 2.000 Teilnehmern ausgegangen). Unter diesen Umständen hätten objektive Anhaltspunkte für das Auffinden sicherstellbarer Gegenstände bestanden, welche das Polizeipräsidium Bielefeld dazu berechtigt hätten, pauschal im Wege einer Auflage die polizeiliche Durchsuchung aller Versammlungsteilnehmer vor dem Veranstaltungsbeginn anzuordnen. Eines konkreten Verdachts gegen bestimmte Versammlungsteilnehmer, insbesondere gegen den Beschwerdeführer, habe es insoweit nicht bedurft.

8

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 25. Oktober 2004 wies das Oberverwaltungsgericht - unter anderem - den auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung bezüglich der Auflage Nr. 4 zurück. Zur Begründung verwies das Oberverwaltungsgericht entsprechend § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil. Im Übrigen sei die Auflage Nr. 4 verhältnismäßig, weil sie dazu beitrage, die nach dem Versammlungsgesetz gebotene Gewaltlosigkeit der Versammlung und damit letztlich die Versammlung selbst zu sichern.

9

7. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.

10

8. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Polizeipräsidium Bielefeld als Beklagter des Ausgangsverfahrens und der für das Versammlungsrecht zuständige Sechste Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts Stellung genommen. Das Polizeipräsidium hält die Auflage für durch eine hinreichende Gefahrenprognose gerechtfertigt. Demgegenüber hat das Bundesverwaltungsgericht Zweifel, ob die angegriffenen Entscheidungen in jeder Hinsicht mit der Versammlungsfreiheit übereinstimmen. Der Landtag Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

11

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

12

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen zur Reichweite der Gewährleistung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG bereits entschieden und dabei auch die zu berücksichtigenden Grundsätze entwickelt. Dies gilt insbesondere für die Bedeutung der Versammlungsfreiheit bei der Gefahrenprognose im Rahmen von Entscheidungen der Behörden und Gerichte anhand von § 15 Abs. 1 VersG (vgl. BVerfGE 69, 315 <349, 352 ff.>; speziell zu versammlungsrechtlichen Auflagen: Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2793/04 -, NVwZ 2008, S. 671 <672>; vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>), namentlich in der Konstellation von Störungen der öffentlichen Sicherheit durch Gegendemonstranten (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2001 - 1 BvQ 15/01 -, NJW 2001, S. 1411 <1412>) und von polizeilichen Kontrollen im Vorfeld von Versammlungen (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 84, 203 <209>).

13

2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.

14

a) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG ist eröffnet, da die Auflage, dass die Teilnehmer der Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden, den freien Zugang zu einer bevorstehenden Versammlung betrifft. Der gesamte Vorgang des Sich-Versammelns unterfällt dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 84, 203 <209>).

15

b) Die Auflage bedeutet auch einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Ein Eingriff ist nicht nur dann gegeben, wenn eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird, sondern auch, wenn die Art und Weise ihrer Durchführung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>). Die Auflage, dass die Teilnehmer einer Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden, behindert den freien Zugang zu der Versammlung. Eine polizeiliche Durchsuchung ist - zumal wenn sie pauschal jeden Versammlungsteilnehmer erfasst - geeignet, einschüchternde, diskriminierende Wirkung zu entfalten, die Teilnehmer in den Augen der Öffentlichkeit als möglicherweise gefährlich erscheinen zu lassen und damit potentielle Versammlungsteilnehmer von einer Teilnahme abzuhalten.

16

c) Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Im vorliegenden Fall wurde die Auflage auf § 15 Abs. 1 VersG gestützt.

17

aa) Diese Norm sieht mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit Einschränkungen gegenüber Versammlungen nur für den Fall vor, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus (vgl. Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>; vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2793/04 -, NVwZ 2008, S. 671 <672>; vom 7. November 2008 - 1 BvQ 43/08 -, juris Rn. 17). Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplante Versammlung aufweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141).

18

Wenn sich der Veranstalter und sein Anhang allerdings friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit, insbesondere Gewalttaten, lediglich von Gegendemonstrationen ausgehen, müssen sich behördliche Maßnahmen primär gegen die störenden Gegendemonstrationen richten. Es ist Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken. Gegen die friedliche Versammlung, die den Anlass für die Gegendemonstration bildet, darf nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 - 1 BvQ 24/00 -, NVwZ 2000, S. 1406 <1407>).

19

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde (vgl.  BVerfG , Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Mai 2001 - 1 BvQ 21/01 -, NJW 2001, S. 2078 <2079>; vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141 <142>).

20

Zwar sind die Feststellung der Tatsachen, auf die sich die Gefahrenprognose gründet, sowie die Würdigung dieser Tatsachen grundsätzlich Sache der Fachgerichte und entziehen sich einer Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat allerdings zu überprüfen, ob bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Einfluss der Versammlungsfreiheit hinreichend beachtet worden ist. Eine solche Prüfung verlangt eine intensivierte Kontrolle, ob die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen die daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu tragen vermögen (vgl. BVerfGE 84, 203 <210>).

21

bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Gefahrenprognose im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG wird die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht gerecht.

