Verwaltungsgericht Köln Urteil, 25. Feb. 2014 - 14 K 2890/12.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. April 2012 wird insoweit aufgehoben, als darin in Ziffer 3 festgestellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vorliegt und in Ziffer 4 die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wird.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, haben der Kläger und die Beklagte jeweils die Hälfte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
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Tatbestand
2Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, tadschikischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens. Er reiste am 6. Februar 2011 über Iran, Türkei, Griechenland und Italien - zuletzt mittels PKW - in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 10. Februar 2011 die Anerkennung als Asylberechtigter.
3In seiner Anhörung am 15. Februar 2011 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger an, er stamme aus Kandahar. Er sei zusammen mit seiner Mutter, die Klägerin im Verfahren 14 K 2512/12.A, und deren Schwiegertochter, die Klägerin im Verfahren 14 K 3634/12.A, aus Afghanistan ausgereist. Erst in Athen hätten sich ihre Wege getrennt. Er habe Griechenland eine Woche nach den beiden Frauen verlassen. Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder; sein Vater sei bereits vor einem Jahr verstorben. Weiter habe er insgesamt vier Schwestern und zwei Brüder, von denen der älteste seit eineinhalb Jahren verschollen sei. Es habe Drohbriefe von den Taliban gegeben. Der andere Bruder sei ebenfalls aus Afghanistan mit ihnen geflohen; auf dem Weg nach Griechenland sei jedoch das Schiff havariert. Sein Verbleib sei unbekannt. Zwei seiner Schwestern hätten geheiratet und würden derzeit im Iran leben. Eine Schwester sei noch in Afghanistan, die andere Schwester lebe in Hannover. Er habe die Schule lediglich zwei Klassen lang besucht und später als Schneider gearbeitet. Wirtschaftlich sei es der Familie gut gegangen, da der Vater zwei Geschäfte im Baubereich betrieben habe. Nach dessen Tod habe die Familie beide Geschäfte vermietet. Für die Flucht habe die Familie 8.000 bis 9.000 US Dollar pro Person gezahlt. Um dieses Geld aufzubringen, habe seine Mutter Teile der Ländereien sowie die beiden Geschäfte verkauft. Zudem hätten sie noch Bargeld gehabt. Zu seinem Verfolgungsschicksal befragt erklärte der Kläger, am 4. Juni 2010 habe die Familie einen Drohbrief erhalten. Ein Nachbar habe diesen vorgelesen und erklärt, dass sein Leben in Gefahr sei. Deshalb sei die Familie ausgereist. Dort, wo die Familie gelebt habe, würden viele Selbstmordanschläge passieren und die Taliban würden minderjährige Jungen für sexuelle Angelegenheiten entführen. Deshalb habe auch er von der Taliban mitgenommen werden sollen. Ursprünglich hätten nur sein Bruder und seine Schwägerin ausreisen sollen, weil der Vater der Schwägerin die beiden bedroht habe, da er gegen deren Hochzeit gewesen sei. Als dann der Drohbriefe gekommen sei, habe seine Mutter beschlossen, dass nun alle ausreisen sollten. Bereits sein Bruder, der verschollen sei, habe vor seinem Verschwinden dreimal entsprechende Drohbriefe erhalten. Einzelheiten zu dem ihn betreffenden Drohbrief könne er nicht sagen, da er nicht lesen könne.
4Mit Bescheid vom 25. April 2012 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab (Ziffer 1.) und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2.) sowie Abschiebungsverbote (Ziffer 3.) nicht vorliegen. Der Kläger wurde zudem unter Androhung seiner Abschiebung nach Afghanistan aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Im Falle der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens (Ziffer 4.). Der Bescheid wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers mittels Einschreibens am 27. April 2012 zugestellt. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, eine Asylanerkennung scheide bereits aus, weil der Kläger über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Die Flüchtlingseigenschaft könne nicht zuerkannt werden, weil die Angaben zum Vorfluchtgeschehen nicht glaubhaft seien. Der Vortrag des Klägers sei sehr allgemein, Einzelheiten würden wenig engagiert und nur sehr kurz geschildert. Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote würden nicht bestehen. Insbesondere könne nicht von einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben aufgrund eines bewaffneten Konflikts ausgegangen werden. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor.
5Der Kläger hat am 29. April 2012 Klage erhoben.
6Zur Begründung verweist der Kläger auf seinen Vortrag gegenüber der Beklagten im Rahmen der Anhörung und führt weiter aus, entgegen der Darstellung der Beklagten im Ablehnungsbescheid stehe der Drohbrief in keinem Zusammenhang mit der Hochzeit seines Bruders und seiner Schwägerin und der damit verbundenen Probleme mit deren Vater. Dem Kläger habe vielmehr gedroht, von den Taliban zwangsrekrutiert zu werden. Zwischenzeitlich habe seine in Afghanistan zurückgebliebene älteste Schwester bestätigt, dass sein ältester Bruder von der Taliban entführt und getötet worden sei. Schließlich liege in Kandahar auch ein innerstaatlicher Konflikt vor, der den Kläger konkret individuell bedrohe, da er als wehrfähiger, junger Mann zu einer besonders gefährdeten Gruppe gehöre.
7Der Kläger beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. April 2012 zu verpflichten,
9ihm den Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen,
10hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG zuzuerkennen,
11hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie nimmt zur Begründung im Wesentlichen Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
15Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2014 informatorisch zu seinen Fluchtgründen angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll verwiesen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2014 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht zum Termin erschienen ist, denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Die Beklagte ist form- und fristgerecht mit Empfangsbekenntnis geladen worden.
19Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
20Der Kläger hat nach der im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß § 3 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG). Jedoch ist ihm subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG zuzuerkennen.
21Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 -Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)-, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Demnach muss zunächst eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 AsylVfG durch einen Verfolgungsakteur (§ 3c AsylVfG) vorliegen, die eine Verfolgungsprognose zulässt. Gemäß 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG gelten als Verfolgung solche Handlungen, welche aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Insbesondere sind dabei Verletzungen der absoluten Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, zu berücksichtigen.
22Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 7. November 2013 - Rs. C - 199/12 bis 201/12 -X, Y und Z-, Rn. 51, und vom 5. September 2012 - Rs. C - 71/11 und C - 99/11 -Y und Z-, Rn. 53, zitiert jeweils nach juris.
23Nach Ziffer 2 kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Ziffer 1. Die nach Ziffer 2 zu berücksichtigende Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen dabei für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzungen aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen nach Ziffer 1 entspricht.
24Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Rn. 36, zitiert nach juris.
25Die Verfolgungshandlung muss weiter mit einem der Verfolgungsgründe des § 3b AsylVfG verknüpft sein, § 3a Abs. 3 AsylVfG, und es muss an einem effektiven Schutz im Herkunftsland fehlen (§§ 3d, e AsylVfG). Bzgl. der Verfolgungsgründe ist zu beachten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylVfG auch Nachfluchtgründe insoweit zu berücksichtigen sind. Abschließend dürfen keine Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylVfG vorliegen.
26Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 3a AsylVfG vorliegt, ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifizierungsrichtlinie in der Neufassung vom 13. Dezember 2011 Richtlinie 2011/95/EU -QRL-) ergänzend anzuwenden. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Vorschrift privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 QRL, der sich mit der Voraussetzung, dass der Antragsteller „tatsächlich Gefahr läuft“, an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zur tatsächlichen Gefahr („real risk“) orientiert,
27vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330,
28und somit der Sache nach den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit übernimmt.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Rn. 19, 32, zitiert nach juris.
30Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
31Vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 32 m.w.N., zitiert nach juris.
32Zur Privilegierung des Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten normiert Art. 4 Abs. 4 QRL eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftendenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, Rn. 20 ff. m.w.N., zitiert nach juris.
34Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009 - 10 C 24.08 -, Rn. 14, m.w.N., zitiert nach juris.
36Aus den in Art. 4 QRL geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Flucht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er ist daran festzuhalten, dass er dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern hat, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden,
37Vgl. zu Art. 16a GG: BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1989 -9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349, vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (39), und vom 3. August 1990 - 9 B 45.90 -, InfAuslR 1990, 344.
38Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
39Zwar hält es die Kammer unter Bezugnahme auf die vorliegenden Erkenntnismittel nicht für ausgeschlossen, dass - zumal in der Provinz Kandahar - seitens der Taliban versucht wird, vereinzelt junge Männer für den bewaffneten Kampf gegen die afghanische Regierung und die ISAF-Truppen mitunter auch zwangsweise gegen ihren Willen und ihre politische Überzeugung anzuwerben. Nach dem aktuellen Lagebericht sind Zwangsrekrutierungen durch Milizen, Warlords oder kriminelle Banden nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kämen aber aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihre Familien kaum an die Öffentlichkeit.
40Vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 4. Juni 2013 (S. 11).
41Auch Amnesty International (AI),
42vgl. Mitteilung von AI vom 15. Juli 2013 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) - 8 A 119/12.A -.
43schließt nicht aus, dass es zu Zwangsrekrutierungen komme. So gebe es aus verschiedenen Provinzen immer wieder Berichte, nach denen Männer zwangsrekrutiert würden. Alternativ werde den Familien teilweise angeboten, jeden Monat das Gehalt eines Taliban-Kämpfers zur Verfügung zu stellen. Im AI-Report 2013 zu Afghanistan heißt es ohne nähere Erläuterung, dass bewaffnete Gruppen weiterhin Jungen und Mädchen rekrutierten.
44Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR),
45vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht (VG) Schwerin vom 26. Juli 2013 - 5 A 1261/10 -,
46empfiehlt eine besonders sorgfältige Prüfung der Asylanträge von Angehörigen bestimmter Risikogruppen. Als eine Risikogruppe sieht er Männer und Jungen im wehrfähigen Alter an, weil diese sowohl in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten als auch in Gebieten, in denen regierungsfreundliche und regierungsfeindliche Gruppen um die Macht kämpften, häufig als Kämpfer rekrutiert würden. In von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten werde mit verschiedenen Strategien um Kämpfer geworben; dabei werde auch auf Zwangsrekrutierungen zurückgegriffen. In Übereinstimmung damit führt der UNHCR an anderer Stelle weiter aus,
47vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (deutsche Fassung der UNHCR Guidelines 2013), S. 45 ff.,
48dass es in von Aufständischen dominierten Gegenden auch Zwangsrekrutierung gebe. Dort würden Bedrohungen und Einschüchterungen eingesetzt. Menschen, die Widerstand leisteten, gingen das Risiko ein, als Spione der Regierung angesehen zu werden und getötet oder bestraft zu werden. Ausgehend davon ist der UNHCR der Auffassung, dass abhängig von den spezifischen Umständen des Falles Männer im kampffähigen Alter in Regionen unter aufständischer Kontrolle oder in Gegenden, wo aufständische und regierungsfreundliche Kräfte um die Vorherrschaft kämpfen, möglicherweise internationalen Schutz benötigten, auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe. Gleiches gelte für solche, die Zwangsrekrutierungen Widerstand geleistet hätten wegen der ihnen unterstellten politischen Meinung.
49Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) berichtet beschränkt auf den Gesichtspunkt der Rekrutierung Minderjähriger, die überwiegend in den südlichen und südöstlichen Regionen vorkomme.
50Vgl. UNAMA Mid-year report 2013 vom Juli 2013.
51In seiner Untersuchung führt Dr. Antonio Giustozzi aus,
52vgl. Giustozzi: „Afghanistan: Human Rights and Security Situation“ vom 9. September 2011,
53dass Zwangsrekrutierung eine Ausnahmeerscheinung sei und hauptsächlich in von Taliban kontrollierten Gebieten in Gestalt der Verpflichtung als Träger vorkomme.
54Die Staatendokumentation des Bundesasylamtes der Republik Österreich,
55vgl. Bericht vom 2. April 2012 „Afghanistan – Rekrutierung durch die Taliban“,
56legt dar: Weil die Taliban auf einen hinreichend großen Pool an Freiwilligen zurückgreifen könnten, weil sie ein Interesse daran hätten, die Konflikte mit der lokalen Bevölkerung zu minimieren, sowie aufgrund der mangelnden Zuverlässigkeit von zwangsrekrutierten Kämpfern, stellten Zwangsrekrutierungen nur ein Randphänomen dar. Allerdings sei die allgemeine Quellenlage rar. Es gebe keine Berichte über konkrete Fälle aus jüngerer Zeit, in denen in Afghanistan Zwangsrekrutierungen mit Waffengewalt stattgefunden hätten. Armut und Arbeitslosigkeit sowie die Verbesserung des sozialen Prestiges und die Enttäuschung über die afghanische Regierung schienen wesentliche Faktoren für die Hinwendung zu den Taliban zu sein. Nur ca. ein Zehntel der Taliban könne als „Vollzeitkämpfer“ angesehen werden; die übrigen lebten in ihren Dörfern und würden bei Bedarf von den lokalen Kommandanten mobilisiert. Bei ihnen spiele die persönliche Loyalität zum Kommandanten eine große Rolle, weil eine Indoktrinierung meist nicht geleistet werden könne.
57Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) beschreibt ausführlich die vorliegenden Erkenntnisse.
58Vgl. EASO „Afghanistan – Taliban Strategies – Recruitment“ vom Juli 2012.
59Danach versuchten die Taliban zunehmend besser gebildete Personen zu rekrutieren, insbesondere auch im Umfeld der Universität von Kabul. 2010 bis 2012 seien Zwangsrekrutierungen die Ausnahme gewesen. Generell hätten die Taliban keine Probleme, Kämpfer mit ökonomischen und prestigemäßigen Argumenten für sich zu gewinnen. Zwangsrekrutierungen kämen nach den wenig belastbaren Erkenntnissen in Afghanistan vor, insbesondere in der Provinz Helmand und anderen fest in den Händen der Taliban befindlichen Regionen sowie Flüchtlingscamps. Insgesamt stellten Zwangsrekrutierungen indes eine deutliche Ausnahme dar. Rekrutierungen von Minderjährigen kämen vor, auch für Selbstmordanschläge. Überwiegend werde jedoch angenommen, dass wegen der erforderlichen inneren Überzeugung für Selbstmordattentate Zwangsrekrutierungen ausgeschlossen seien.
60Maßgeblich auf die EASO-Studie abstellend vgl. VG Ansbach, Urteil vom 17. Juni 2013 - 11 K 12.30357 -, Rn. 24 f., zitiert nach juris.
61Nach den Erkenntnissen von Dr. Mostafa Danesch,
62vgl. Danesch: Stellungnahme an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) vom 30. April 2013 - 9 LB 2/13 -,
63setzen die Taliban überall, wo sie über Einfluss verfügen, die Praxis der Zwangsrekrutierung fort; wer sich verweigere, werde verfolgt und umgebracht. Insbesondere in Basen in Wardak und Logar gebe es Rekrutierungsnetzwerke für Kabul. Es seien auch Fälle von Rückkehrern bekannt, die in Kabul erneut behelligt worden seien. Racheaktionen der Taliban gegenüber Verweigerern seien nicht zu quantifizieren aber wohl nicht selten. Sie fänden auch in Kabul statt, zumal die Taliban Möglichkeiten hätten, gezielt Leute aufzuspüren. In einer anderen Stellungnahme,
64vgl. Danesch: Stellungnahme an den Hessischen VGH vom 3. September 2013 - 8 A 119/12.A-,
65führt er weiter aus, dass auch heute im Raum Kabul Zwangsrekrutierungen durch Taliban und andere paramilitärische Organisationen vorkämen; seit 2010 habe es viele derartige Fälle gegeben. Viele Bedrängte flöhen aus Kabul in den Iran oder nach Pakistan. Es gebe keine Statistiken aber Berichte, dass es häufig zu Fällen komme, in denen junge Männer getötet werden und Gerüchte wissen wollen, dass es sich um Racheakte der Taliban handele. Nach Angaben der Kabuler Polizei seien Zwangsrekrutierungen und Racheaktionen der Taliban gegen junge Leute nicht selten. In der Umgebung von Kabul würden auch Leichen von Verschwundenen gefunden. Eine Person, die die Zusammenarbeit mit den Taliban ablehne, werde in der Regel von diesen liquidiert.
