Verwaltungsgericht Minden Beschluss, 12. Jan. 2015 - 1 L 551/14.A
Gericht
Tenor
1. Der Beschluss der Kammer vom 13.08.2014 wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 1 K 1722/14.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.07.2014 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
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Gründe:
2Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
3den Beschluss der Kammer vom 13.08.2014 zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage (1 K 1722/14.A) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 14.07.2014 anzuordnen, soweit in Ziffer 2. des Bescheides die Abschiebung nach Malta angeordnet wird,
4ist zulässig und begründet.
5Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
6Im vorliegenden Verfahren ist § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO anwendbar. Auf Grund des Schriftsatzes des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 27.08.2014 sieht die Kammer die Rechtslage nunmehr anders als im Beschluss vom 13.08.2014.
7Der Antrag ist entgegen der Auffassung im Beschluss vom 13.08.2014 begründet. Das öffentliche Vollzugsinteresse an der sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung überwiegt bei einer an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientierten Abwägung das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet. Nach summarischer Prüfung spricht nämlich überwiegendes dafür, dass die Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist.
8Nach erneuter Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel und der zur Problematik der Rückführung von Asylbewerbern nach Malta ergangenen Rechtsprechung liegen hinreichende Erkenntnisse dazu vor, dass das maltesische Asylverfahren europarechtlichen Vorgaben grundsätzlich nicht genügt und dem Antragsteller deshalb ernsthaft Gefahren i. S. v. Art. 4 EuGrCh drohen.
9Die Haftpraxis und die Haftbedingungen bezüglich Migranten und damit auch Asylbewerbern gegenüber stehen nicht im Einklang mit internationalem und europäischem Recht. Hinsichtlich der Inhaftierung von Asylbewerbern sind in der Art. 8 bis 11 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie, ABl. L 180 S. 96), Mindeststandards festgelegt. Haft darf danach nicht allein deswegen angeordnet werden, weil der Betroffene einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gestellt hat, sondern nur in Ausnahmefällen, insbesondere zur Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit, bei Fluchtgefahr im Falle notwendiger Beweissicherung, zur Prüfung des Einreiserechts, zur Durch- oder Fortführung eines Abschiebeverfahrens, wenn die Gefahr der Verzögerung oder der Vereitelung durch den Betroffenen besteht und bei Gefahr für die nationale Sicherheit und Ordnung (Art. 8 Abs. 3, vgl. auch Art. 31 Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 5 EMRK). Die Inhaftierung darf nur für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange, wie die Gründe gemäß Art. 8 Abs. 3 bestehen, angeordnet werden (Art. 9 Abs. 1 Satz 1). Die Haftanordnung ist zu begründen (Art. 9 Abs. 2); bei einer Anordnung durch eine Verwaltungsbehörde ist eine zügige Überprüfung durch ein Gericht herbeizuführen (Art. 9 Abs. 3). In diesem Fall soll dem Betroffenen unentgeltlicher Rechtsbeistand zur Verfügung stehen (Art. 9 Abs. 6). Auch im Übrigen ist eine turnusmäßige Haftüberprüfung von Amts wegen vorzusehen (Art. 9 Abs. 5). Die Schutzsuchenden sind in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auf jeden Fall aber getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen (Art. 10 Abs. 1). Sie haben ein Recht auf Zugang zu frischer Luft (Art. 10 Abs. 2) sowie auf Besuch durch Mitarbeiter des UNHCR, Rechtsbeiständen, Beratern und Familienangehörigen (Art. 10 Abs. 3 und 4). Die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen ist nur im Ausnahmefall und unter weiteren sehr eingeschränkten Bedingungen zulässig (Art. 11).
10Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln genügt das in Malta durchgeführte Asylverfahren gegen die geschilderten europarechtlichen Standards nicht nur im Einzelfall. So wird zur Haftpraxis berichtet, dass alle Flüchtlinge routinemäßig in sog. Detention Centers inhaftiert würden (AIDA, Asylum Information Database, „National Country Report Malta“ vom Dezember 2013; UNHCR „UNHCR’s Position on the Detention of Asylum-seekers in Malta“ vom 18.09.2013; Jesuits Refugee Service Europe (JRS), „Protestion Interrupted, National Report Malta“ vom Juni 2013; UNHCR, „Universal Periodic Review Malta“ vom März 2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Malta: Aktuelle Situation für Verletzliche, September 2010). Auch wenn zur Begründung an die illegale Einreise angeknüpft werde, so seien davon faktisch alle Schutzsuchenden betroffen. Auf besondere Schutzbedürftigkeit werde nur geachtet, wenn und soweit diese offensichtlich sei. Im Übrigen müsse diese in einem besonderen Verfahren festgestellt werden, was – je nach Offensichtlichkeit – mehr oder weniger lange dauern könne. Die Zustände in den Detention Centers hätten sich in den letzten Jahren zwar (teilweise) verbessert. In vielen Bereichen sei die Versorgung der Grundbedürfnisse jedoch noch lückenhaft und vor allem bei der immer wieder vorkommenden Überbelegung inakzeptabel (vgl. auch Aden Ahmed gegen Malta, Entscheidung des EGMR vom 23.07.2013, Nr. 55352/12, HUDOC). Insbesondere sei der Zugang zu medizinischer Versorgung absolut ungenügend (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Malta: Aktuelle Situation für Verletzliche, September 2010). Auch sei keine effektive Möglichkeit gegeben, eine Haftüberprüfung zu erreichen (UNHCR „UNHCR’s Position on the Detention of Asylum-seekers in Malta“ vom 18.09.2013). Das einschlägige Migrationsgesetz enthalte auch keine Bestimmung zur maximalen Haftdauer. Die Freilassung von Asylbewerbern erfolge in der Regel auf Grundlage einer Verwaltungsbestimmung nach einem Jahr, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht über den Asylantrag entschieden worden sei. Die Unterbringung erfolge dann in sog. Open Detention Centers. Die Zustände dort werden ebenfalls als prekär beschrieben (vgl. im Einzelnen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Malta: Aktuelle Situation für Verletzliche, September 2010). Inhaftierung von unbestimmter Dauer des anschließenden Verfahrens treffe grundsätzlich auch Dublin-Rückkehrer, weil sie entweder in den Stand vor ihrer Ausreise – also in aller Regel als illegal Eingereiste – versetzt würden oder sogar wegen Flucht aus der Haft in Malta wegen illegaler Ausreise zur Strafhaft verurteilt würden (so z. B. im Fall Aden Ahmed gegen Malta, Entscheidung des EGMR vom 23.07.2013, Nr. 55352/12, HUDOC). Zusätzlich würde die Situation von Dublin-Rückkehrern dadurch erschwert, dass der monatliche Unterstützungsbeitrag von regulär ca. 130,00 Euro auf ca. 80,00 Euro gekürzt werde, womit sich eine Person maximal „so gerade ernähren“ könne (Auskunft der Deutschen Botschaft Valletta vom 02.02.2012). Dies wiege umso schwerer, weil Asylsuchende die Kosten für die Inanspruchnahme von medizinischen Dienstleistungen und Medikamenten ‑ so solche überhaupt erhältlich seien – teilweise selbst tragen müssten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Malta: Aktuelle Situation für Verletzliche, September 2010).
11Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 08.10.2014 – A 8 K 345/14 – bei juris – im Ergebnis ebenso: VG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2014 – 12 B 1217/14 – bei juris.
12Es spricht viel dafür, dass es sich bei den geschilderten Haftbedingungen nicht nur um Einzelfälle handelt, die Schutzsuchende vereinzelt oder zufällig treffen. Angesichts dieser Erkenntnislage kann von der Vermutung, dass den Asylsuchenden in Malta eine Behandlung zukommt, die den Erfordernissen der Grundrechtscharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht, nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden, weil hinreichende Mängel des Aufnahmeverfahrens und seiner Aufnahmebedingungen vorliegen.
13Vor diesem Hintergrund überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Bliebe diesem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage versagt, wäre er der möglichen Gefahr ausgesetzt, über einen längeren Zeitraum lediglich infolge seines Status als Asylsuchender inhaftiert zu werden und unzumutbaren Haftbedingungen ausgesetzt zu sein, ohne dass ihm eine effektive Beschwerde-möglichkeit zur Verfügung stünde. Diese Beeinträchtigungen des Antragstellers wiegen schwerer als der Aufschub oder auch der Ausfall der Durchsetzung einer Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat. Die grundsätzliche Wirk-samkeit und Effektivität des gemeinsamen Europäischen Asylsystems wird durch eine sich im Nachhinein als falsch herausstellende Unterbindung einer Überstellung im Einzelfall nicht in Frage gestellt, zumal die Dublin-Verordnungen ein Recht zum jederzeitigen Selbsteintritt der Mitgliedstaaten vorsehen und eine gemeinschafts-rechtliche Verpflichtung zur Überstellung nicht besteht.
14Vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2014 – 12 B 1217/14 – bei juris.
15Daher war dem Antrag des Antragstellers mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylVfG.
16Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.