22

(1) Die von dem Verwaltungsgericht herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, eine von der Versammlung selbst ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit nahezulegen, die den Erlass einer gegenüber der Versammlung belastenden Auflage hätte rechtfertigen können.

23

Zwar durfte das Verwaltungsgericht grundsätzlich den Verlauf der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 als Indiz heranziehen, da sie wegen der Zielrichtung, hier der Propagierung einer bestimmten Interpretation der jüngeren deutschen Geschichte, des Ortes und der zeitlichen Nähe Ähnlichkeiten zu der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aufwies. Die zwei Teilnehmer dieser Versammlung haben in ihren von dem Verwaltungsgericht angeführten eidesstattlichen Versicherungen indes lediglich organisatorische Vorsichtsmaßnahmen auf Veranstalterseite gegen eventuelle Übergriffe gewaltbereiter linker Gegendemonstranten beschrieben. Diese Aussagen privater Personen zu ihrerseits lediglich verdachtsgeleiteten Handlungen stellen keine nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dar, wie sie für eine Gefahrenprognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG erforderlich sind. Vor allem lässt sich dieser Aussage nicht ansatzweise entnehmen, dass sich die Teilnehmer der Versammlung bei dieser Gelegenheit nicht rechtstreu verhalten haben.

24

Dagegen hat das Verwaltungsgericht keine tatsächlichen Feststellungen zu der Frage getroffen, ob und inwieweit die Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig Ähnlichkeiten zu der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aufwies und daher im Rahmen der Gefahrenprognose als Indiz herangezogen werden durfte. Außerdem hat der Teilnehmer der Versammlung in seiner von dem Verwaltungsgericht angeführten eidesstattlichen Versicherung lediglich Übergriffe gewalttätiger linker Gegendemonstranten beschrieben. Nach seiner Darstellung haben hauptsächlich die Ordner, in einem Fall die Einsatzkräfte der Polizei, die solchermaßen provozierten Teilnehmer der Versammlung erfolgreich im Zaum gehalten. Anhaltspunkte dafür, dass die Teilnehmer der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aus eigenem Antrieb die gewalttätige Auseinandersetzung mit den linken Gegendemonstranten gesucht hätten, ergeben sich aus dieser Aussage nicht.

25

Auch soweit das Verwaltungsgericht bei seiner Gefahrenprognose auf die Größe des zu erwartenden Teilnehmerkreises der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung abgestellt hat, trägt dieser Umstand die Auflage nicht. Denn allein aus der Größe einer Versammlung kann nicht auf die Gewaltbereitschaft der Teilnehmer geschlossen werden.

26

Insgesamt scheint die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts allein auf der - nicht ausgesprochenen - Vermutung zu gründen, die Teilnehmer der vom Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung könnten durch frühere Störungen von gewalttätigen linken Gegendemonstranten gereizt nunmehr zum Präventivschlag ausholen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen ohne hinreichende konkrete Tatsachengrundlage reichen jedoch, wie dargelegt, für die Gefahrenprognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG nicht aus. Der Umstand, dass bei der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung Störungen der öffentlichen Sicherheit durch gewaltbereite linke Gegendemonstranten zu befürchten waren, hätte den zuständigen Behörden Anlass sein müssen, zuvörderst gegen die angekündigten Gegendemonstrationen Maßnahmen zu ergreifen. Das durch gewaltbereite Gegendemonstranten drohende Gefahrenpotential ist der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung nicht zurechenbar.

27

(2) Als Nichtstörerin hätte die vom Beschwerdeführer veranstaltete Versammlung daher nur im Wege des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden können.

28

Im Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes sind der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts indessen weder die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen noch Ansätze für deren notwendige rechtliche Würdigung zu entnehmen. Zwar dürfen die diesbezüglichen Anforderungen an Durchsuchungen, die letztlich nur der Ermöglichung einer friedlichen Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit dienen, in Situationen, die insgesamt durch drohende Gewalt geprägt sind, nicht zu hoch angesetzt werden. Jedoch bedarf es insoweit zumindest der Darlegung, dass ein Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit primär durch Maßnahmen gegenüber den Störern ins Werk gesetzt wird und dass er auf diese Weise aber nur unzureichend gewährleistet werden kann. Hieran fehlt es indes. So fehlen insbesondere Ausführungen dazu, dass und inwieweit gegen die angekündigten Gegendemonstrationen gerichtete, behördliche Maßnahmen nicht ausgereicht haben, der gewaltbereiten Gegendemonstranten Herr zu werden und so der Gefahr einer etwaigen gewalttätigen Eskalation zu begegnen. Feststellungen hierzu hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Unter dem Gesichtspunkt der Eskalation fehlt es weiterhin an konkreten und nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Teilnehmer der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung überhaupt unter Rückgriff auf mitgebrachte Gegenstände zur Schutz- und Trutzwehr übergehen würden.

29

cc) Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts teilt den festgestellten Mangel des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Das Oberverwaltungsgericht hat sich die Gründe des Verwaltungsgerichts ausdrücklich gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO zu Eigen gemacht. Der über diese Bezugnahme hinausgehende pauschale Verweis auf die behauptete Verhältnismäßigkeit der Auflage erweist sich angesichts der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defizite hinsichtlich der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen und der notwendigen rechtlichen Würdigung als nicht tragfähig.