66Vgl. Danesch: Auskunft an das VG Schwerin vom 29. Dezember 2012 - 5 A 1261/10-.
67Das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) berichtet unter dem 8. Februar 2012 aus unterschiedlichen Quellen, dass es Zwangsrekrutierungen gebe, aber nicht als flächendeckendes Phänomen, zumindest nicht außerhalb der Flüchtlingslager. Unter dem 13. August 2012 wird von einer Umfrage unter 400 afghanischen Männern berichtet. Eine Frage lautete: „Was glauben Sie, ist der Grund, warum sich andere afghanische Männer den Taliban anschließen?“ Die Antwort „Zwang“ habe an vierter Stelle rangiert und sei von 34% der Befragten (Mehrfachantworten seien möglich gewesen) genannt worden.
68Das OVG NRW schließt die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefahr der Zwangsrekrutierung junger Erwachsener durch die Taliban jedenfalls für Kabul aus; für andere Gegenden gebe es Hinweise auf Zwangsrekrutierungen. Im Übrigen könne Zwangsrekrutierung zwar im Rahmen von § 60 Abs. 2 oder 5 AufenthG a.F. relevant sein; nur ganz ausnahmsweise aber auch im Bereich des § 60 Abs. 1 AufenthG a.F.
69Vgl. OVG NRW , Beschlüsse vom 23. Mai 2013 - 13 A 1220/13.A - und vom 26. März 2013 - 13 A 332/13.A -.
70Der Bayerische VGH entnimmt den aktuellen Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte, dass unbedeutende Menschen, die sich der Zwangsrekrutierung entziehen, zu dem Kreis derjenigen gehören, die von Nachstellungen der Aufständischen im besonderen Maße betroffen sind.
71Vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 3. Juni 2013 - 13a ZB 12.30351 -, Rn. 6, zitiert nach juris.
72Außerdem müsse berücksichtigt werden, dass bei Klägern, die ein Alter erreicht hätten, in dem eine ideologische Beeinflussung nicht mehr in einem Maße wie bei Kindern und Jugendlichen möglich sei, eine Zwangsrekrutierung ebenso unwahrscheinlich sei wie bei Angehörigen dortiger ethnischer Minderheiten.
73Vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 29. Januar 2013 - 13a B 11.30510 -, Rn. 25; VG Augsburg, Urteil vom 1. März 2013 - 6 K 12.30372 -, Rn. 26 (für einen 22-jährigen); VG München, Urteil vom 24. April 2013 - 23 K 11.30148 -, Rn. 24 (zu § 60 Abs. 2 AufenthG): 14 bis 15jähriger Paschtune als von den Taliban bevorzugte Personengruppe, zitiert jeweils nach juris.
74Jedoch reicht dabei die allgemeine Angst vor einer potentiellen Zwangsrekrutierung für die Annahme einer flüchtlingsrelevanten Bedrohung nicht aus, da selbst in den durch die regierungsfeindlichen Truppen beherrschten Regionen nicht davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei den Zwangsrekrutierungen um ein „Massenphänomen“ handelt. Soweit in den Erkenntnisquellen auf den Umstand hingewiesen wird, dass über Zwangsrekrutierungen von Betroffenen aus nachvollziehbaren Gründen keine Berichte zu erhalten seien, mag das im Ausgangspunkt zutreffen. Wäre allerdings tatsächlich in Bezug auf jeden Afghanen im wehrfähigen Alter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban auszugehen, würde es sich um ein „Massenphänomen“ handeln, über das trotz allem mit mehr Informationen zu rechnen wäre.
75Vgl. VG Köln, Urteil vom 12. November 2013 - 14 K 3401/11.A -, Rn. 52 ff., zitiert nach juris.
76Vielmehr kann nur eine konkrete, individuell drohende Gefahr einer Zwangsrekrutierung als politische Verfolgung angesehen und auch dem afghanischen Staat zugerechnet werden, soweit dieser in der betroffenen Region nicht in der Lage ist, den Betroffenen gegen solche Übergriffe zu schützen.
77Vgl. OVG NRW , Beschlüsse vom 23. Mai 2013 - 13 A 1220/13.A - und vom 26. März 2013 - 13 A 332/13.A -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21. Februar 2013 - 5a K 3753/11.A -, Rn. 45 ff. m.w.N., zitiert nach juris.
78Daher ist dem Kläger, unabhängig von der Frage, inwieweit die Verweigerung einer Rekrutierung durch die Taliban als politische Überzeugung nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylVfG angesehen werden kann, der Flüchtlingsstatus nicht zuzuerkennen, da keine hinreichende, individuell drohende Gefahr einer Zwangsrekrutierung besteht. Denn dem Kläger kann der diesbezügliche Vortag nicht abgenommen werden. So konnte schon das Gericht nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass für den Kläger vor der Ausreise die Gefahr einer Zwangsrekrutierung bestand. Sowohl der Vortrag im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt als auch die Aussagen im Rahmen der informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung blieben äußerst vage und oberflächlich. Sie wiesen keinen Detailreichtum auf, den man auch unter Berücksichtigung des Bildungsstandes des Klägers erwarten kann, wenn man berücksichtigt, dass gerade das behauptete Verfolgungsschicksal ein einschneidendes und prägendes Erlebnis im Leben des Klägers sein muss. Der Vortrag des Klägers begnügt sich mit der Darstellung einer Rahmengeschichte, ohne dass Einzelheiten oder vermeintlich unwichtige Nebenaspekte - trotz intensiver Nachfragen durch das Gericht und der eigenen Prozessbevollmächtigten - erwähnt werden. Er habe fliehen müssen, da die Familie einen Drohbrief von den Taliban erhalten habe. Diese hätten ihn zwangsrekrutieren wollen. Er sollte sich für Selbstmordanschläge oder sexuelle Handlungen zwischen Männern bereit erklären. Da sein älterer Bruder vor über einem Jahr ebenfalls derartige Briefe erhalten habe und in der Folge verschwunden war, habe seine Mutter beschlossen, dass er fliehen müsse, damit ihm das gleiche Schicksal erspart bleibe. In dieser Darstellung reduzieren sich bereits die Ausführungen des Klägers. Nahezu allen Nachfragen des Gerichts konnte er nur ausweichend oder gar nicht antworten. Insbesondere konnte er keine - zumindest grobe - zeitliche Einordnung der Ereignisse geben. Vom Kläger als gläubigen Schiiten kann in diesem Zusammenhang erwartet werden, dass er angeben kann, ob die Flucht (und damit das Auffinden des Briefes) vor oder nach dem Zuckerfest 2010 stattgefunden hat. Ihm muss vor Augen gestanden haben, ob er dieses Hochfest noch in seiner gewohnten Umgebung in Kandahar oder bereits auf der Flucht begangen hat. Selbst innerhalb dieser äußerst ungenauen Darstellung finden sich zudem zahlreiche Widersprüche und Unklarheiten, die nicht entkräftet werden konnten. Gerade im direkten Abgleich mit den Aussagen seiner Mutter fallen erhebliche Widersprüche auf. So will die Mutter des Klägers den Brief alleine gefunden haben und bewusst diesen ihren Kindern nicht gezeigt haben, damit diese sich keine Sorgen machen müssen. Nach dem Gespräch mit dem Nachbarn will sie den Brief unmittelbar vernichtet haben, so dass für Dritte keine Gelegenheit mehr bestanden haben soll, den Brief zu sehen. Der Kläger gab hingegen zunächst an, seine Mutter habe ihm den Brief gezeigt, als sie von dem Nachbarn zurückgekehrt sei. Hierauf angesprochen blieb die Mutter bei ihrer Version, dass der Kläger den Brief nicht gesehen habe; allenfalls habe dieser den Brief gefaltet gesehen. Der Kläger will - mit dieser Aussage konfrontiert - den Brief heimlich gesehen haben, ohne dass seine Mutter dies mitbekommen haben soll. Insoweit passt dann jedoch nicht der übereinstimmende Vortrag der zeitnahen Vernichtung des Briefes. Unklar bleibt auch der Ablauf der Fluchtplanung. Zwar soll die Flucht seines Bruders und seiner Schwägerin bereits festgestanden haben, als der Brief eingetroffen sein soll. Nicht nachvollziehbar ist dann, dass innerhalb von wenigen Tagen ein Geschäft und ein Grundstück verkauft worden sein sollen, um den Schleuser zu bezahlen. Auch in Afghanistan ist davon auszugehen, dass nicht binnen Tages- oder Wochenfrist Immobilien oder sonstige Wertgegenstände zu Geld gemacht werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insgesamt die Flucht von vier Personen zu finanzieren gewesen war. Immerhin soll die Flucht insgesamt zwischen 30.000 und 40.000 US-Dollar gekostet haben. Dies führt zu der Überzeugung, dass der Kläger die geschilderten Ereignisse selbst nicht erlebt hat.
79Auch wegen seiner Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Schiiten hat der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung zu befürchten. Zwar war die schiitische Minderheit traditionell Diskriminierungen ausgesetzt, die auch heute teilweise noch anhalten. Inzwischen sind jedoch Vertreter der Schiiten an namhafter Stelle der Regierung repräsentiert. In Teilbereichen erlaubt die Verfassung die Anwendung schiitischen Rechts. Auch können Schiiten grundsätzlich ohne Einschränkungen am öffentlichen Leben teilnehmen.
80Vgl. VG Köln, Urteil vom 12. November 2013 - 14 K 3401/11.A -, Rn. 73 m.w.N., zitiert nach juris.
81Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Anknüpfung an seine schiitische Religionszugehörigkeit gezielte Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wie die Taliban drohen würde. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen Schiiten tadschikischer Volkszugehörigkeit. Auch gibt es keine Anzeichen für eine Verfolgungsdichte von gruppengerichteten Verfolgungshandlungen gegen Schiiten tadschikischer Volkszugehörigkeit, die den Schluss erlauben würden, dass für alle Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
82Vgl. VG Köln, Urteile vom 12. November 2013 - 14 K 3401/11.A -, Rn. 75 ff. m.w.N., und vom 6. Dezember 2011 - 14 K 6478/09.A -, Rn. 39 ff., zitiert jeweils nach juris.
83Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG. Bei dem unionsrechtlichen Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AsylVfG handelt es sich um einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand, der vorrangig vor den nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zu prüfen ist.
84Vgl. ausführlich BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43/07 - noch zu § 60 Abs. 2, 3, 7 Satz 2 AufenthG a.F.
85Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG ist ein Ausländer ein subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens muss von einem Verfolgungsakteur i.S.d. §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3c AsylVfG ausgehen. Weiter muss es an einem effektiven Schutz im Herkunftsstaat fehlen, §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3d, 3e AsylVfG und es dürfen keine Ausschlussgründe (§ 4 Abs. 2 AsylVfG) vorliegen.
86Die Schutzgewährung greift auch dann ein, wenn sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt nur auf ein Teil des Staatsgebietes erstreckt.
87Vgl. BVerwG, Urteile vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 12, zitiert nach juris; vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198.
88Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, ist bzgl. der anzustellenden Gefahrenprognose auf den Zielort der Abschiebung abzustellen. Dabei kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer seinem subjektiven Blickwinkel nach strebt. Vielmehr ist in der Regel auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Ein Abweichen von dieser Regel kann jedenfalls nicht damit begründet werden, dass dem Ausländer in der Herkunftsregion die Gefahren drohen, vor denen § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG ihm Schutz gewähren soll.
89Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 13, zitiert nach juris; Beschuss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 -; zur Frage der „tatsächlichen Zielregion“ OVG NRW, Beschluss vom 15. Oktober 2012 - 13 A 2010/12.A -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -.
90Allerdings ist dann nicht auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit der Absicht niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben.
91Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 14, zitiert nach juris.
92Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieses Begriffs im humanitären Völkerrecht auszulegen. Dabei sind insbesondere die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht vom 12. August 1949 und das Zusatzprotokoll II vom 08. Juni 1977 (ZP II) heranzuziehen. Danach liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt jedenfalls dann vor, wenn der Konflikt die Kriterien des Art. 1 Nr. 1 ZP II erfüllt. Er liegt hingegen nicht vor, wenn die Ausschlusstatbestände des Art. 1 Nr. 2 ZP II erfüllt sind, es sich also nur um innere Unruhen und Spannungen handelt wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten. Für zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegende Konflikte ist die Annahme eines bewaffneten Konflikts nicht von vornherein ausgeschlossen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen und eine bestimmte Größenordnung erreichen.
93So zum Ganzen BVerwG, Urteile vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O. und vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360.
94Nach der vorzitierten Entscheidung des BVerwG vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - findet die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr Zweck der Schutzgewährung von Zivilpersonen, die in ihrem Herkunftsstaat von willkürlicher Gewalt in bewaffneten Konflikten bedroht sind, entgegensteht. Mit Blick auf diesen Zweck setzt nach Auffassung des BVerwG das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts nicht zwingend voraus, dass die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreicht haben müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 und für den Einsatz des Internationalen Roten Kreuzes erforderlich ist (vgl. Art. 1 Abs. 1 ZP II). Vielmehr kann es bei einer Gesamtwürdigung der Umstände auch genügen, dass die Konfliktparteien in der Lage sind, anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchzuführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischerweise erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird. Entsprechendes dürfte auch für das Erfordernis gelten, dass die den staatlichen Streitkräften gegenüberstehende Konfliktpartei eine effektive Kontrolle über einen Teil des Staatsgebietes ausüben muss.
95Vgl. auch EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 - Rs. C - 285/12 -Diakite-, wonach der Begriff „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ gegenüber der Definition im humanitären Völkerrecht autonom zu verstehen ist.
96Danach bezieht sich der Ausdruck „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehr bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen.
97Bei der Ermittlung des erforderlichen Niveaus willkürlicher Gewalt in einem bestimmten Gebiet sind nicht nur solche Gewaltakte der Konfliktparteien zu berücksichtigen, die gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts verstoßen, sondern auch andere Gewaltakte der Konfliktparteien, durch die Leib oder Leben von Zivilpersonen wahllos und unbeachtet ihrer persönlichen Situation verletzt werden.
98Vgl. EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C - 465/07 -Elgafaji-, Rn. 43, zitiert nach juris; BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, a.a.O.
99Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Personen ausgeht, individuell so verdichten kann, dass sie die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG erfüllt.
100Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -.
101Nach der Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG kann eine solche individuelle Verdichtung ausnahmsweise dann angenommen werde, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dies ist der Fall, wenn praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Hierfür sind Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt bzw. zu der sogenannten Gefahrendichte erforderlich, d.h. eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Hierzu gehört auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann.
102Vgl. EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C - 465/07 - Elgafaji -, Rn. 35, zitiert nach juris; BVerwG, vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -.
103Eine weitere Verdichtung bzw. Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören solche persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen sei, sich nahe an der Gefahrenquelle aufzuhalten. Es können aber auch persönliche Umstände sein, aufgrund derer der Antragsteller als Zielperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt.
104Vgl. EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C - 465/07 -Elgafaji-, Rn. 39, zitiert nach juris.
105Ob die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllt sind, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden.
106Vgl. zu diesen Kriterien auch Bayerischer VGH, Urteil vom 3. Februar 2011 -13a B 10.30394 -, juris Rn. 20 ff.
107Gemessen an diesen Kriterien besteht für den Kläger bezogen auf seine Herkunftsregion in Afghanistan eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG.
108Die ausgewerteten Quellen berichten übereinstimmend, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan nach dem Sturz des Taliban‐Regimes 2001 und einer anfänglichen Stabilisierung in den Jahren 2001‐2005 seit 2006 stetig verschlechtert hat. Sie ist jedoch durch große regionale wie saisonale Unterschiede geprägt. Seit 2006 ist unter anderem aufgrund verstärkter militärischer Aktionen der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte eine stete Zunahme sicherheitsrelevanter Vorfälle zu beobachten, die ihren vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2011 erreichte.
109Vgl. Berichte des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Lagebericht) vom 09. Februar 2011, 10. Januar 2012 und 4. Juni 2013.
110Nach dem Jahr 2012, welches gemessen an den reinen Zahlen einen Rückgang von Anschlägen, Todesopfern und Verletzten aufwies, ist für 2013 festzustellen, dass sich die Gefährdungslage eher wieder derjenigen des Jahres 2011 annähert.
111Vgl. Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages von Januar 2014 (Fortschrittsbericht 2014); UN Security Council: Report of the Secretary-General of the protection of civilian in armed conflict - S 2013/689 - vom 22. November 2013; UNHCR: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (deutsche Fassung der UNHCR Guidelines 2013), S. 14 ff.
112Laut United Nations Mission in Afghanistan (UNAMA) ist die Anzahl der zivilen Opfer und Verwundeten im ersten Halbjahr 2013 um 14 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum angestiegen. Die Anzahl der Toten überstieg die Werte der ersten sechs Monate der Jahre 2010 und 2012; die Anzahl der Verletzten lag gar über denjenigen des Jahres 2011. Dieser Anstieg gehe vor allem auf die Aktivitäten regierungsfeindlicher Gruppen zurück. Für 74 Prozent der zivilen Opfer waren laut UNAMA regierungsfeindliche Elemente, für 9 Prozent regierungstreue Kräfte und für 12 Prozent Bodenkämpfe zwischen beiden Seiten verantwortlich. Die restlichen 4 Prozent konnten keiner Konfliktpartei zugeordnet werden. Die Hauptursachen für den Anstieg der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2013 waren die vermehrte willkürliche Verwendung von Spreng- und Brandvorrichtungen durch regierungsfeindliche Elemente sowie Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe an Orten, an denen sich Zivilisten aufhalten, darunter auch zivile Regierungsgebäude
113Vgl. UNAMA, Mid-Year Report 2013 protection of civilians in armed conflicts, von Juli 2013, S. 3.
114Die Anzahl der durch die ausländischen Truppen oder durch die afghanischen Sicherheitskräfte getöteten Personen habe gleichzeitig den niedrigsten Wert seit Beginn des ISAF-Einsatzes erreicht.
115Vgl. Fortschrittsbericht 2014, Seite 10.
116In den Bevölkerungszentren und entlang der bedeutsamen Verkehrsinfrastruktur bestehe eine „ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage“; in den südlichen und östlichen, ländlich geprägten Gebieten und Distrikten herrsche hingegen eine „überwiegend nicht“ oder sogar eine „nicht kontrollierbare Sicherheitslage“.
117Vgl. Fortschrittsbericht 2014, Seite 10.
118Für das gesamte Jahr 2013 dokumentierte UNAMA 2.959 Tote und 5.656 Verwundete. Die Zahlen der Todesopfer entsprechen in etwa den bisher höchsten Werten aus dem Jahr 2011; die Zahl der Verletzten stellen gar den bisherigen Höchstwert dar. Im Vergleich zu 2012 stieg die Anzahl der Toten um 7 % und die der Verletzten um 17 %.
119Vgl. UNAMA: Annual Report 2013 protection of civilians in armed conflicts, von Februar 2014, S. 9.
120Weiter berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)
121vgl. SFH, Afghanistan: Update „Die aktuelle Sicherheitslage“ vom 30. September 2013, S. 4 ff., 10,
122dass die Anschläge regierungsfeindlicher Gruppierungen 2012 bei sehr hoch bleibendem Gewaltlevel um 25 % zurückgegangen seien. Dies resultiere jedoch aus einem Strategiewechsel der regierungsfeindlichen Gruppen, die das Niveau ihrer Anschläge den verbleibenden internationalen Sicherheitskräften angepasst hätten und ihre Anstrengungen dafür in andere Bereiche (Schaffung parallelstaatlicher Einrichtungen) intensiviert hätten. 2013 habe es dann eine erneute Trendwende gegeben, wonach die Anzahl der Anschläge um 47 % angestiegen sei und leicht die Werte aus 2011 und 2009 erreichen könnte. Diese Gewaltakte würden weiterhin von vier Quellen ausgehen: von den regierungsfeindlich eingestellten, bewaffneten Gruppierungen wie Taliban, Hezb-e-Islami von Gulbuddin Hekamatyar, Haqqani-Netzwerk und anderen, von regionalen Kriegsherren und Kommandierenden der Milizen, von kriminellen Gruppierungen und von Reaktionen der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen regierungsfeindliche Gruppierungen (insbesondere Bombardierungen).
123Wie den genannten Auskünfte weiter zu entnehmen ist, halten sich die Konfliktparteien mit Ausnahme der internationalen Truppen nicht an die Regeln des humanitären Völkerrechts. Sie unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die unterschiedlichen Milizen sowie die Taliban suchen gerade nicht den Kampf mit den regulären Truppen. Vielmehr agieren sie z.B. mit Sprengstoffanschlägen gerade gegen die Zivilbevölkerung, um hier ihre Opfer zu finden. Zudem tarnen sie sich als Zivilisten und provozieren hierdurch Angriffe der Gegenseite, die als Folge auch Unschuldige treffen. Damit liegen unterschiedslose Angriffe vor. Die fehlende Zielgerichtetheit der Angriffe ergibt sich daraus, dass gerade Angriffe auf Zivilpersonen und humanitäre Organisationen ein allgemeines Klima der Angst hervorrufen sollen. Hierzu werden Attentate eingesetzt, die möglichst viele Opfer zur Folge haben sollen.
124Vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 1. Oktober 2013 - 5 A 95/13-, Rn. 37, zitiert nach juris.
125Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass die Gefährdungslage regional deutlich differenziert zu bewerten ist. So berichtet ACCORD,
126vgl. ACCORD, Themendossier zu Afghanistan: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan & Chronologie für Kabul vom 12. Dezember 2013,
127unter Berufung auf Berichte der UNO und ANSO, dass sich die meisten Vorfälle (70 % aller landesweit dokumentierten Vorfälle) in den Provinzen im Süden, Südosten und Osten des Landes ereigneten. Die größte Zahl sei in der Provinz Nangarhar verzeichnet worden.
128Der Kläger stammt nach seinen Angaben aus der Stadt Kandahar; sie ist die Provinzhauptstadt der im südlichen Teil von Afghanistan gelegenen Provinz Kandahar. Dort hat er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern gelebt und bis zu seiner Ausreise seinen wesentlichen Lebensmittelpunkt innegehabt. Die Provinz Kandahar hat eine Fläche von rund 54.022 qm2 und eine Einwohnerzahl von rund 1.175.800.
129Vgl. Daten vom Central Statistics Office Afghanistan, abrufbar unter: http://www.geohive.com/cntry/afghanistan.aspx?.
130Die Provinzhauptstadt hat nach Berechnung aus 2012 ca. 368.100 Bewohner und ist nach Kabul die zweitgrößte Stadt Afghanistans. Die Provinz Kandahar ist seit jeher eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban. Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 führen sie insbesondere dort einen blutigen Aufstand gegen die internationalen Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte.
131Das Gros der dokumentierten Vorfälle konzentrierte sich auch 2013 in den südlichen und südöstlichen Provinzen. Gerade in den Südprovinzen (Kandahar, Helmand, Nimroz, Zabul und Uruzgan) fanden fast 40% aller Vorfälle statt, dort waren mit Abstand die meisten Todesopfer und Verwundeten zu beklagen. Gerade die Provinzen Helmand und Kandahar standen landesweit an der Spitze.
132Vgl. UNAMA: Annual Report 2013, von Februar 2014, S. 17.
133Nach Nangarhar fanden 2013 in Kandahar mit 77 Vorfällen die zweitmeisten gezielten Tötungsaktionen der regierungsfeindlichen Truppen statt.
134Vgl. UNAMA: Annual Report 2013, von Februar 2014, S. 24.
135Im Süden seien 2012 die meisten zivilen Opfer zu beklagen (46 %). Zu den meist umkämpften Provinzen hätten 2012/2013 Kandahar, Nangarhar, Helmand, Khost, Kunar und Ghazni gezählt.
136Vgl. SFH, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage“ vom 30. September 2013, S. 10.
137Dies deckt sich auch mit den vorliegenden Zahlen aus den Quartalsberichten des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO).
138Vgl. ANSO, Quartalsberichte 4/2012 (Januar 2013) und 1/2013 (April 2013).
139Danach fanden allein 2.065 registrierte Vorfälle im Jahr 2012 in Kandahar statt - mithin fast 6 Vorfälle pro Tag. Damit steht Kandahar an der Spitze aller Provinzen, gefolgt von Nangarhar, Helmand und Khost. Nach Kunar fanden auch die meisten Vorfälle, die auf das Konto der regierungsfeindlichen Gruppierungen gingen, in Kandahar (1.097) statt, auch wenn diese Zahl im Vergleich zu 2011 um 15% rückläufig war. Im Jahr 2013 ist jedoch auch nach den Zahlen von ANSO festzustellen, dass eher wieder eine Gefährdungslage wie 2011 anzunehmen ist. Die Anzahl der Anschläge im ersten Quartal 2013 erhöhte sich um 17 %. Weiter steht Kandahar an der Spitze der Provinzen bzgl. der registrierten Selbstmordanschläge. Wegen der Häufigkeit der täglichen Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen stuft ANSO die Provinz Kandahar als „extremely insecure“ ein.
140Es liegt schließlich auch ein derart hoher Gefährdungsgrad vor, dass praktisch jede Zivilperson bei Rückkehr allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Region Kandahar einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.
141Für die Provinz Kandahar selbst sind konkrete Opferzahlen den Erkenntnisquellen zwar nicht zu entnehmen. Anhand der wenig belastbaren Datenlage kann die Kammer sich nur annäherungsweise der verlangten quantitativen Ermittlung der Gesamtzahl der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, nähern. Anhand der jüngsten vorliegenden Auskünfte der sachverständigen Quellen geht die Kammer auch davon ab, dass konkrete Opferzahlen für die Provinz oder deren Hauptstadt Kandahar nicht zu ermitteln sind, da ein solches Unterfangen bereits für zugänglichere Regionen keinen Erfolg hatte.
142Vgl. Dr. Danesch: Stellungnahme an VGH Kassel (8 A 119/12.A) vom 3. September 2013 zu Kabul.
143UNAMA hat für das Jahr 2013 festgestellt, dass fast 40% aller Opfer infolge von unkonventionellen Sprengkörpern aus den Südregion, zu der neben Kandahar auch die Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan und Zabul gerechnet werden, stammen.
144Vgl. UNAMA: Annual Report 2013, von Februar 2014, S. 17.
145Anhaltspunkte dafür, dass dieser Wert nicht auch auf die Gesamtzahl der gestorbenen oder verwundeten Personen in Afghanistan im Groben übertragbar ist, sind nicht ersichtlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Anschläge mit Sprengkörpern die häufigste Ursache aller Vorfälle waren (34 %). Von daher ist davon auszugehen, dass von den 2.959 Toten und 5.656 Verletzten ca. 40 % der Opfer aus den Südregionen stammten (1.183 Tote und 2.262 Verletzte). Aus den ANSO Berichten,
146vgl. ANSO, Quartalsberichte 4/2012 (Januar 2013) und 1/2013 (April 2013),
147kann geschlossen werden, dass im Jahr 2012 ca. 40 % aller Vorfälle in den Südregionen tatsächlich in Kandahar stattfanden; im ersten Quartal 2013 waren dies 32 % aller Vorfälle. Daher dürfte näherungsweise von ca. 425 Toten und 815 Verletzten in Kandahar im Jahr 2013 auszugehen sein. Bezogen auf die Zahl der Gesamtbevölkerung von Kandahar (1.175.800) liegt die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines willkürlichen Anschlags zu werden, bei einem Verhältnis von 1:950. Ein derartiges Verhältnis reicht nach der Rechtsprechung des BVerwG,
148vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011
149- 10 C 13/10 -,
150zwar allein nicht aus, um eine ausreichend hohe Gefahrendichte willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung zu dokumentieren. Bei der über die reine Berechnung hinaus anzustellenden wertenden Gesamtbetrachtung aller Gesichtspunkte der dortigen Sicherheitslage kommt die Kammer dennoch zu dem Ergebnis, dass der Konflikt in der Provinz Kandahar eine so hohe Gefahrendichte willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung erreicht, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region jederzeit mit einer nicht mehr zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.
151Vgl. ebenso für die Provinz Kandahar: Urteile der Kammer vom 20. März 2012 - 14 K 1083/11.A - (bestätigt durch OVG, Beschluss 28. März 2013 - 13 A 1117/12.A, wonach die Beklagte jedenfalls keine anderen belastbaren Zahlenwerte vorgelegt habe), und 13. Dezember 2011 - 14 K 4389/10.A -; VG Magdeburg, Urteil vom 1. Oktober 2013 - 5 A 95/13- jedoch unter Berücksichtigung eines besonderen persönlichen Merkmals des dortigen Kläger (Schiit; wehrfähiges Alter); VG Frankfurt, Urteil vom 16. April 2013 - 7 K 4308/12.F.A. unter Hinweis auf die UNHCR guidelines 2011; eine hinreichende Gefahrendichte ablehnend: Sächsisches OVG, Beschluss vom 26. November 2013 - A 1 A 535/12 -, Bayerischer VGH, Urteil vom 15. März 2012 - 13a B 11.30438 -,VG München, Urteil vom 4. April 2013 - M 12 K 12.30449 -.
152Ausgangspunkt bleibt die quantitativ hohe Anschlagsdichte (2.065 Vorfälle) und die hohe Anzahl der getöteten und verletzten Zivilisten (1.240 Personen). Im Rahmen einer qualitativen, wertenden Gesamtbetrachtung sind jedoch die Schwierigkeiten zu beachten, vorhandene Zahlen für Gesamtafghanistan (UNAMA) auf Provinzen - oder gar Distrikte innerhalb von Provinzen - allein anhand von mathematischen Rechenoperationen zu übertragen. Weiter ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer ein nicht zu vernachlässigender Punkt ist. Dabei dürfte durchaus ein Faktor von 1:3 nicht unrealistisch sein.
153Vgl. Dr. Danesch: Stellungnahme an VGH Kassel (8 A 119/12.A) vom 3. September 2013 unter Hinweis auf den Sprecher des „Bundesausschusses Friedensforschung“ in Berlin, Herr Lühr Henken, S. 11.