30

dd) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem aufgezeigten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei der erforderlichen erneuten Befassung und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen aus Art. 8 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis kommen. Hierbei werden die Gerichte - neben den bereits angesprochenen Gesichtspunkten - zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls welche Gegenstände die polizeiliche Durchsuchung der Teilnehmer bei der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 zutage gefördert wurden, die laut der Stellungnahme des Polizeipräsidiums Bielefeld in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren bereits gegenüber dieser Versammlung angeordnet worden war.

31

3. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 1 GG Erfolg hat, bedarf es keiner Prüfung, ob daneben weitere Grundrechte verletzt sind.

32

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Tenor

1. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 15. Oktober 2010 - 3 L 1556/10 - und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010 - 3 B 307/10 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.

2. Die Kostenentscheidungen der Beschlüsse werden aufgehoben. Das Verfahren wird insoweit an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zurückverwiesen.

3. ...

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verwaltungsgerichtliche Versagung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine versammlungsrechtliche Auflage.

I.

2

1. Die Beschwerdeführer meldeten Anfang September 2010 bei der Stadt L. ihr Vorhaben an, am 16. Oktober 2010 (von 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr) in L. eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Die geplante Versammlung sollte aus drei Aufzügen und einer Abschlusskundgebung in der Innenstadt von L. bestehen. Die Teilnehmerzahl wurde von den Beschwerdeführern bei der Anmeldung auf 600 Personen geschätzt. Das Motto der geplanten Versammlung lautete "Recht auf Zukunft". Es bezog sich auf eine am 17. Oktober 2009 in L. von der Beschwerdeführerin zu 4), einer Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), veranstaltete Versammlung, bei der es im Zusammenhang mit einer Versammlungsblockade durch Gegendemonstranten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und letztlich zu einer polizeilichen Auflösung der Versammlung kam.

3

Angesichts dieser Vorgeschichte und der Anmeldung von zahlreichen Gegendemonstrationen kam es zwischen der Anmeldung und der Durchführung der geplanten Versammlung zu umfangreichen Verhandlungen zwischen den Beschwerdeführern und der Stadt L., die unter anderem in Kooperationsgesprächen am 4., am 6. und am 13. Oktober 2010 eingehend die polizeilich sicherbare Anzahl der geplanten Aufzüge und die konkrete Streckenführung erörterten. In einer Gefährdungsanalyse am 4. Oktober 2010 bekundete die Polizeidirektion L. dabei laut den tatsächlichen Feststellungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, dass der Schutz von zwei der angemeldeten Aufzüge mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Am 11. Oktober 2010 teilte der Beschwerdeführer zu 1) der Stadt schließlich mit, dass am 16. Oktober 2010 nunmehr lediglich ein einziger Aufzug stattfinden solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre Gefahrprognose insofern, dass nunmehr nur eine maximal vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei, weil nach den Erfahrungen des Versammlungsgeschehens vom 17. Oktober 2009 mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl zu rechnen sei und jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstrationen als gewaltbereit einzustufen seien.

4

2. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre Kundgebung in der Zeit von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr in einem Bereich am L. Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Auflage an. Die Polizeidirektion L. habe in ihrer Gefahrprognose vom 12. Oktober 2010 dargelegt, dass im Zeitraum vom 15. bis zum 17. Oktober 2010 aufgrund von zahlreichen Versammlungsanmeldungen widerstreitender politischer Lager eine latente Gefährdungssituation vorhanden sei, die einen außerordentlich hohen Kräfteeinsatz der Polizei erfordere. Es sei davon auszugehen, dass sich die Teilnehmer der Aufzüge bei Angriffen durch Personen der linksextremistischen Klientel provozieren ließen und darauf entsprechend reagierten. Die Polizei habe glaubhaft dargelegt, dass sie kräftetechnisch außerstande sei, einen Aufzug zu begleiten, da trotz bundesweiter Anfragen nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44 Polizeihundertschaften, also nur 66 % der geplanten Polizeikräfte, zur Verfügung stünden. Die Ausübung der Versammlungsfreiheit werde trotz der Beschränkungen nicht vereitelt, da der zugewiesene Ort eine hinreichende Öffentlichkeitswirksamkeit und eine räumliche Trennung der gegensätzlichen politischen Lager gewährleiste.

5

3. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer noch am gleichen Tag Widerspruch und stellten beim Verwaltungsgericht Leipzig die Anträge, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Auflage, nur eine stationäre Kundgebung durchzuführen, wiederherzustellen sowie im Wege einer einstweiligen Anordnung ein Verbot sämtlicher Versammlungen in einem Umkreis von 300 m um die angemeldeten Aufzugstrecken anzuordnen. Das Verwaltungsgericht Leipzig lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab und begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Bescheid vom 13. Oktober 2010 rechtmäßig sei und somit das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Bescheids die Interessen der Beschwerdeführer überwiege. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, die Stadt L., sei auf der Grundlage der Einschätzung der Polizeidirektion L. nachvollziehbar davon ausgegangen, dass infolge zahlreicher Gegenaktionen und -demonstrationen bei Durchführung des im Zuge der Kooperation der Beschwerdeführer zuletzt noch geplanten einzigen Aufzuges eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bestehe. Bei der Vielzahl der angemeldeten und geplanten Veranstaltungen am 16.10.2010, unter anderem ein Fußballspiel, und in Anbetracht der beschriebenen begrenzten Kräftelage der Polizei sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einhergehenden Personen- und Sachschäden zu rechnen, denen nur mit der Beschränkung auf eine stationäre Kundgebung begegnet werden könne. Dieser Gefahr könne in Anbetracht der besonderen Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 auch nicht durch Maßnahmen gegen potentielle Störer begegnet werden.

6

4. Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 zurück. Ob ein polizeilicher Notstand vorliege, sei im Rahmen der summarischen Prüfung nicht abschließend zu beurteilen. Der Einschätzung der Polizeidirektion lasse sich entnehmen, dass aufgrund des Versammlungsgeschehens im Vorjahr mit gewalttätigen Auseinandersetzungen einer Anzahl von 10 bis 20 % der Teilnehmer sowohl auf Seiten der Beschwerdeführer wie auf Seiten linker Demonstranten gerechnet werde. Zwar erschließe sich dem Gericht nicht, wodurch sich das Gefährdungspotential innerhalb kurzer Zeit so erhöht haben solle, dass statt der zwei Aufzüge, die die Polizeidirektion ursprünglich noch mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten habe, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein solle. Wegen der fehlenden Überprüfungsmöglichkeit sei aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Danach sei die Beschwerde zurückzuweisen, weil für den Antragsteller die mit der Durchführung einer nur stationären Kundgebung verbundenen Beeinträchtigungen hinnehmbar seien.

7

5. Die Beschwerdeführer beantragten sodann beim Bundesverfassungsgericht zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Diesen Antrag hat die Kammer aufgrund der besonderen Voraussetzungen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht abgelehnt, dabei jedoch zugleich auf die Möglichkeit der Klärung der aufgeworfenen Fragen in einem verfassungsgerichtlichen Hauptsachverfahren hingewiesen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -, juris).

8

6. Hieraufhin erhoben die Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts fristgemäß Verfassungsbeschwerde mit der Rüge, durch die angegriffenen Entscheidungen in ihren Rechten aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt zu sein.

9

7. Das Bundesverfassungsgericht hat der Stadt L. als Gegnerin des Ausgangsverfahrens, dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Europa sowie der Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

10

Nach Auffassung des Rechtsamtes der Stadt L. liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht vor. Das Sächsische Staatsministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts hat eine Stellungnahme des unter anderem für das Versammlungsrecht zuständigen 6. Revisionssenats übersandt, in der dieser Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen äußert.

II.

11

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 69, 315 <340 ff.>; 110, 77 <83 ff.>). Nach diesen Maßstäben ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zulässig und begründet.

12

1. Der Zulässigkeit der Rüge der Verletzung des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG steht weder der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde noch das Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses entgegen.

13

a) Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache nur, soweit die geltend gemachte Verletzung von Freiheitsrechten oder von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Entscheidung der Gerichte in der Hauptsache noch ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Hier rügen die Beschwerdeführer allerdings gerade die Missachtung der Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG bei der Zurückweisung ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr behandelt werden würde.

14

b) Auch ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführer besteht, obwohl der Demonstrationstermin verstrichen und damit der Sofortvollzug der strittigen Auflagen gegenstandslos geworden ist. Sind verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung nicht (mehr) zu klären, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis auch nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens im Falle einer Wiederholungsgefahr, also wenn ein Gericht die bereits herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet hat und bei hinreichend bestimmter Gefahr einer gleichartigen Entscheidung bei gleichartiger Sach- und Rechtslage zu befürchten ist, dass es diese auch in Zukunft verkennt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Hier führten die Beschwerdeführer bereits konflikthafte Versammlungen in L. durch und planen auch in Zukunft die Durchführung von Versammlungen in L., bei denen sie mit ähnlichen Konfliktsituationen rechnen und gegebenenfalls gleichartige Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts befürchten müssten.

15

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG.

16

a) Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>; 128, 226 <250>). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfGE 69, 315 <344 f.>; 128, 226 <250>) und wird im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern der Freiheit gewährt (vgl. BVerfGE 124, 300 <320>). Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (vgl. BVerfGE 69, 315 <343> oder <355 ff.>; 128, 226 <250 f.>).