154Berücksichtigt man diese Dunkelziffer jedenfalls ihrem groben Ansatz nach, so kann eine Gefahrendichte von 1:330 angenommen werden. Auch die zeitliche Komponente wird durch die Kammer in ihrer Gesamtwürdigung insoweit beachtet, als dass gerade in Kandahar - jedenfalls seit 2006 - nunmehr im neunten Jahr in Folge erhebliche Anschlagszahlen mit entsprechenden Opfern festzustellen sind. Allein nach den Zahlen von ANSO,
155vgl. ANSO, Quartalsberichte 4/2011 (Januar 2012) und 4/2012 (Januar 2013),
156fanden seit 2010 insgesamt 3.549 Vorfälle statt (2010: 1.167; 2011: 1.285; 2012: 1.097), die auf regierungsfeindliche Truppen zurückgehen. Hinzuzurechnen sind die Vorfälle der sonstigen Akteure, die ebenfalls eine Gefährdung für die Zivilbevölkerung darstellen. Diese Werte bestätigen zum einen, dass der Konflikt in Kandahar kontinuierlich auf einem sehr hohen Niveau ausgetragen wird und enorme Auswirkungen auf die dort lebende Zivilbevölkerung hat. Rein rechnerisch besteht schon allein für diese drei Jahre, eine Gefahrendichte von nahezu 1%. Zuletzt wird in die Gefahrenprognose die in Kandahar bestehende, schwierige medizinische Versorgung für schwerstverletzte Opfer eingestellt. Erkenntnisse, dass diese in der Provinz Kandahar eine Qualität und Erreichbarkeit aufweist, die die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen reduzieren oder adäquat behandeln kann, liegen nicht vor. Vielmehr ist von der allgemein schwierigen (notfall-) medizinischen Versorgung in Afghanistan auszugehen.
157Der Kläger kann auch nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden. Der Verweis auf einen effektiven Schutz in einem anderen Teil des Herkunftslandes (§ 3e AsylVfG) setzt jedenfalls voraus, dass von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil niederlässt. Zur Frage, wann von ihm „vernünftigerweise erwartet werden kann“, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, wird vorausgesetzt, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet ist. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus.
158vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 19 f.; Beschluss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 -, Rn. 9, zitiert jeweils nach juris; Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -.
159Diese Voraussetzungen sind für den Kläger in anderen Landesteilen Afghanistans, insbesondere in dem wohl allein für einen internen Schutz in Frage kommenden Bereich der Hauptstadt Kabul nicht gegeben. Dabei sind die dortige katastrophale Versorgungslage, die angespannte Arbeitssituation, die Tatsache, dass der aus der Provinz Kandahar stammende Kläger keine Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten in Kabul hat und er dort nach seinen Angaben auf keine familiäre- oder stammesbezogene Verbindungen zugrückgreifen kann, zu berücksichtigen. Es mag sein, dass eine Person wie der Kläger in Kabul in der Lage ist, durch Gelegenheitsjob ein Überleben zu bewerkstelligen. Von der Schaffung eines Existenzminimums kann hingegen nicht ausgegangen werden, weil dieses wesentlich mehr voraussetzt als das blanke Überleben.
160Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
161Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11 und 711 der Zivilprozessordnung.
162Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.
Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 25. Feb. 2014 - 14 K 2890/12.A
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Verwaltungsgericht Köln Urteil, 25. Feb. 2014 - 14 K 2890/12.A zitiert oder wird zitiert von 7 Urteil(en).
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
Tenor
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 22. März 2012 verpflichtet, der Klägerin den Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, für das keine Gerichtsgebühren erhoben werden, trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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Tatbestand
2Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige, tadschikischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens. Sie reiste am 29. Januar 2011 auf dem Landweg über Iran, Türkei und Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 7. Februar 2011 die Anerkennung als Asylberechtigte.
3In ihrer Anhörung am 14. Februar 2011 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab die Klägerin an, sie stamme aus Kandahar. Sie haben keine Schule besucht, lediglich zu Hause ein paar Buchstaben gelernt. Seit ihrer Geburt habe sie in Kandahar gelebt. Ihr Mann sei durch eine Bombe der Taliban getötet worden. Einer ihrer Söhne sei in Afghanistan verschollen; zwei weitere Söhne seien mit ihr auf dem Weg nach Deutschland gewesen. Einer dieser Söhne sei auf der Flucht wohl verstorben; dies sei der Mann ihrer Schwiegertochter, die Klägerin im Verfahren 14 K 3634/12.A, gewesen. Der andere Sohn, Kläger im Verfahren 14 K 2890/12.A, heiße K. . Weiter habe sie noch drei Töchter, von denen zwei verheiratet seien und im Iran leben würden. Die älteste Tochter lebe in Afghanistan. Zu ihrem Verfolgungsschicksal befragt erklärte die Klägerin, sie habe Kandahar am 5. September 2010 mit ihren beiden Söhnen und der Schwiegertochter verlassen. Sie sei dann über den Iran und die Türkei nach Griechenland geflohen. Dort habe man sie fotografiert und Fingerabdrücke abgenommen. Mit ihrer Schwiegertochter zusammen sei sie dann mit einem Schiff nach Italien gereist und von dort mit einem Taxi nach Deutschland. Die Einreise sei am 29. Januar 2011 erfolgt. Sie sei ausgereist, weil die Familie Briefe für die Söhne bekommen habe. Insgesamt habe die Familie vier Briefe erhalten. Wegen ihres Sohnes K. habe die Familie einen Brief auf Paschtu erhalten, wonach ihr Sohn sich für Selbstmordanschläge bereithalten solle. Drei Schreiben hätten ihren Sohn S. betroffen, der ja dann auch seit einem Jahr und drei Monaten verschollen sei. Die Briefe seien von der Taliban gewesen. Zehn Tage, nachdem sie das letzte Schreiben bekommen habe, habe sie das Haus abgeschlossen und die Flucht begonnen. Eigene Schwierigkeiten habe sie in Afghanistan nicht gehabt; ihre erwachsenen Kinder seien in Gefahr gewesen. Dann habe es noch Probleme mit ihrer Schwiegertochter und ihrem Sohn gegeben. Der Vater der Schwiegertochter habe diese mit einem älteren Mann verheiraten wollen. Ihre Schwiegertochter habe jedoch ihren Sohn heiraten wollen.
4Mit Bescheid vom 22. März 2012 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Ziffer 1.) und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2.) sowie Abschiebungsverbote (Ziffer 3.) nicht vorliegen. Die Klägerin wurde zudem unter Androhung ihrer Abschiebung nach Afghanistan aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Im Falle der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens (Ziffer 4.). Der Bescheid wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin mittels Einschreibens am 30. März 2012 zugestellt. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, eine Asylanerkennung scheide bereits aus, weil die Klägerin über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Die Flüchtlingseigenschaft könne nicht zuerkannt werden, weil die Klägerin schon nach dem eigenen Vortrag nicht bedroht worden sei. Außerdem würden die Ausreisegründe keine Verfolgungshandlungen darstellen. Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote würden nicht bestehen. Insbesondere könne nicht von einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben aufgrund eines bewaffneten Konflikts ausgegangen werden. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor, da die Klägerin bei der Rückkehr bei Verwandten Unterkunft und Unterstützung finden könne.
5Die Klägerin hat am 12. April 2012 Klage erhoben.
6Zur Begründung verweist sie auf ihren Vortrag gegenüber der Beklagten im Rahmen der Anhörung und führt weiter aus, sie habe aus Afghanistan fliehen müssen, da sie einer landesweiten Gefährdung durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei. Die Klägerin unterliege als Frau in Afghanistan generell einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Schließlich liege in Kandahar auch ein innerstaatlicher Konflikt vor, der die Klägerin konkret individuell bedrohe. Zwischenzeitlich habe ihre in Afghanistan zurückgebliebene älteste Tochter bestätigt, dass ihr ältester Sohn von der Taliban zunächst entführt und dann getötet worden sei. Zudem leide sie an Krankheiten, die in Afghanistan nicht hinreichend behandelt werden könnten.
7Die Klägerin beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. März 2012 zu verpflichten,
9ihr den Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen,
10hilfsweise der Klägerin subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG zuzuerkennen,
11hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie nimmt zur Begründung im Wesentlichen Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
15Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2014 informatorisch zu ihren Fluchtgründen angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll verwiesen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2014 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht zum Termin erschienen ist, denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Die Beklagte ist form- und fristgerecht mit Empfangsbekenntnis geladen worden.
19Die zulässige Klage ist begründet, da die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß § 3 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) hat.
20Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 -Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)-, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Demnach wird zunächst eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 AsylVfG durch einen Verfolgungsakteur (§ 3c AsylVfG) vorausgesetzt, die eine Verfolgungsprognose zulässt. Gemäß 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG gelten als Verfolgung solche Handlungen, welche aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Insbesondere sind dabei Verletzungen der absoluten Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, zu berücksichtigen.
21Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 7. November 2013 - Rs. C - 199/12 bis 201/12 -X, Y und Z-, Rn. 51, und vom 5. September 2012 - Rs. C - 71/11 und C - 99/11 -Y und Z-, Rn. 53, zitiert jeweils nach juris.
22Nach Ziffer 2 kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Ziffer 1. Die nach Ziffer 2 zu berücksichtigende Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen dabei in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Ziffer 1 entspricht.
23Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Rn. 36, zitiert nach juris.
24Die Verfolgungshandlung muss weiter mit einem der Verfolgungsgründe des § 3b AsylVfG verknüpft sein, § 3a Abs. 3 AsylVfG, und es muss an einem effektiven Schutz im Herkunftsland fehlen (§§ 3d, e AsylVfG). Bzgl. der Verfolgungsgründe ist zu beachten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylVfG auch Nachfluchtgründe insoweit zu berücksichtigen sind. Weiter ist zu berücksichtigen, dass nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 4 AsylVfG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Abschließend dürfen keine Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylVfG vorliegen.
25Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 3a AsylVfG vorliegt, ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifizierungsrichtlinie in der Neufassung vom 13. Dezember 2011 Richtlinie 2011/95/EU -QRL-) ergänzend anzuwenden. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009 - 10 C 24.08 -, Rn. 14, m.w.N., zitiert nach juris.
27Gemessen an diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylVfG vor. Zwar kann sich die Klägerin nicht i.S.d. Art. 4 Abs. 4 QRL auf eine Vorverfolgung berufen, da selbst bei Wahrunterstellung ihres Vortrags keine flüchtlingsrelevante Verfolgung erkennbar ist. Im Kern trägt sie vor, dass sie geflohen sei, weil eine Gefahr für ihre Söhne und ihre Schwiegertochter bestanden habe. Ein Sohn sollte zwangsrekrutiert werden; der andere Sohn und ihre Schwiegertochter widersetzten sich einer Zwangsheirat durch den Vater der Schwiegertochter. Beide geschilderten Handlungsabläufe lassen jedoch keine Bedrohung der Klägerin erkennen, da sie selbst nicht Ziel der Taliban oder des Vaters war. Eine ggf. bestehende mittelbare Betroffenheit genügt insofern nicht.
28Bei der Klägerin muss jedoch - unabhängig von einer Vorverfolgung - davon ausgegangen, dass bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan die Gefährdung einer unmittelbaren geschlechtsspezifischen Bedrohung besteht.
29Dabei geht die Kammer unter Einbeziehung der aktuellen Erkenntnismittel,
30vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2013, S. 12 f.; Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von Januar 2014, S. 14 zur Rolle der Frauen in der Polizei, S. 27 ff. zur Geltung der Menschenrechte - insbesondere der Frauenrechte-; UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 54 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15 f.; Amnesty International, Amnesty Report 2013 Afghanistan, S. 3,
31zur Situation von Frauen in der afghanischen Gesellschaft davon aus, dass trotz der Stärkung der Rechte der Frauen in der afghanischen Verfassung und Gesetzgebung Frauen und Mädchen nach wie vor in der afghanischen Gesellschaft sowie von der Polizei und Justiz schwer benachteiligt werden. Seit dem Sturz der Taliban hat es zwar einige deutliche Verbesserungen gegeben, wie etwa einen verbesserten Zugang zur Bildung, Arbeit und medizinischen Versorgung. Gleichwohl ist die Diskriminierung der Frauen in der afghanischen Gesellschaft weit verbreitet. Frauen werden Opfer von Zwangsverheiratung, Vergewaltigung, Entführung, Ehrenmorden und häuslicher Gewalt. Die registrierten Fälle von Gewalttaten gegen Frauen sind gerade seit 2012 stark angestiegen, ebenso die Zahl der Mädchen und Frauen, die wegen sogenannter „moralischer“ Verbrechen festgehalten werden. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2013 wurden offiziell 4.154 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Da diese im Schwerpunkt im familiären Umfeld stattfinden, ist von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Taten den offiziellen Stellen bekannt werden. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Auch das 2009 verabschiedete Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen hat sich bislang noch nicht landesweit durchgesetzt. Dies zeigt die Tatsache, dass dessen landesweite Umsetzung eines der beiden im Tokio-Prozess mit Afghanistan vereinbarten konkreten Ziele im Menschenrechtsbereich ist. Nach islamischem Recht ist eine Frau allein nicht existent, sondern untersteht entweder der Autorität ihres Ehemannes, ihres Bruders oder ihres Vaters bzw. dessen Familie. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes bisher undenkbar.
32Vgl. auch Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen, Urteil vom 18. Juli 2013 - 5a K 4418/11.A, Rn, 39 ff. m.w.N.; VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 19 ff., zitiert jeweils nach juris.
33Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass jede Frau im Falle einer Rückkehr einer derartigen Verfolgung ausgesetzt wäre. Vielmehr ist im konkreten Einzelfall die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Kammer und anderer Gerichte,
34vgl. Urteile der Kammer vom 8. Oktober 2013 - 14 K 6985/11.A -, Rn. 61, vom 27. Februar 2013 - 14 K 2177/11.A, Rn. 35, und vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 21. Januar 2014 - 9 LA 60/13 -, Rn. 5, jeweils zitiert nach juris,
35sind vor allem alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) einer derartigen Gefährdungslage ausgesetzt.
36Zu dieser Gruppe gehört die Klägerin. Sie ist 55 Jahre alt, verwitwet und hat keine männlichen Verwandten mehr in Afghanistan. Im vorliegenden Fall ist insoweit bereits zu berücksichtigen, dass die Klägerin aus Kandahar stammt. Die Provinz Kandahar ist seit jeher eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban. Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 führen sie insbesondere dort einen blutigen Aufstand gegen die internationalen Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte und haben dort einen enormen gesellschaftlichen Einfluss. Gerade in diesen Gebieten finden die in der Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zumindest formal begründeten Frauenrechte keine Anwendung.
37Vgl. UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 57, 63; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 16.
38Die Klägerin hat im Rahmen der Anhörung in der mündlichen Verhandlung überzeugend angegeben, dass sie keine männlichen Verwandten mehr in Afghanistan hat, die sie bei einer Rückkehr beschützen könnten. Dass ihr Ehemann bei einem Bombenanschlag auf einer Hochzeit getötet und ihr ältester Sohn von den Taliban verschleppt wurde, gab die Klägerin sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung an. Diese Angaben wurden unabhängig davon von ihrem Sohn K. und ihrer Schwiegertochter bestätigt, ohne dass die Kammer Anlass hat, an diesen Aussagen zu zweifeln. Dabei fällt vor allem auf, dass die Klägerin während ihrer Zeit in Deutschland ihre Erkenntnisse über den Verbleib ihres ältesten Sohnes aktualisierte, sobald sie neue Informationen erhalten hatte. So gab sie beim Bundesamt noch an, dieser sei verschollen und vermutlich von den Taliban verschleppt worden. Erst durch einen Brief ihrer in Afghanistan verbliebenen Tochter erfuhr sie vom Tod des Sohnes. Weitere männliche Angehörige sind nicht ersichtlich. Im Rahmen einer möglichst realitätsnahen Beurteilung ihrer Rückkehrsituation,
39vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 – 9 C 12.99 -, Rn. 10, zitiert nach juris.