17

Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 69, 315 <350 f.>; BVerfGK 17, 303 <307>). Nach § 15 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom 24. Juli 1953 in der Fassung vom 8. Dezember 2008 (BGBl I S. 2366; im Folgenden: VersG) kann die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Danach kann im Einzelfall auch die Festlegung geboten sein, dass eine ursprünglich als Aufzug angemeldete Versammlung nur als ortsfeste Versammlung durchgeführt werden darf (vgl. BVerfGK 2, 1 <8>). Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde allerdings auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus (BVerfGE 69, 315 <353 f.>; BVerfGK 17, 303 <307>). Ferner gilt, dass, soweit sich der Veranstalter und die Versammlungsteilnehmer grundsätzlich friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter - insbesondere von Gegendemonstrationen - zu befürchten sind, die Durchführung der Versammlung zu schützen ist und behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten sind (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; BVerfGK 8, 79 <81>; BVerfG , Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 - 1 BvQ 24/00, NVwZ 2000, S. 1406 <1407>). Gegen die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>; BVerfGK 17, 303 <308>). Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anderenfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der von dem Antragsteller angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre; eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht allerdings nicht (vgl. BVerfGK 8, 79 <82>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 - 1 BvQ 13/01 -, NJW 2001, S. 2069 <2072>). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfGK 17, 303 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141 <142>).

18

b) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; 96, 27 <39>). Im Verfahren auf Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs, das für den Regelfall sicherstellt, dass die Verwaltungsbehörden keine irreparablen Maßnahmen durchführen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben, ist der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 315 <363>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Insbesondere im Bereich des Versammlungsrechts muss das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren angesichts der Zeitgebundenheit von Versammlungen zum Teil Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt (vgl. BVerfGE 69, 315 <363 f.>; 110, 77 <87>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 23. März 2004 - 1 BvR 745/01 -, juris, Rn. 13). Die einstweilige Anordnung im verfassungsgerichtlichen Verfahren als außerhalb der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG liegender Rechtsbehelf kann die primäre Rechtsschutzfunktion der Fachgerichte ebenfalls nicht übernehmen. Angesichts der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und im Hinblick auf die weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung auslösen kann, ist hierbei zudem ein strenger, von den verwaltungsgerichtlichen Kriterien grundsätzlich unterschiedener Maßstab anzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -, juris, Rn. 4). Daher müssen die Verwaltungsgerichte zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich, ist als Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen (vgl. BVerfGE 69, 315 <363 f.>; 110, 77 <87>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 <835>). Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen, da ansonsten eine Umgehung der beschriebenen strengen Voraussetzungen für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit möglich erschiene.

19

3. Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht Leipzig und das Sächsische Oberverwaltungsgericht bei den ihnen obliegenden Entscheidungen über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend berücksichtigt. Beide Entscheidungen werden den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG im Hinblick auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen versammlungsbeschränkende behördliche Maßnahmen nicht gerecht.

20

a) Die vom Verwaltungsgericht Leipzig herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, die Annahme einer von der Versammlung selbst ausgehenden unmittelbaren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit zu tragen, die die Verhinderung der Versammlung in Form eines Aufzugs hätte rechtfertigen können. Das Verwaltungsgericht legt insofern bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder diese Gefahr ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Dass das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung zur Begründung seines Standpunktes im Wesentlichen lediglich auf die Einschätzung der Polizeidirektion L., die ohne nähere Erläuterung 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration dem gewaltbereiten Klientel zurechnete, verweist, genügt den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG insofern jedenfalls nicht.

21

Auch im Hinblick auf eine Inanspruchnahme der Veranstalter als Nichtstörer im Wege des polizeilichen Notstandes genügen die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Das Verwaltungsgericht weist insofern zur Begründung des Vorliegens einer nicht durch Maßnahmen gegen potentielle Störer abwendbaren Gefahr, insbesondere auf die besondere Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 und die deswegen nur begrenzt zur Verfügung stehenden Polizeikräfte, hin und beruft sich dabei pauschal auf die Einschätzung der Polizeidirektion L. vom 13. Oktober 2010. Berücksichtigt man aber den Umstand, dass die Polizeidirektion in ihrer Gefährdungsanalyse vom 4. Oktober 2010 offenbar noch zwei der angemeldeten Aufzüge mit den ihr voraussichtlich zur Verfügung stehenden Kräften für sicherbar hielt, erfüllt diese pauschale Bezugnahme auf die Einschätzung der Polizeidirektion vom 13. Oktober 2010 nicht die den Anforderungen an die entsprechend obigen Maßstäben bereits im Eilverfahren gebotene intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung. Vielmehr hätte die kurzfristige Änderung der polizeilichen Einschätzung, die sich nicht ohne weiteres erschließt, das Verwaltungsgericht zu einer substantiierteren Prüfung der veränderten polizeilichen Einschätzung und zur Nachfrage einer genaueren Begründung ihrer Entscheidung veranlassen müssen. Dass dies vorliegend aus zeitlichen Gründen nicht möglich gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Auch im Übrigen hätte es dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund welcher konkreter, vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz der angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten. Die behauptete Bindung von Polizeikräften durch die zeitgleich stattfindenden Gegendemonstrationen kann nach obigen Maßstäben jedenfalls nicht ohne weiteres als hinreichendes Argument dafür herangezogen werden. Auch die Bindung von Polizeikräften aufgrund eines parallel stattfindenden Fußballspiels und sonstiger Veranstaltungen, deren vorrangige Schutzwürdigkeit sich nicht ohne weiteres erschließt, reicht hierfür nicht aus.

22

b) Die angegriffene Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts hält den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG ebenfalls nicht stand. Zwar hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht deutliche Bedenken am Vorliegen der Voraussetzungen eines für die Rechtfertigung der versammlungsrechtlichen Auflage erforderlichen polizeilichen Notstandes geäußert und nachvollziehbar dargelegt, dass sich ihm nicht erschließe, wodurch sich das Gefährdungspotential innerhalb des kurzen Zeitraumes zwischen der Gefährdungsanalyse der Polizeidirektion L. vom 4. Oktober 2010 und dem Erlass der Auflage am 13. Oktober 2010 so erhöht haben soll, dass statt der zwei Aufzüge, die ursprünglich noch mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten wurden, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein solle. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht in der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit die Vornahme der hier grundsätzlich gebotenen und soweit als möglich nicht lediglich summarischen Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation, um der Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen. Vorliegend hat sich das Sächsische Oberverwaltungsgericht in der Begründung seiner Entscheidung jedoch im Wesentlichen darauf beschränkt, auf die vermeintlich geringe Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit hinzuweisen, ohne auch nur ansatzweise ausreichend auf das Bestehen einer die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit überwiegenden potentiellen Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter einzugehen.

23

4. Demgemäß ist festzustellen, dass sowohl der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig als auch der angegriffene Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Einer Aufhebung der Entscheidungen und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung bedarf es darüberhinausgehend nur bezüglich der Kostenentscheidungen, da in der Sache selbst Erledigung eingetreten ist (vgl. Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, 2. Aufl. 2005, BVerfGG, § 93c Rn. 33).

24

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 3 der Zivilprozessordnung:

1.
über die Anordnung eines Arrests, zur Erwirkung eines Europäischen Beschlusses zur vorläufigen Kontenpfändung, wenn keine Festgebühren bestimmt sind, und auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sowie im Verfahren über die Aufhebung, den Widerruf oder die Abänderung der genannten Entscheidungen,
2.
über den Antrag auf Zulassung der Vollziehung einer vorläufigen oder sichernden Maßnahme des Schiedsgerichts,
3.
auf Aufhebung oder Abänderung einer Entscheidung auf Zulassung der Vollziehung (§ 1041 der Zivilprozessordnung),
4.
nach § 47 Absatz 5 des Energiewirtschaftsgesetzes über gerügte Rechtsverletzungen, der Wert beträgt höchstens 100 000 Euro, und
5.
nach § 148 Absatz 1 und 2 des Aktiengesetzes; er darf jedoch ein Zehntel des Grundkapitals oder Stammkapitals des übertragenden oder formwechselnden Rechtsträgers oder, falls der übertragende oder formwechselnde Rechtsträger ein Grundkapital oder Stammkapital nicht hat, ein Zehntel des Vermögens dieses Rechtsträgers, höchstens jedoch 500 000 Euro, nur insoweit übersteigen, als die Bedeutung der Sache für die Parteien höher zu bewerten ist.

(2) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 52 Absatz 1 und 2:

1.
über einen Antrag auf Erlass, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung oder § 114 der Finanzgerichtsordnung,
2.
nach § 47 Absatz 6, § 80 Absatz 5 bis 8, § 80a Absatz 3 oder § 80b Absatz 2 und 3 der Verwaltungsgerichtsordnung,
3.
nach § 69 Absatz 3, 5 der Finanzgerichtsordnung,
4.
nach § 86b des Sozialgerichtsgesetzes und
5.
nach § 50 Absatz 3 bis 5 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes.

(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

(2) Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5 000 Euro anzunehmen.

(3) Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend. Hat der Antrag des Klägers offensichtlich absehbare Auswirkungen auf künftige Geldleistungen oder auf noch zu erlassende, auf derartige Geldleistungen bezogene Verwaltungsakte, ist die Höhe des sich aus Satz 1 ergebenden Streitwerts um den Betrag der offensichtlich absehbaren zukünftigen Auswirkungen für den Kläger anzuheben, wobei die Summe das Dreifache des Werts nach Satz 1 nicht übersteigen darf. In Verfahren in Kindergeldangelegenheiten vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit ist § 42 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 entsprechend anzuwenden; an die Stelle des dreifachen Jahresbetrags tritt der einfache Jahresbetrag.

(4) In Verfahren

1.
vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit, mit Ausnahme der Verfahren nach § 155 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung und der Verfahren in Kindergeldangelegenheiten, darf der Streitwert nicht unter 1 500 Euro,
2.
vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und bei Rechtsstreitigkeiten nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht über 2 500 000 Euro,
3.
vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit über Ansprüche nach dem Vermögensgesetz nicht über 500 000 Euro und
4.
bei Rechtsstreitigkeiten nach § 36 Absatz 6 Satz 1 des Pflegeberufegesetzes nicht über 1 500 000 Euro
angenommen werden.

(5) Solange in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit der Wert nicht festgesetzt ist und sich der nach den Absätzen 3 und 4 Nummer 1 maßgebende Wert auch nicht unmittelbar aus den gerichtlichen Verfahrensakten ergibt, sind die Gebühren vorläufig nach dem in Absatz 4 Nummer 1 bestimmten Mindestwert zu bemessen.