40kann auch nicht unterstellt werden, dass die Klägerin gemeinsam mit ihrem Sohn, dem Kläger im Verfahren 14 K 2890/12.A, nach Afghanistan zurückkehrt und dieser dann als alleiniges männliches Familienoberhaupt seine Mutter vor Zugriffen beschützen kann. Zum einen wurde diesem im Parallelverfahren - zwar nicht rechtskräftig - subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG zugesprochen. Zum anderen unterscheidet sich die vorliegende Situation von den bisher in der Rechtsprechung entschiedenen Konstellationen, in denen bei der Rückkehrprognose für eine Frau oder für ein minderjähriges Kind zu berücksichtigen war, dass diese wegen des Familienverbundes nicht ohne den insoweit schutzfähigen Ehemann bzw. Vater in das Heimatland zurückkehren werden.
41Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. August 1993 - 9 C 7.93 -, vom 8. September 1992 - 9 C 8.91 -, und vom 6. März 1990 - 9 C 14.89 -, zitiert jeweils nach juris.
42Die in § 3d AsylVfG genannten Institutionen, namentlich der afghanische Staat sind nicht in der Lage oder willens, der Klägerin Schutz vor der ihr drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bieten. Denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlaubt es Frauen insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage – oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt –, Frauenrechte zu schützen. Sexual- oder Gewaltverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau eingesperrt, als ihr Ansehen beschädigt sehen will.
43Vgl. Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -.
44Für die Klägerin kommt die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht in Betracht. Der Verweis auf einen effektiven Schutz in einem anderen Teil des Herkunftslandes (§ 3e AsylVfG) setzt jedenfalls voraus, dass von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil niederlässt. Zur Frage, wann von ihm „vernünftigerweise erwartet werden kann“, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, wird vorausgesetzt, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet ist. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 19 f.; Beschluss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 -, Rn. 9, zitiert jeweils nach juris; Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -.
46Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine alleinstehende Frau in Afghanistan so gut wie keine Möglichkeit hat, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies gilt erst recht für die 55jährige Klägerin, die selbst keine schulische Ausbildung hat und vor ihrer Ausreise auch keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen ist. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass für eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von eventuell noch existierenden Verwandten bekäme, jedenfalls nicht das Existenzminimum gewährleistet ist.
47Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
48Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11 und 711 der Zivilprozessordnung.
49Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.
Tenor
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 22. März 2012 verpflichtet, der Klägerin den Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, für das keine Gerichtsgebühren erhoben werden, trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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Tatbestand
2Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige, tadschikischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens. Sie reiste am 29. Januar 2011 auf dem Landweg über den Iran, die Türkei und Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 7. Februar 2011 die Anerkennung als Asylberechtigte.
3In ihrer Anhörung am 14. Februar 2011 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab die Klägerin an, sie stamme aus Kandahar. Sie habe dort mit ihrer Mutter und der Familie ihrer Schwiegermutter unter der gleichen Adresse gewohnt. Ihr Vater habe noch eine weitere Frau gehabt und sei einmal die Woche oder auch nur alle zwei Wochen zu ihnen nach Hause gekommen. Ihr Ehemann heiße T. . Wo ihr Mann sei, wisse sie nicht. In Afghanistan würden noch insgesamt drei Schwestern, von denen zwei verheiratet seien, zwei Brüder und ihre Mutter leben. Sie habe keine Schule besucht und ihrer Mutter als Schneiderin geholfen. Kandahar habe sie mit ihrem Mann, ihrer Schwiegermutter (Klägerin im Verfahren 14 K 2512/12.A) und ihrem Schwager (Kläger im Verfahren 14 K 2890/12.A) verlassen. In Griechenland sei die Gruppe getrennt worden. Die Frauen seien vorgereist und lediglich ihr Schwager sei nachgekommen. Nach ihrem Verfolgungsschicksal befragt erklärte die Klägerin, ihr Leben und das ihres Mannes seien in Gefahr gewesen. Ihr Vater habe gewollt, dass sie einen älteren Mann heirate. Sie habe allerdings ihren Cousin geliebt und dann auch heimlich geheiratet. Später habe dann ihre Schwiegermutter erfahren, dass auch ihr Schwager in Gefahr sei. Deswegen seien alle vier ausgereist. Ihr Schwager sei in Gefahr gewesen, weil er einen Brief bekommen habe. In dem Brief habe gestanden, dass sich ihr Schwager für Selbstmordattentate zur Verfügung stellen solle. Ihr Vater habe ihr mit dem Tod gedroht, wenn sie nicht den älteren Mann heirate. Er habe auch ihre beiden Schwestern zwangsverheiratet und sie selbst zwei-, dreimal geschlagen. Ihre Mutter habe jedoch zu ihr gestanden. Zur Polizei habe sie nicht gehen können, da sie das Haus nicht habe verlassen dürfen.
4Mit Bescheid vom 22. März 2012 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Ziffer 1.) und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2.) sowie Abschiebungsverbote (Ziffer 3.) nicht vorliegen. Die Klägerin wurde zudem unter Androhung ihrer Abschiebung nach Afghanistan aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Im Falle der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens (Ziffer 4.). Der Bescheid wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin mittels Einschreibens am 29. März 2012 zugestellt. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, eine Asylanerkennung scheide bereits aus, weil die Klägerin über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Die Flüchtlingseigenschaft könne nicht zuerkannt werden, weil ihr Sachvortrag äußerst vage und unsubstantiiert sei. Ihr Sachvortrag erwecke nicht den Eindruck, dass sie das von ihr Geschilderte auch tatsächlich erlebt habe. Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote würden nicht bestehen. Insbesondere könne nicht von einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben aufgrund eines bewaffneten Konflikts ausgegangen werden. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor, da die Klägerin bei der Rückkehr bei Verwandten Unterkunft und Unterstützung finden könne.
5Die Klägerin hat am 12. April 2012 Klage erhoben.
6Zur Begründung verweist die Klägerin auf ihren Vortrag gegenüber der Beklagten im Rahmen der Anhörung und führt weiter aus, sie unterliege als Frau in Afghanistan generell einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Die Klägerin habe sich vor ihrem 15. Geburtstag mit ihrem Cousin verlobt. Beide Mütter seien anwesend gewesen und hätten die Verlobung ihrer Kinder vereinbart. Von dieser Verlobung habe auch der Vater der Klägerin erfahren und einen Monat später erklärt, dass er damit nicht einverstanden sei. Er drohte, er werde die Klägerin und ihren Verlobten töten, wenn sie heiraten sollten. Der Vater habe verlangt, dass sie einen seiner Freunde heirate. Die Klägerin habe diesen Mann weder gesehen noch kenne sie seinen Namen. Trotz der Drohung des Vaters habe die Klägerin ihren Verlobten heiraten wollen. Als der Vater wieder einmal nach Herat gereist sei, hätten die beide geheiratet. Gleichzeitig hätten sie ihre Ausreise vorbereitet, um der Drohung des Vaters zu entkommen. Während ihrer Flucht habe sie in Griechenland erfahren, dass ihr Vater sie weiter bedrohe und die Mutter geschlagen habe. Schließlich liege in Kandahar auch ein innerstaatlicher Konflikt vor, der die Klägerin konkret individuell bedrohe.
7Die Klägerin beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. März 2012 zu verpflichten,
9ihr den Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen,
10hilfsweise der Klägerin subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG zuzuerkennen,
11hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie nimmt zur Begründung im Wesentlichen Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
15Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2014 informatorisch zu ihren Fluchtgründen angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll verwiesen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2014 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht zum Termin erschienen ist, denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Die Beklagte ist form- und fristgerecht mit Empfangsbekenntnis geladen worden.
19Die zulässige Klage ist begründet, da die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß § 3 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) hat.
20Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 -Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)-, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Demnach wird zunächst eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 AsylVfG durch einen Verfolgungsakteur (§ 3c AsylVfG) vorausgesetzt, die eine Verfolgungsprognose zulässt. Gemäß 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG gelten als Verfolgung solche Handlungen, welche aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Insbesondere sind dabei Verletzungen der absoluten Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, zu berücksichtigen.
21Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 7. November 2013 - Rs. C - 199/12 bis 201/12 -X, Y und Z-, Rn. 51, und vom 5. September 2012 - Rs. C - 71/11 und C - 99/11 -Y und Z-, Rn. 53, zitiert jeweils nach juris.
22Nach Ziffer 2 kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Ziffer 1. Die nach Ziffer 2 zu berücksichtigende Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen dabei in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Ziffer 1 entspricht.
23Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Rn. 36, zitiert nach juris.
24Die Verfolgungshandlung muss weiter mit einem der Verfolgungsgründe des § 3b AsylVfG verknüpft sein, § 3a Abs. 3 AsylVfG, und es muss an einem effektiven Schutz im Herkunftsland fehlen (§§ 3d, e AsylVfG). Bzgl. der Verfolgungsgründe ist zu beachten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylVfG auch Nachfluchtgründe insoweit zu berücksichtigen sind. Weiter ist zu berücksichtigen, dass nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 4 AsylVfG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Abschließend dürfen keine Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylVfG vorliegen.
25Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 3a AsylVfG vorliegt, ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifizierungsrichtlinie in der Neufassung vom 13. Dezember 2011 Richtlinie 2011/95/EU -QRL-) ergänzend anzuwenden. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Vorschrift privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 QRL, der sich mit der Voraussetzung, dass der Antragsteller „tatsächlich Gefahr läuft“, an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zur tatsächlichen Gefahr („real risk“) orientiert,
26vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330,
27und somit der Sache nach den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit übernimmt.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Rn. 19, 32, zitiert nach juris.
29Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
30Vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 32 m.w.N., zitiert nach juris.
31Zur Privilegierung des Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten normiert Art. 4 Abs. 4 QRL eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftendenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, Rn. 20 ff. m.w.N., zitiert nach juris.
33Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009 - 10 C 24.08 -, Rn. 14, m.w.N., zitiert nach juris.
35Aus den in Art. 4 QRL geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Flucht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er ist daran festzuhalten, dass er dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern hat, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden,
36Vgl. zu Art. 16a GG: BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1989 -9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349, vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (39), und vom 3. August 1990 - 9 B 45.90 -, InfAuslR 1990, 344.
37Gemessen an diesen Kriterien kann nicht von einer Vorverfolgung der Klägerin ausgegangen werden. So konnte das Gericht nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass die Klägerin vor der Ausreise aus Afghanistan Verfolgungsmaßnahmen i.S.v. § 3a AsylVfG (drohende Zwangsheirat) erlitten hat oder von solchen Verfolgungsmaßnahmen unmittelbar bedroht gewesen ist. Sowohl der Vortrag im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt als auch die Aussagen im Rahmen der informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung blieben äußerst vage und oberflächlich. Sie wiesen keinen Detailreichtum auf, den man auch unter Berücksichtigung des Bildungsstandes der Klägerin erwarten kann, wenn man berücksichtigt, dass gerade das behauptete Verfolgungsschicksal ein einschneidendes und prägendes Erlebnis im Leben der Klägerin sein muss. Der Vortrag reduziert sich im Kern auf die Aussage, dass die Klägerin ihren Cousin liebte und diesen heiraten wollte. Ihr Vater sei gegen die Hochzeit gewesen, da er die Klägerin mit einem alten, vermögenden Mann verheiraten wollte. Dennoch habe die Klägerin ihren Cousin geheiratet und fliehen müssen, da ihr Vater sie bedrohen würde. Der Vortrag begnügt sich insoweit mit der Darstellung einer Rahmengeschichte, ohne dass Einzelheiten oder vermeintlich unwichtige Nebenaspekte - trotz intensiver Nachfragen durch das Gericht und der eigenen Prozessbevollmächtigten - erwähnt werden. Obwohl die Verlobungszeit nahezu ein Jahr gedauert haben soll, hat die Klägerin keine näheren Gegebenheiten berichtet, die im Laufe dieser Zeit sicherlich in der Familie stattgefunden haben. Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Vater oder zwischen den Eltern werden allenfalls angedeutet, ohne dass sie eine Detailschärfe aufweisen, die auf Selbsterlebtes schließen lassen. Dies gilt vor allem in Bezug auf die behauptete Todesdrohung, welche die Klägerin lediglich beim Bundesamt angegeben hatte. In der mündlichen Verhandlung tätigte sie eine derartige Aussage nicht, obwohl davon auszugehen ist, dass dies das einschneidende Ereignis in der Beziehung zu ihrem Vater gewesen sein dürfte. Auch der behauptete Schulterschluss der Mutter mit der Tochter wird nicht präzisiert. Selbst innerhalb dieser äußerst ungenauen Darstellung finden sich zudem Widersprüche und Unklarheiten, die nicht entkräftet werden konnten. Dies führt zu der Überzeugung, dass die Klägerin die geschilderten Ereignisse selbst nicht erlebt hat. Nicht nachvollziehbar sind die Schilderungen, dass der Vater zwar ein Jahr von der geplanten Hochzeit gewusst haben soll, aber lediglich einen Hausarrest gegenüber der Klägerin erlassen haben soll, den er selbst - aufgrund seiner häufigen Abwesenheit - gar nicht überwachen konnte. Dass er sich insoweit nicht auf seine Frau verlassen konnte, dürfte er spätestens mitbekommen haben, als diese ihm die Verlobung bestätigte, obwohl er bereits gegen diese gewesen war. Weiter bleibt unklar, warum die Klägerin mit ihrem Cousin nur mittels eines Nachbarmädchens als Botin kommunizieren konnte, wenn doch gleichzeitig die beiden Mütter mit der Hochzeit einverstanden gewesen sein sollen. Bei der unterstellten Bedrohungslage des Vaters erscheint es weiter nicht glaubhaft, dass die Hochzeit erst ein Jahr nach der Verlobung stattgefunden haben soll, obwohl diese nur im kleinen Kreise - ohne größeren Organisationsaufwand - stattgefunden hat. Allein die Planungen für die anschließende Flucht können für diese Zeitspanne nicht ausschlaggebend gewesen sein. Dies zeigt z.B. die schnelle Umsetzung der Fluchtpläne der Schwiegermutter und des anderen Cousins der Klägerin, die sich binnen weniger Tage zum Verlassen des Landes bereitgefunden haben sollen. Schließlich bestehen erheblich Zweifel an der Schilderung, dass sich in Kandahar ein Mullah - in Kenntnis des Widerspruchs des Vaters - bereit erklärt, eine Hochzeitszeremonie durchzuführen, allein weil die Braut und die jeweiligen Mütter einverstanden sind. Dies widerspricht der bestehenden Erkenntnislage, welche auch die Klägerin selbst in der Anhörung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, dass jedenfalls in den weiterhin von Taliban dominierten Provinzen, Frauenrechte keine Geltung haben und allein das Wort des männlichen Familienoberhauptes zählt.
38Bei der Klägerin kann jedoch - unabhängig von einer Vorverfolgung - davon ausgegangen werden, dass bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan die Gefährdung einer unmittelbaren geschlechtsspezifischen Bedrohung besteht.
39Dabei geht die Kammer unter Einbeziehung der aktuellen Erkenntnismittel,
40vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2013, S. 12 f.; Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von Januar 2014, S. 14 zur Rolle der Frauen in der Polizei, S. 27 ff. zur Geltung der Menschenrechte - insbesondere der Frauenrechte-; UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 54 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15 f.; Amnesty International, Amnesty Report 2013 Afghanistan, S. 3,
41zur Situation von Frauen in der afghanischen Gesellschaft davon aus, dass trotz der Stärkung der Rechte der Frauen in der afghanischen Verfassung und Gesetzgebung Frauen und Mädchen nach wie vor in der afghanischen Gesellschaft sowie von der Polizei und Justiz schwer benachteiligt werden. Seit dem Sturz der Taliban hat es zwar einige deutliche Verbesserungen gegeben, wie etwa einen verbesserten Zugang zur Bildung, Arbeit und medizinischen Versorgung. Gleichwohl ist die Diskriminierung der Frauen in der afghanischen Gesellschaft weit verbreitet. Frauen werden Opfer von Zwangsverheiratung, Vergewaltigung, Entführung, Ehrenmorden und häuslicher Gewalt. Die registrierten Fälle von Gewalttaten gegen Frauen sind gerade seit 2012 stark angestiegen, ebenso die Zahl der Mädchen und Frauen, die wegen sogenannter „moralischer“ Verbrechen festgehalten werden. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2013 wurden offiziell 4.154 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Da diese im Schwerpunkt im familiären Umfeld stattfinden, ist von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Taten den offiziellen Stellen bekannt werden. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Auch das 2009 verabschiedete Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen hat sich bislang noch nicht landesweit durchgesetzt. Dies zeigt die Tatsache, dass dessen landesweite Umsetzung eines der beiden im Tokio-Prozess mit Afghanistan vereinbarten konkreten Ziele im Menschenrechtsbereich ist. Nach islamischem Recht ist eine Frau allein nicht existent, sondern untersteht entweder der Autorität ihres Ehemannes, ihres Bruders oder ihres Vaters bzw. dessen Familie. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes bisher undenkbar.
42Vgl. auch Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen, Urteil vom 18. Juli 2013 - 5a K 4418/11.A, Rn, 39 ff. m.w.N.; VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 19 ff., zitiert jeweils nach juris.
43Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass jede Frau im Falle einer Rückkehr einer derartigen Verfolgung ausgesetzt wäre. Vielmehr ist im konkreten Einzelfall die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Kammer und anderer Gerichte,
44vgl. Urteile der Kammer vom 8. Oktober 2013 - 14 K 6985/11.A -, Rn. 61, vom 27. Februar 2013 - 14 K 2177/11.A, Rn. 35, und vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 21. Januar 2014 - 9 LA 60/13 -, Rn. 5, jeweils zitiert nach juris,
45sind vor allem alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) einer derartigen Gefährdungslage ausgesetzt. Weiter fallen hierunter auch Frauen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird, die von Zwangsheirat betroffen sind sowie geschiedene und unverheiratete, jedoch nicht jungfräuliche Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde.
46Vgl. Niedersächsisches OVG, a.a.O., Rn. 5 m.w.N., zitiert nach juris.
47Zu dieser Gruppe gehört die Klägerin. Sie ist 19 Jahre alt und verwitwet. Sie könnte zwar bei ihrer Rückkehr grundsätzlich in den Familienverband zurückkehren, in dem neben ihrem Vater weitere zwei Brüder vorhanden sind, die die entsprechende Schutzfunktion darstellen könnten. Dabei geht die Kammer davon aus, dass der Vater kein Bedrohungspotential für die Klägerin darstellt, da insoweit ihrem Vorbringen wie gezeigt nicht gefolgt werden kann. Die Kammer hat im vorliegenden Fall jedoch zu berücksichtigen, dass die Klägerin mittlerweile einen westlichen Lebensstil angenommen hat und eine im Vergleich zu anderen Frauen in Afghanistan überdurchschnittlichen Bildungsstand erreicht hat, indem sie einen Realschulabschluss macht. So hat die Kammer in der mündlichen Verhandlung weiter den Eindruck gewinnen können, dass sie im Vergleich zu vielen anderen Flüchtlingen aus Afghanistan in den drei Jahren seit ihrer Einreise gute Deutschkenntnisse erworben hat. Zudem trägt sie keine traditionelle Kleidung, sondern tritt wie eine westlich orientierte selbstbewusste Frau auf. Auf Nachfrage gab sie an, dass sie kein Kopftuch mehr tragen wolle und erst in Deutschland erkannt habe, was es bedeutet, als Frau gleichberechtigt zu leben. Hierzu passen auch die geäußerten Berufswünsche (Arzthelferin oder Stewardess).
48Vgl. VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 18 ff.; VG Stuttgart, Urteile vom 25. Juni 2013 - A 6 K 2412/12 -, Rn. 23 ff., und vom 15. Juni 2010 - A 6 K 3896/08 -, Rn. 22 ff., VG Augsburg, Urteil vom 1. Dezember 2011 - Au 6 K 11.30308 -, Rn. 26 ff., zitiert jeweils nach juris.
49Dabei hat die Kammer im vorliegenden Fall berücksichtigt, dass die Klägerin aus Kandahar stammt und ihr Familienverband weiterhin dort lebt. Die Provinz Kandahar ist seit jeher eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban. Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 führen sie insbesondere dort einen blutigen Aufstand gegen die internationalen Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte und haben dort einen enormen gesellschaftlichen Einfluss. Gerade in diesen Gebieten finden die in der Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zumindest formal begründeten Frauenrechte keine Anwendung.
50Vgl. UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 57, 63; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 16.
51Die Klägerin lebt mittlerweile seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, ohne sich den in Kandahar geltenden gesellschaftlichen Zwängen unterordnen zu müssen. Dies bedeutet, dass sie sich eines Schutzes durch den Familienverband und dessen männlichen Mitglieder nur sicher sein kann, wenn sie ihren westlichen Lebensstil aufgibt und sich den gesellschaftlichen Zwängen für Frauen in Kandahar beugt. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es Frauen zumutbar ist, ihr Verhalten an die gesellschaftlichen Verhältnisse des Herkunftsstaates anzupassen. Das setzt jedoch voraus, dass die Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse erstens tatsächlich möglich und geeignet ist, eine potentiell bestehende, geschlechtsspezifische Verfolgungssituation wesentlich zu minimieren. Zweitens ist es aber gleichfalls notwendig, dass tatsächlich eine Zumutbarkeit dieser Anpassung bzw. Unterordnung gegeben sein muss. Dabei kommt der Frage, ob die betroffene Frau dadurch in dem Herkunftsstaat in ihrer Menschenwürde verletzt werden würde, entscheidende Bedeutung zu. Denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
52Vgl. VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 21, zitiert nach juris.
53Hieran gemessen kann von der Klägerin nicht verlangt werden, sich von ihrem mittlerweile frei gewählten Lebensstil zu lösen, allein um einer geschlechtsspezifischen Verfolgung in Afghanistan zu entgehen. Sie hat sich derart deutlich emanzipiert, dass es unzumutbar ist, dieses Verhalten aufzugeben, um unter den Schutz des Familienverbundes in der traditionell, konservativ geprägten Gesellschaft Kandahars zu gelangen. Diese Emanzipation wird dadurch untermauert, dass sie sich bspw. deutlich vom Lebensstil ihrer weiterhin traditionell auftretenden Schwiegermutter unterscheidet und eher dem Auftritt ihres Cousins ähnelt.
54Die in § 3d AsylVfG genannten Institutionen, namentlich der afghanische Staat sind nicht in der Lage oder willens, der Klägerin Schutz vor der ihr drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bieten. Denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlaubt es Frauen insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage – oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt –, Frauenrechte zu schützen. Sexual- oder Gewaltverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau eingesperrt, als ihr Ansehen beschädigt sehen will.
55Vgl. Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -.
56Von daher besteht für die Klägerin auch nicht die Option, ihren Lebensstil nur in Bezug auf die Außenwahrnehmung einzuschränken und innerhalb ihrer Familie ihren jetzigen Weg weiterzugehen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass dies von ihrem Vater und ihren Brüder toleriert oder gar akzeptiert wird.
57Für die Klägerin kommt die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht in Betracht, auch wenn davon ausgegangen wird, dass ein westlicher Lebensstil zumindest in der Hauptstadt Kabul - auch für Frauen - möglich ist. Der Verweis auf einen effektiven Schutz in einem anderen Teil des Herkunftslandes (§ 3e AsylVfG) setzt voraus, dass von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil niederlässt. Zur Frage, wann von ihm „vernünftigerweise erwartet werden kann“, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, wird vorausgesetzt, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet ist. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus.
58Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 19 f.; Beschluss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 -, Rn. 9, zitiert jeweils nach juris; Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -.
59Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine alleinstehende Frau in Afghanistan so gut wie keine Möglichkeit hat, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies gilt auch für die dann alleinstehende 19jährige Klägerin. Sie könnte zwar auf eine überdurchschnittliche Bildung zurückgreifen; jedoch wird sie ohne familiäre Unterstützung dennoch keine Arbeit finden. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass für eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von Verwandten bekäme, jedenfalls nicht das Existenzminimum gewährleistet ist.
60Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
61Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11 und 711 der Zivilprozessordnung.
62Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.
(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.
(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.
(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. Januar 2008 - A 11 K 521/06 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gesamten - gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Tatbestand
- 1
Der Kläger, afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit aus der Provinz Kandahar, begehrt die Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Feststellung von Abschiebungshindernissen.
- 2
Der Kläger reiste nach eigenen Angaben auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragte am 11.10.2012 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei seiner persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für (Bundesamt) am 18.02.2013 führte er zur Begründung seines Antrags im Wesentlichen aus, er habe sein Heimatland gemeinsam mit seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Nichte verlassen, da er von den Taliban erpresst worden sei. In Afghanistan habe er eine Konditorei betrieben. Eines Tages habe er einen Erpresserbrief von den Taliban erhalten, in dem er zur Zahlung von 100.000 US-Dollar aufgefordert worden sei. Da bereits sein Vater mehrfach derartige Briefe erhalten habe, mithin ebenfalls erpresst worden sei, und schließlich spurlos verschwunden sei, habe er keine andere Möglichkeit gesehen, als sich in Sicherheit zu bringen und das Land zu verlassen.
- 3
Mit Bescheid vom 21.02.2013 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2 bis 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Kläger habe keine politische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure glaubhaft gemacht. Im Übrigen seien seine Ausführungen unsubstantiiert und nicht nachvollziehbar. Insbesondere sei nicht einsichtig, weshalb sich die Taliban mit einer derart hohen Summe gerade an den Kläger – als Inhaber einer Konditorei – gewandt hätten, während sein wohlhabender Onkel unbehelligt geblieben sei.
- 4
Am 25.02.2013 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung ließ er im Wesentlichen vortragen, die Ablehnung der (finanziellen) Unterstützung der Taliban stelle eine politische Überzeugung dar. Zudem sei er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe von staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung bedroht.
- 5
Der Kläger beantragt,
- 6
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 21.02.2013 zu verpflichten, dem Kläger unter Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
- 7
hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2013 zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG festzustellen,
- 8
weiter hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2013 zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
- 9
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
- 10
die Klage abzuweisen.
- 11
Sie tritt der Klage unter Bezugnahme auf die Begründung des Bescheides des Bundesamtes vom 21.02.2013 entgegen.
- 12
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
- 13
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
- 14
Die zulässige Klage, über die auch in Abwesenheit der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zum Teil begründet. Hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG war die Klage abzuweisen. Soweit der Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geltend macht, war der Klage unter entsprechender Aufhebung des angegriffenen Bescheides des Bundesamtes vom 21.02.2013 stattzugeben.
- 15
Die Klage musste hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolglos bleiben.
- 16
Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 AsylVfG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine derartige Verfolgung kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind die Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) – im Folgenden: QRL – für die Feststellung, ob eine solche Verfolgung vorliegt, ergänzend anzuwenden. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, die Schutzakteure, internen Schutz, Verfolgungshandlungen und -gründe für anwendbar erklärt.
- 17
Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger vor seiner Ausreise keine solche Verfolgung erlitten, insbesondere befindet er sich nicht in asylerheblicher Weise aus Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Heimatlandes.
- 18
Zwar glaubt der Einzelrichter dem Kläger, dass er in Kandahar in einer Konditorei gearbeitet und dort einen Erpresserbrief erhalten hat. Der etwas schüchtern und in sich gekehrt wirkende Kläger hat das Rand- und Kerngeschehen im Verfahren vor dem Bundesamt wie auch vor Gericht in einer strukturgleichen und mit individuellen Merkmalen durchsetzten Aussage geschildert. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat er detailreich und ohne Widersprüche von der Konditorei in Kandahar und den näheren Umständen zu den erhaltenen Briefen berichtet. Was insbesondere die Frage anbelangt, warum gerade er bzw. sein Vater von den Taliban erpresst worden sei, so hat er die (nachvollziehbare) Vermutung geäußert, dass dies mit der schiitischen Religionszugehörigkeit seiner Familie zusammenhängen könne. Der überwiegende Bevölkerungsteil in Kandahar sei sunnitischen Glaubens. Dies habe auch für sein Wohnviertel und die Einkaufstraße gegolten, in der er bzw. sein Vater die Konditorei betrieben hätten. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auch im Einzelnen dargelegt, dass und aus welchen Gründen die Konditorei „gut gelaufen“ sei und täglich Einnahmen von ca. 2.000 US-Dollar eingebracht habe. Selbst wenn diese Mittel nicht ausgereicht hätten, um den Forderungen der Taliban i.H.v. 100.000 US-Dollar nachkommen zu können, so erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Forderung der Taliban nur ein Druckmittel war, um die schiitische Familie des Klägers unter Druck zu setzen und ggf. aus Kandahar zu vertreiben.
- 19
Gleichwohl konnte der Kläger eine konkrete asylrelevante Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft machen.
- 20
Soweit der Kläger vorgetragen hat, er sei aufgrund seiner schiitischen Religionszugehörigkeit ins Visier der Taliban geraten, so hat er eine diesbezügliche Bedrohungslage nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit glaubhaft machen können. Die Frage des Einzelrichters im Rahmen der mündlichen Verhandlung, ob ihm die Taliban in den Erpresserbriefen vorgehalten hätten, dass er bzw. seine Familie Schiiten bzw. „Gottlose“ seien, hat der Kläger ausdrücklich verneint. Stattdessen meinte er lediglich, es sei „allgemein bekannt“, dass Schiiten in Kandahar von den Taliban verfolgt bzw. benachteiligt würden. Damit fehlt der Nachweis einer konkreten Verknüpfung der Verfolgungshandlungen der Taliban mit der schiitischen Religionszugehörigkeit des Klägers. Auch im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger mit Blick auf den Inhalt des Briefes lediglich davon gesprochen, dass die Taliban ihn bzw. seine Familie aufgefordert hätten, sie in ihrem Kampf gegen die Ungläubigen zu unterstützen.
- 21
Auch eine asylrelevante Bedrohung aufgrund seiner politischen Überzeugung hat der Kläger nicht glaubhaft machen können. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) QRL insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 der Richtlinie genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Was unter einer Verfolgungshandlung zu verstehen ist, definieren Art. 9 Abs. 1 und 2 QRL, wobei nach Art. 9 Abs. 3 eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen bestehen muss.