(6) In Verfahren, die die Begründung, die Umwandlung, das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses betreffen, ist Streitwert

1.
die Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Dienst- oder Amtsverhältnis auf Lebenszeit ist,
2.
im Übrigen die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen.
Maßgebend für die Berechnung ist das laufende Kalenderjahr. Bezügebestandteile, die vom Familienstand oder von Unterhaltsverpflichtungen abhängig sind, bleiben außer Betracht. Betrifft das Verfahren die Verleihung eines anderen Amts oder den Zeitpunkt einer Versetzung in den Ruhestand, ist Streitwert die Hälfte des sich nach den Sätzen 1 bis 3 ergebenden Betrags.

(7) Ist mit einem in Verfahren nach Absatz 6 verfolgten Klagebegehren ein aus ihm hergeleiteter vermögensrechtlicher Anspruch verbunden, ist nur ein Klagebegehren, und zwar das wertmäßig höhere, maßgebend.

(8) Dem Kläger steht gleich, wer sonst das Verfahren des ersten Rechtszugs beantragt hat.

Tenor

Die Beschwerde wird verworfen.

Gründe

Die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin gegen die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 5. September 2013, über die die Berichterstatterin nach § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 6 Satz 1 GKG als Einzelrichterin entscheidet, ist zu verwerfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 200,- Euro nicht übersteigt (§ 68 Abs. 1 Satz 1 GKG). Auch eine Änderung der gerichtlichen Streitwertfestsetzung nach § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG von Amts wegen kommt nicht in Betracht, weil das Verwaltungsgericht den Streitwert in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats zutreffend auf 2.500,- Euro festgesetzt hat.

Das Verwaltungsgericht hat den Streitwert für das versammlungsrechtliche Eilverfahren unter Nr. III des Einstellungsbeschlusses vom 5. September 2013 auf der Grundlage von § 52 Abs. 2 und § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und Berücksichtigung des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf 2.500,- Euro und damit auf die Hälfte des Auffangstreitwerts nach § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt. Die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin halten dies für unzutreffend, weil der Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet gewesen sei. Sie begehren deshalb die Heraufsetzung des Streitwerts auf 5.000,- Euro und damit die Festsetzung eines Streitwerts in Höhe des vollen Auffangstreitwerts nach § 52 Abs. 2 GKG, weil sich mit dem sich aus dem halben Auffangwert ergebenden Stundensatz für ihre Tätigkeit ein wirtschaftlicher Kanzleibetrieb nicht aufrecht erhalten ließe und die Streitwertfestsetzung daher zu einer Beeinträchtigung der Rechte aus Art. 8 Abs. 1 GG führe. Bezüglich des Erreichens der Beschwerdesumme sei auf die insgesamt anhängigen Verfahren eines Rechtsanwalts in einem Gerichtsbezirk abzustellen. Das über den Fall hinausgehende allgemeine Interesse des Prozessbevollmächtigten sei zu berücksichtigen, weil der Rechtsanwalt durch die Entscheidungspraxis der erstinstanzlichen Gerichte in seiner Berufsfreiheit berührt sei. Zudem seien Eil- und Hauptsacheverfahren zusammen zu betrachten.

Die Beschwerde ist als Beschwerde der nach § 32 Abs. 2 Satz 1 RVG aus eigenem Recht beschwerdeberechtigten Prozessbevollmächtigten zunächst zulässig. § 32 Abs. 2 Satz 1 RVG ermöglicht es den Prozessbevollmächtigten, aus eigenem Recht Rechtsmittel gegen die Festsetzung des Streitwerts einzulegen, wenn sie den festgesetzten Streitwert als zu gering erachten. Dieses Recht besteht jedoch nur in dem Umfang und im selben Rahmen wie eines sonst am Wertsetzungsverfahren Beteiligten; er erlangt also nicht mehr Rechte als der von ihm vertretene Mandant (vgl. Kießling in Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 6. Aufl. 2013, § 32 Rn. 94; Hartmann, Kostengesetze, 44. Aufl. 2014, RVG § 32 Rn. 12 u. 19)