- 22
Soweit der Kläger diesbezüglich vorträgt, die Ablehnung der (finanziellen) Unterstützung der Taliban sei als politische Überzeugung anzusehen, so vermag dies nicht zu überzeugen. Zwar kann etwa die Ablehnung des „Djihad“ eine politische Überzeugung i.S.v. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) QRL darstellen (vgl. hierzu das seitens der Prozessbevollmächtigten des Klägers in Bezug genommene Urteil des VG Göttingen vom 04.12.2012 – 4 A 125/10, zu finden unter asyl.net). So liegt der Fall hier indes nicht. Die Flucht vor dem „Djihad“ – die seitens der Taliban als todeswürdiges Verbrechen angesehen wird – kann mit der Weigerung, die Taliban finanziell zu unterstützen, nicht ohne Weiteres gleichgesetzt werden. Dies gilt vorliegend jedenfalls deshalb, weil der Kläger die (finanzielle) Unterstützung der Taliban nicht ausdrücklich abgelehnt, sondern auf die Forderung der Taliban (lediglich) geflüchtet ist. Er hat die Konditorei bereits zwei Tage nach dem Erhalt des Erpresserbriefes geschlossen, um einige Monate später aus Afghanistan zu fliehen. Es ist vom Kläger nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass dieses Verhalten des Klägers zu weiteren Verfolgungshandlungen seitens der Taliban geführt hat, zumal auch der Vater des Klägers in der Vergangenheit mehrere Briefe erhalten hat, ohne dass dies (zunächst) mit konkreten Bedrohungen oder Nachstellungen seitens der Taliban verbunden gewesen wäre. Sofern Ziel des Erpresserbriefes die Vertreibung des Klägers bzw. seiner Familie zum Ziel gehabt haben sollte, so hätten die Taliban dieses Ziel mit der Flucht des Klägers erreicht. Soweit der Kläger sich gleichwohl in einer Bedrohungslage gesehen hat bzw. immer noch sieht, so ist dies letztlich auch auf entsprechende Äußerungen in seinem Bekanntenkreis zurückzuführen. Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt hat er hierzu angegeben, dass seine Bekannten die Vermutung geäußert hätten, dass er in Gefahr sei und das Land verlassen müsse. Von konkreten Bedrohungen oder Übergriffen seitens der Taliban hat der Kläger indes nichts berichtet. Soweit er das spurlose Verschwinden seines Vaters mit den Erpresserbriefen in Zusammenhang bringt, so handelt es sich auch insoweit um Spekulation. Welche Hintergründe das Verschwinden des Vaters wirklich hatte, lässt sich nicht sagen.
- 23
Damit ist ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben. Insoweit erweist sich der angegriffene Bescheid als rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
- 24
Demgegenüber hat die Klage mit dem hilfsweise geltend gemachten Begehren, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des angegriffenen Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt, Erfolg.
- 25
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht um.
- 26
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S. von Art. 15 Buchst. c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 – juris).
- 27
Kann ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zumindest im tatsächlichen Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat festgestellt werden, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weiter zu fragen, ob ihm dort infolgedessen auch eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt droht. Hierfür sind Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt bzw. zu der sogenannten Gefahrendichte erforderlich, d.h. (1.) eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und (2.) der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie (3.) eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Hierzu gehört auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (ausführlich: BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 32 ff.).
- 28
Bei der Prüfung, ob dem Ausländer zumindest in seiner Herkunftsregion aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben droht, sind gegebenenfalls gefahrerhöhende persönliche Umstände zu berücksichtigen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Liegen hingegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Allerdings kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 18 ff.).
- 29
Auf dieser Grundlage gestaltet sich die Situation in Afghanistan wie folgt:
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Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 09.02.2011, 10.01.2012 und 04.06.2013) finden in weiten Teilen des Landes mit Schwerpunkt Süden, Südwesten, Südosten, Osten und Teilen des Nordens gewalttätige Auseinandersetzungen statt. Die Lage ist weder sicher noch stabil. In den letzten Jahren war ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen. Dabei wird die Sicherheitslage in den einzelnen Regionen unterschiedlich dargestellt. Zwar heißt es im Bericht vom 04.06.2013, dass die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle im Berichtszeitraum (2012) im Vergleich zum Vorjahr leicht abgenommen habe. Insbesondere in den Herbst- und Wintermonaten sei eine weitere wetterbedingte Abschwächung der Kampfhandlungen zu beobachten gewesen. Andererseits finden sich Pressemitteilungen, wonach die internationalen Streitkräfte einen eigenen Bericht, wonach die Zahl der Angriffe der Taliban im Jahr 2012 zurückgegangen sei, korrigiert hätten. Laut neuen Angaben sei die Zahl gegenüber dem Vorjahr praktisch unverändert gewesen (BBC News vom 26.02.2013, zu finden unter http://www.bbc.co.uk/news/world-asia-21594010).
- 31
Das Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) führt in einem Bericht vom April 2013 an, dass die Anzahl der von bewaffneten Oppositionsgruppen in den ersten 3 Monaten des Jahres 2013 verübten Angriffe im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 47 Prozent angestiegen ist. Nach Einschätzung des ANSO ist angesichts der Stabilität der saisonalen Konflikttrends (geringe Konfliktintensität im Winter und starker Anstieg im Sommer) davon auszugehen, dass die erneute Eskalation des Konflikts während der gesamten Saison anhält und die Gewalt im Jahr 2013 das zweithöchste Niveau nach 2010 erreicht. Die Anzahl der Angriffe bestätigt außerdem, dass der Rückgang der Gewalt im vergangenen Jahr kein Anzeichen einer dauerhaft verminderten Kampffähigkeit der bewaffneten Oppositionsgruppen gewesen ist. Vielmehr handelte es sich um eine operationelle Pause, die möglicherweise durch den strengen Winter 2011/12 bedingt war und mittlerweile beendet wurde. Das ANSO berichtet weiters, dass die bewaffneten Oppositionsgruppen weiterhin zunehmend afghanische Ziele angreifen. So haben in den ersten 3 Monaten des Jahres 2013 insgesamt 73 Prozent aller von den bewaffneten Oppositionsgruppen verursachten sicherheitsrelevanten Vorfälle auf die afghanischen Sicherheitskräfte abgezielt. Weitere 10 Prozent zielten auf Zivilisten, die mit der Regierung in Verbindung standen bzw. denen eine solche Verbindung vorgeworfen wurde (ANSO, April 2013, S. 9). In einem Bericht vom Juni 2013 erwähnt der UNO-Generalsekretär, dass im Zeitraum vom 16.02. bis 15.05.2013 insgesamt 4.267 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet wurden. Dies stellt einen 10-prozentigen Anstieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum dar. 70 Prozent der Vorfälle ereigneten sich im Süden, Südosten und Osten des Landes (UNGA, 13.06.2013, S. 5)
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Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) schreibt in ihrem Halbjahresbericht zum Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt vom Juli 2013, dass sie im Zeitraum von Januar bis Juni 2013 insgesamt 3.852 zivile Opfer (1.319 Tote und 2.533 Verletzte) dokumentiert hat und dies einen 23-prozentigen Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum darstellt. Für 74 Prozent der zivilen Opfer waren laut UNAMA regierungsfeindliche Elemente, für 9 Prozent regierungstreue Kräfte und für 12 Prozent Bodenkämpfe zwischen beiden Seiten verantwortlich. Die restlichen 4 Prozent konnten keiner Konfliktpartei zugeordnet werden. Die Hauptursachen für den Anstieg der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2013 waren die vermehrte willkürliche Verwendung von Spreng- und Brandvorrichtungen durch regierungsfeindliche Elemente sowie Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe an Orten, an denen sich Zivilisten aufhalten, darunter auch zivile Regierungsgebäude (UNAMA, Juli 2013, S. 1-2).
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Der afghanische Innenminister Umer Daudzai hat laut einem Anfang September 2013 veröffentlichten Artikel von AlertNet bekannt gegeben, dass seit März 2013 insgesamt 1.792 Polizisten getötet worden seien – die meisten durch am Straßenrand platzierte Bomben. Die gleiche Anzahl an Polizisten sei in den 12 vorangegangenen Monaten ums Leben gekommen (AlertNet, 02.09.2013).
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In einem im September 2013 erschienenen Bericht des UNO-Generalsekretärs wird erwähnt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die meisten Operationen durchführen und ihre Opferzahl deutlich angestiegen ist. Berichten zufolge wurden im zweiten Quartal des Jahres 2013 mehr als 3.500 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte bei Kampfhandlungen verletzt oder getötet. Am 01.07.2013 hat der afghanische Innenminister bekannt gegeben, dass zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 2013 insgesamt 299 Polizisten getötet wurden. Dabei handelt es sich um einen 22-prozentigen Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (UNGA, 6. September 2013, S. 5).
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Eine Analyse der Aktivitäten von Aufständischen seit Dezember 2012 habe eine Zunahme von größeren Angriffen der Taliban ergeben, bei denen strategisch wichtige Ortschaften vorübergehend besetzt worden seien. Es gebe Anzeichen für Verstärkung der Aktivitäten im Hinblick auf den Abzug ausländischer Truppen im Jahr 2014 (Ruttig, Thomas: After the ‘operational pause’: How big is the insurgents’ 2013 spring offensive?, 02.06.2013, veröffentlicht von AAN, verfügbar auf ecoi.net).
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Die Bewertung dieser Auskunftslage ergibt, dass in erheblichen Teilen Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ausgegangen werden muss. Die in diesem Rahmen stattfindenden Auseinandersetzungen sind als willkürliche Gewalt einzustufen. Hierbei ist es unerheblich, wie dieser Begriff zu verstehen ist (vgl. BVerwG vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 – juris Rn. 36; EuGH vom 17.02.2009 - Rs C-465/07 Abl. EU vom 18.04.2009 C 90/4 Rn. 35). Einerseits wird er verstanden als nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheidende unterschiedslose Angriffe sowie als Anschläge, die nicht auf die bekämpfte Konfliktpartei gerichtet sind, sondern die Zivilbevölkerung treffen sollen, ferner als Gewaltakte, bei denen die Mittel und Methoden in unverhältnismäßiger Weise die Zivilbevölkerung treffen. Nach anderer Ansicht soll das Merkmal der willkürlichen Gewalt definiert werden als wahllos stattfindende Gewalt gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität.
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Wie die genannten Auskünfte ergeben, halten sich die Konfliktparteien mit Ausnahme der internationalen Truppen nicht an die Regeln des humanitären Völkerrechts. Sie unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die unterschiedlichen Milizen sowie die Taliban suchen gerade nicht den Kampf mit den regulären Truppen. Vielmehr agieren sie z.B. mit Sprengstoffanschlägen gerade gegen die Zivilbevölkerung, um hier ihre Opfer zu finden. Zudem tarnen sie sich als Zivilisten und provozieren hierdurch Angriffe der Gegenseite, die als Folge auch Unschuldige treffen. Damit liegen unterschiedslose Angriffe vor. Die fehlende Zielgerichtetheit der Angriffe ergibt sich daraus, dass gerade Angriffe auf Zivilpersonen und humanitäre Organisationen ein allgemeines Klima der Angst hervorrufen sollen. Hierzu werden Attentate eingesetzt, die möglichst viele Opfer zur Folge haben sollen.
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Allerdings ist die Lage hinsichtlich der unterschiedlichen Provinzen differenziert zu sehen. Nicht in allen Teilen Afghanistans ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in diesem Sinne auszugehen, bei denen wahllos stattfindende Gewalt insbesondere die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht (bejahend: HessVGH vom 11.12.2008 - 8 A 611/08.A - juris für die Provinz Paktia; VG Kassel vom 01.07.2009 - 3 K 206/09.KS.A - juris für den Süden und Südosten des Landes; VG Ansbach vom 03.03.2011 - AN 11 K 10.30505 - juris für die Provinz Helmand; VG Augsburg vom 10.06.2011 - AU 6 K 10.30644 - juris für die Provinz Kandahar; VG Gießen vom 20.06.2011 - 2 K 499/11.GI.A, Asylmagazin 2011, 235 insbesondere für die Provinz Maidan-Wardak, aber auch allgemein für das ganze Land; VG Köln vom 24.01.2012 - 14 K 4279/10.A Asylmagazin 2012, 74 für die Provinz Kunar; verneinend: VG Osnabrück vom 16.06.2009 - 5 A 48/09 - juris für die Stadt Herat; VG Kassel vom 01.07.2009 - 3 K 206/09.KS.A - juris für den Großraum Kabul; VG des Saarlandes vom 26.11.2009 - 5 K 623/08 - juris für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 16.12.2009 - AN 11 K 09.30327 - juris für Stadt und Distrikt Kabul; VG Regensburg vom 15.04.2010 - RN 9 K 09.30075 - juris ohne regionale Differenzierung; BayVGH vom 03.02.2011 - 13a B 10.30394 - juris für die Provinzen Parwan und Kabul; VG Augsburg vom 24.02.2011 - AU 6 K 09.30134 - juris für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 04.08.2011 - AN 11 K 11.30262 - juris für die Provinz Herat; BayVGH vom 07.10.2011 - 13a ZB 11.30347 - juris für die Provinz Wardak; BayVGH vom 08.12.2011 - 13a B 11.30276 - juris für die Provinz Ghazni; BayVGH vom 20.01.2012 - 13a B 11.30427 - juris für die Provinz Kunar; BayVGH vom 20.01.2012 - 13a B 11.30425 - juris für die Zentralregion [Maydan-Wardak]; VGH Baden-Württemberg vom 06.03.2012 - A 11 S 3177/11 - juris für Kabul; BayVGH vom 15.03.2012 - 13a B 11.30438 - juris für die Provinz Kandahar).
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Auf der Grundlage dieser Auskunftslage unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung muss davon ausgegangen werden, dass in der Provinz Kandahar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, der jedenfalls für den Kläger zu einer erheblichen individuellen Gefahr führt.
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Die Provinz Kandahar liegt im Süden Afghanistans. Sie grenzt im Norden an die Provinz Uruzgan, im Nordwesten an Zabul, im Westen und Süden an Pakistan (Provinz Balochistan) und im Osten an die Provinz Helmand. Die Provinz umfasst ca. 54.000 km2 (fast doppelt so groß wie Brandenburg). Die Einwohnerzahl wird auf rund 1,11 Mio. Einwohner geschätzt (Central Statistics Organization, Afghanistan, „Settled Population by Province – 2010-11” aus http://cso.gov.af), von denen ca. ein Drittel in ländlichen Gebieten leben. In der Hauptstadt Kandahar leben rund 369.000 Einwohner (zweitgrößte Stadt nach Kabul).
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Kandahar galt seit je her als Hochburg der Taliban. Mullah Omar stammt aus Kandahar und hatte hier sein Hauptquartier. Die Stammesgesellschaft ist in Kandahar sehr ausgeprägt. Sicherheit und Ordnung liegen vielfach in Händen der Clanchefs, die entscheiden, ob sie die Anwesenheit von Taliban- oder Regierungstruppen in ihrem Gebiet zulassen. Die Ring-Road (Afghanistans Hauptverkehrsader) läuft durch drei Distrikte und bietet den Taliban sowohl Mobilität als auch Gelegenheiten zu Überfällen auf Militär- und Zivilkonvois. Durch die nördlichen Distrikte Ghorak, Khakrez, Shah Wali Kot und Miya Nishin laufen Transit- und Versorgungsrouten für Operationen der Aufständischen in den benachbarten Provinzen Helmand, Uruzgan und Zabul.
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Das Bundesamt ging in einem Informationspapier aus April 2009 zur Sicherheitslage in bestimmten Provinzen Afghanistans (Kabul, Herat, Kandahar, Balkh, Parwan, Ghazni, Paktia, Nangarhar, Laghman, Kunar, Uruzgan) vom 01.04.2009 davon aus, dass aufgrund der Vielzahl der Vorfälle vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Kandahar auszugehen ist (BAMF, Informationszentrum Asyl und Migration: Afghanistan, Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen (Kabul, Herat, Kandahar, Balkh, Parwan, Ghazni, Paktia, Nangarhar, Laghman, Kunar, Uruzgan), S. 43).