Allerdings ist die Beschwerde gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 GKG als unstatthaft zu verwerfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 200,- Euro nicht übersteigt. Maßgebend für die Berechnung der Beschwerdesumme ist nicht die Differenz der Streitwerte, sondern die Differenz der aus den verschiedenen Streitwerten resultierenden Gebühren. Bei der Beschwerde eines Rechtsanwalts ist für die Beschwerdesumme der Betrag maßgebend, um den sich im Falle des Erfolgs der Beschwerde seine Gesamtvergütung (Gebühren und Auslagen einschließlich anfallender Umsatzsteuer) erhöhen würde. Dabei kommt es auf die Gebühren an, die dem Rechtsanwalt tatsächlich zustehen würden (vgl. Oestreich in Oestreich/Hellstab/Trenkle, Kommentar zum GKG, Stand Dez. 2013, § 68 Rn. 19; Zimmermann in Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, GKG, 2. Aufl. 2009, § 68 Rn. 6; Hartmann, a. a. O., § 32 Rn. 17; BayVGH, B.v. 3.9.2013 - 6 C 13.1598 - juris Rn. 2). Nach Nr. 3100 Teil 3 Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG erhält der Rechtsanwalt für seine Tätigkeit im Verfahren im ersten Rechtszug eine 1,3-fache Verfahrensgebühr. Diese beträgt bei einem Streitwert von 2.500,- Euro 261,30 Euro (s. Gebührentabelle in Anlage 2 zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG). Da die Umsatzsteuer in die Gebühr einzurechnen ist, errechnet sich somit insgesamt eine Gebühr von 310,95 Euro. Bei einem Streitwert von 5.000,- Euro beläuft sich die 1,3-fache Verfahrensgebühr zuzüglich Umsatzsteuer auf 468,74 Euro. Der Differenzbetrag von 157,79 Euro liegt unter der Beschwerdesumme von 200,- Euro. Dieser Berechnung liegt die Gebührentabelle in Anlage 2 zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG in der ab 1. August 2013 geltenden Fassung zugrunde. In der bis 31. Juli 2013 geltenden Fassung hätte die Differenz zwischen der Gesamtvergütung des Rechtsanwalts bei einem Streitwert von 2.500,- Euro und 5.000,- Euro die Beschwerdesumme erreicht.

Entgegen dem Beschwerdevorbringen findet eine Zusammenrechnung der Werte verschiedener Streitgegenstände - abgesehen von der Regelung in § 39 GKG, wonach die Werte von mehreren Streitgegenständen nur „in demselben Verfahren und in demselben Rechtszug“ zusammen gerechnet werden - bei der Festsetzung des Streitwerts nicht statt. Der grundsätzlich nach § 32 Abs. 1 RVG auch für die Gebühren eines Rechtsanwalts maßgebliche gerichtlich festgesetzte Streitwert wird in der Regel für das jeweilige Verfahren und den jeweiligen Streitgegenstand bestimmt. Deshalb darf auch bei der Beschwerde gegen den gerichtlichen Beschluss, durch den der Wert für die Gerichtsgebühren festgesetzt worden ist (§ 63 Abs. 2 und § 68 Abs. 1 GKG), nur auf diesen Streitgegenstand und nicht auf eine fiktive Zusammenrechnung verschiedener Streitgegenstände abgestellt werden.

Dass dem Prozessbevollmächtigten für denselben Gegenstand neben der Verfahrensgebühr noch besondere Gebühren nach dem Gebührenverzeichnis in Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG zustehen würden und deshalb die maßgebliche Beschwerdesumme überschritten würde, ist weder geltend gemacht noch hier sonst ersichtlich.

Die in der Rechtsprechung strittige Frage, ob das Rechtsmittelgericht bei einer mangels ausreichender Beschwerdesumme unzulässigen Streitwertbeschwerde die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung nach § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG von Amts wegen ändern darf (dagegen: Dörndorfer in Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, GKG, 2. Aufl. 2009, § 63 Rn. 10 m. w. N.; Kießling in Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 6. Aufl. 2013, § 32 Rn. 46; a.A. NdsOVG, B.v. 13.6.2012 - 12 E 486/12 - juris m. w. N.), kann hier offen bleiben. Der Senat sieht bei versammlungsrechtlichen Streitigkeiten für eine Erhöhung des Streitwerts auf 5.000,- Euro in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keinen Anlass. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass in versammlungsrechtlichen Eilverfahren, auch wenn eine in ihnen ergehende Entscheidung gegebenenfalls die Hauptsache vorwegnimmt, der Streitwert die Hälfte des Auffangwerts nach § 52 Abs. 2 GKG und damit, wie vom Verwaltungsgericht festgesetzt, 2.500,- Euro beträgt (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 3.9.2013 - 10 CS 13.1841 - juris; B.v. 28.6.2013 - 10 CS 13.1356 - juris; B.v. 12.4.2013 - 10 CS 13.787 - juris).

Soweit der Streitwertkatalog 2013 in der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderung abweichend vom Streitwertkatalog 2004 nicht den vollen, sondern nur noch den halben Auffangwert als Streitwert für ein Versammlungsverbot oder für versammlungsrechtliche Auflagen in der Hauptsache vorsieht, folgt der Verwaltungsgerichtshof dem für Beschränkungen nach dem Bayerischen Versammlungsgesetz nicht, sondern hält an seiner bisherigen Praxis fest. Da der Antrag des Klägers bei versammlungsrechtlichen Beschränkungen oder Versammlungsverboten für die Bestimmung eines vom Auffangwert abweichenden Streitwerts nach einem sich für ihn ergebenden wirtschaftlichen Interesse auf der Grundlage von § 52 Abs. 1 GKG in der Regel keine genügenden Anhaltspunkte bietet, ist nach § 52 Abs. 2 GKG regelmäßig ein Streitwert von 5.000,- Euro anzunehmen (BayVGH, B.v. 11.12.2013 -10 C 13.829 - juris Rn. 9).

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Das Verfahren ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 GKG gebührenfrei. Kosten werden gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2 GKG nicht erstattet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG, § 152 Abs. 1 VwGO).