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ANSO stellt auf Seite 10 seines Vierteljahresberichts zur Sicherheitslage vom April 2013 (Berichtszeitraum Januar bis März 2013) eine Tabelle zur Verfügung, aus der hervorgeht, dass es im Berichtszeitraum in der Provinz Kandahar 188 sicherheitsrelevante Vorfälle gegeben habe, für die bewaffnete Oppositionsgruppen verantwortlich gewesen seien. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stelle dies einen 17-prozentigen Anstieg dar (ANSO, April 2013, S. 10). Auf einer im selben Bericht enthaltenen Landkarte ist die Provinz Ghazni als „extrem unsicher“ gekennzeichnet.
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In seinem Vierteljahresbericht zur Sicherheitslage vom Januar 2013 (Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2012) schreibt das ANSO, dass die Provinzen Kandahar, Nangarhar, Helmand, Khost, Kunar und Ghazni die am meisten umkämpften Gebiete im Jahr 2012 gewesen seien (ANSO, Januar 2013, S. 13). Laut einer im selben Bericht enthaltenen Tabelle ereigneten sich im Jahr 2012 insgesamt 2.065 sicherheitsrelevante Vorfälle in der Provinz Kandahar. Für 1.098 dieser Vorfälle seien bewaffnete Oppositionsgruppen, für 152 die internationalen Truppen und für 773 die afghanischen Sicherheitskräfte verantwortlich gewesen (ANSO, Januar 2013, S. 13). Weiter enthält der ANSO-Bericht eine Tabelle, aus der hervorgeht, dass die Anzahl der im Jahr 2012 von bewaffneten Oppositionsgruppen verübten Angriffe im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozent gesunken sei (von 1.290 auf 1.097) (ANSO, Januar 2013, S. 16).
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In seinem Länderbericht zu Terrorismus vom Mai 2013 (Berichtszeitraum 2012) erwähnt das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) in Zusammenhang mit terroristischen Angriffen im Jahr 2012, dass Helmand, Kandahar, Ghazni und Kunar die gefährlichsten Provinzen für die afghanischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen gewesen seien (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Allgemeine Sicherheitslage; 2) Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle in Ghazni, [a-8497], 14.08.2013, verfügbar auf ecoi.net).
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Auf dieser Grundlage ist anzunehmen, dass in der Provinz Kandahar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht (so z.B. auch VG Köln, Urteil vom 13.12.2011 - 14 K 4389/10 – juris; VG B-Stadt, Urteil vom 16.04.2013 – 7 K 4308/12 – juris – Rn. 18).
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Ob dieser bewaffnete Konflikt ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson bei einer Rückkehr nach Helmand allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein, ob also eine außergewöhnliche Situation vorliegt, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, kann im vorliegenden Fall dahinstehen. Zwar hat die (obergerichtliche) Rechtsprechung unter Auswertung der zur Verfügung stehenden Opferzahlen darauf hingewiesen, dass das Risiko, Opfer eines Anschlages in der Provinz Kandahar zu werden, lediglich ca. 1:1.200 oder 0,1% pro Jahr betrage (so etwa VG München, Urteil vom 04.04.2013 - M 12 K 12.30449 – juris unter Hinweis auf BayVGH, Urteil vom 15.03.2013 – 13a B 11.30438 – Rn 22). Auch das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen geht in einem Beschluss vom 28.03.2013 (13 A 1117/12.A – juris Rn. 21) davon aus, dass die statistische Gefahr, in der Provinz Kandahar bei einem Anschlag getötet zu werden, „erheblich unterhalb von 5 Promille“ liege.
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Zum einen sind diese Entscheidungen jedoch noch maßgeblich auf der für das Jahr 2012 geltenden Auskunftslage ergangen. Zum anderen ergibt sich im vorliegenden Fall eine Individualisierung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Klägers.
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Diese gefahrerhöhenden Umstände sind vorliegend zum einen in der schiitischen Religionszugehörigkeit des Klägers zu sehen, zugleich jedoch auch in dem Umstand, dass er sich in einem Lebensalter von 29 bzw. 30 Jahren befindet und aufgrund dieser Gesamtumstände von einem deutlich erhöhten Rekrutierungsinteresse der, wie dargelegt, nach wie vor in der Provinz Kandahar sehr präsenten Taliban auszugehen ist.
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Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Länderbericht vom April 2011 (Berichtsjahr 2010) in Bezug auf Hazara und andere Schiiten, dass diese in bestimmten Gebieten Afghanistans weiterhin von Diskriminierung in Form von Gelderpressung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung betroffen seien. Der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR) berichtet im Mai 2011, dass es in verschiedenen Gebieten Afghanistans zur Zwangsrekrutierung von Männern zwischen 18 und 40 Jahren durch „regierungsfeindliche Elemente“ („Anti Government Elements“) gekommen sei. In einigen Fällen hätten Älteste in Zusammenhang mit Mobilisierungstätigkeiten der Taliban Familien dazu gezwungen, einen Mann für „lashkar“ (Tradition, einen Mann im kampffähigen Alter zur Verfügung zu stellen) zur Verfügung zu stellen (zum Ganzen: ACCORD: Zwangsrekrutierung von erwachsenen Männern durch die Taliban [a-7895], 08.02.2012, verfügbar auf ecoi.net; Bundesasylamt, Rekrutierung durch die Taliban, 02.04.2012).
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Der UNHCR weist im Zusammenhang mit einem Bericht des Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) von Juli 2012 darauf hin, dass es neben der Anwendung und Androhung unmittelbarer Gewalt weitere Druckmittel gebe, um Personen zu drängen, sich den Taliban anzuschließen. Dazu würden die Verbreitung von Angst, Einschüchterungen und die Nutzung von Stammesmechanismen zählen (ACCORD: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Zwangsrekrutierung junger Afghanen durch die Taliban [a-8093-5 (8085)], 13.08.2012, verfügbar auf ecoi.net). In einer aktuellen Stellungnahme des UNHCR vom 16.08.2013 wird festgestellt, dass insbesondere Männer und Jungen im wehrfähigen Alter einer besonderen Verfolgungsgefahr ausgesetzt seien, da diese häufig als Kämpfer rekrutiert würden. Dabei werde auch auf Zwangsrekrutierungen zurückgegriffen. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge dem Risiko ausgesetzt, als vermeintliche Regierungsspione getötet oder auf andere Weise bestraft zu werden (UNHCR-Stellungnahme zu Fragen der potentiellen Rückkehrgefährdung von jungen männlichen afghanischen Staatsangehörigen, 16.08.2013).
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Mit Blick darauf, dass der Kläger in seiner Heimatprovinz Kandahar bereits ins Visier der Taliban geraten ist, liegt es für den Einzelrichter auf der Hand, dass im Fall seiner Rückkehr ein besonderes Rekrutierungsinteresse seitens der Taliban bestehen wird, zumal der Betroffene keine familiären Verpflichtungen zu erfüllen hat und er aufgrund seiner schiitischen Religionszugehörigkeit ein erhöhtes Misstrauen gegenüber dieser Person seitens der Taliban besteht. Was die besondere Gefährdungslage von Afghanen schiitischer Glaubenszugehörigkeit anbelangt, so berichtet das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 04.06.2013 zwar davon, dass Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten im Alltagsleben in Afghanistan selten seien. Allerdings heißt es in diesem Bericht ebenfalls, dass zum Schiitischen Aschura-Fest am 06.12.2011 eine der schwersten Anschlagsserien der letzten Jahre stattgefunden habe. In Kabul, Masar-e-Scharif und Kandahar seien bei Angriffen auf schiitische religiöse Stätten etwa 60 Menschen gestorben, ca. 200 seien verletzt worden. Auch in den aktuellen Richtlinien des UNHCR zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von afghanischen Asylsuchenden vom 06.08.2013 wird davon berichtet, dass Diskriminierungen schiitischer Glaubenszugehöriger zugenommen hätten, wobei der Umfang der Diskriminierungen von Region zu Region unterschiedlich sei (UNHRC, a.a.O., S. 45 Fn. 276). Diese Auskunftslage deckt sich mit den Angaben des Klägers zur Gefährdungslage von Schiiten in der Stadt Kandahar. Danach wird die Minderheit der schiitischen Glaubensbrüder als fremd und andersartig betrachtet.
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Der Kläger hat auch keine interne Schutzmöglichkeit. In Betracht käme hier lediglich der Großraum Kabul.
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Nach Art. 8 Abs. 1 QRL können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Zur Frage, wann von dem Ausländer „vernünftigerweise erwartet werden kann“, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhält, verweist das Bundesverwaltungsgericht auf die Begründung zum Regierungsentwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes (BT-Drs. 16/5065 S. 185). Hier wird ausgeführt, dass dies dann der Fall sei, wenn der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinde, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet sei. Ausdrücklich offen gelassen wurde, welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen. Allerdings spreche einiges dafür, dass die gemäß Art. 8 Abs. 2 QRL zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftslandes -oberhalb (Hervorhebung durch den Einzelrichter) der Schwelle des Existenzminimums - auch den Zumutbarkeitsmaßstab prägen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 20). Nach diesen Grundsätzen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen eine wirtschaftliche Lebensgrundlage etwa dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen können (hierzu ausführlich: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.03.2012 – A 11 S 3070/11 – juris).
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Auf dieser Grundlage stellt sich die Situation in Afghanistan, insbesondere im Großraum Kabul, wie folgt dar:
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Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Das Auswärtige Amt teilt in seinen Lageberichten zu Afghanistan vom 10.01.2012 und 04.06.2013 mit, dass der Staat, einer der ärmsten der Welt, in extremem Maß von Geberunterstützung abhängig sei. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gelte dies naturgemäß verstärkt. Eine hohe Arbeitslosigkeit werde verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Die aus Konflikt und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten des Landes hätten zur Folge, dass ca. 1 Mio. oder 29,5% aller Kinder als akut unterernährt gelten. Problematisch bleibe die Lage der Menschen insbesondere in den ländlichen Gebieten des zentralen Hochlands. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in Städten sei nach wie vor schwierig. Die medizinische Versorgung sei - trotz erkennbarer Verbesserungen - immer noch unzureichend. Rund 36% der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze und die Analphabetenrate liege bei 70%. Auch das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar.
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Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung (Juni 2013, S. 20 ff.) weist darauf hin, dass weitere Herausforderungen für die Wirtschaftsentwicklung in Afghanistan im hohen Konsum durch die internationale Gemeinschaft zu sehen seien, der sich im Zuge des Truppenabzugs stark verringern werde, während das natürliche Binnenwachstum vergleichsweise schwach bleiben werde. Hinzu komme im regionalen Vergleich das – durch die internationale Präsenz verursachte – hohe Lohnniveau bei gleichzeitiger Abwertung der Währungen der Nachbarstaaten. Dieser Wettbewerbsnachteil werde durch geringe Investitionen in mangelhafte Produktionsstätten, schlecht ausgebildete Arbeitskräfte, korruptionsanfällige Verwaltung sowie fehlende Voraussetzungen zur besseren Nutzung des agrarischen Charakters der afghanischen Wirtschaft (Zertifizierungssysteme, Verpackungsindustrie, Kühlketten) verschärft.
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Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 23.08.2011, S. 19 f.; Update vom 03.09.2012, S. 19 f., 21) sieht mangels sozialer Sicherungssysteme für eine sichere und wirtschaftliche Existenz eines Rückkehrers ein gutes Familiennetz und zuverlässige Stammes- und Dorfstrukturen als wichtigste Voraussetzung an. Die vorhandene medizinische Versorgung wird als völlig unzureichend eingestuft. Weite Teile der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Viele Menschen würden sterben, weil sie auf dem Weg zu Gesundheitseinrichtungen an Checkpoints lange aufgehalten würden. In Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, würde etwa ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Aufgrund der andauernden Gewalt, der politischen Instabilität sowie der extremen Armut und den zahlreichen Naturkatastrophen befinde sich das Land in einer humanitären Notlage. Die Arbeitslosenrate betrage rund 40%. Die durch die Landflucht rasant angewachsene städtische Bevölkerung, die vielen durch den Krieg zerstörten Wohngegenden sowie internationale Organisationen, welche horrende Mieten bezahlen können, haben die Mietpreise in Kabul stark in die Höhe getrieben. Über 40 Prozent der Rückkehrenden konnten sich in ihren Heimatorten nicht integrieren, und zahlreiche Flüchtlinge waren nach ihrer Rückkehr auf Unterstützung angewiesen. Für Rückkehrende ist es oft unmöglich, ihr Land zurückzufordern und zudem schwierig, ohne soziales und wirtschaftliches Netzwerk eine Arbeitsstelle zu finden.
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Dr. Mostafa Danesch berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010), dass alleinstehende Rückkehrer in Afghanistan keinerlei Aussicht haben, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Ein soziales Netz in Form der Großfamilie ist überlebensnotwendig.
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Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass Personen ohne familiäre oder verwandtschaftliche Strukturen bzw. ohne soziales Netzwerk und mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kindern, Familien und Personen mit besonderen ethischen oder religiösen Merkmalen in der Regel keine Möglichkeit haben, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen.
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Dies zugrunde gelegt, muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger keine Möglichkeit hat, sich im Großraum Kabul eine neue - wenn auch kümmerliche - Existenz aufzubauen. Er hat nachvollziehbar vorgetragen, dass er im Großraum Kabul nicht auf verwandtschaftliche Strukturen zurückgreifen kann. Sein einziger Verwandter ist sein in Kandahar lebender Onkel, der ihm bei der Gründung einer eigenen Existenz in der Millionenstadt Kabul kaum behilflich sein kann. Zwar war der Kläger bereits als Lebensmittelverkäufer tätig. Allerdings hat er dieses Geschäft nicht selbständig aufgebaut, sondern war lediglich als Angestellter tätig. Er ist auch Zeit seines Lebens in Kandahar gewesen. Mit den gesellschaftlichen und örtlichen Strukturen in Kabul ist er daher nicht vertraut. Seine finanziellen Mittel sind aufgebraucht. Erschwerend kommt seine schiitische Religionszugehörigkeit hinzu. Aufgrund des Eindrucks, den das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, ist zudem davon auszugehen, dass der Kläger nicht die Energie aufzubringen vermag, um in Kabul ohne familiäre Unterstützung eine eigene Existenz aufzubauen.
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Hieraus ergibt sich, dass der Kläger für sich geltend machen kann, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 AufenthG und nach § 60 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sind nicht erkennbar.
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Da es sich bei dem unionsrechtlichen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7Satz 2 AufenthG als auch bei dem nationalen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG sich jeweils um einen Streitgegenstand handelt, ist wegen der Feststellung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Feststellung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen, aufzuheben.
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Nach § 34 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist in der Abschiebungsandrohung der Staat zu bezeichnen, in den der Schutzsuchende nicht abgeschoben werden darf, wenn ein Abschiebungsverbot besteht. Daraus folgt, dass die positive Bezeichnung des fraglichen Staates als Zielstaat in der Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist und zwar - wie Satz 3 dieser Vorschrift zeigt - auch dann, wenn das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes feststellt. Dann bleibt zwar die Abschiebungsandrohung nach Satz 3 dieser Vorschrift im Übrigen unberührt, die Zielstaatsbezeichnung ist aber als rechtswidrig aufzuheben. Wann ein Schutzsuchender i.S. von § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht in einen bestimmten Zielstaat abgeschoben werden darf, ist den Bestimmungen über die zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 2 bis Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zu entnehmen. Bei den sog. zwingenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 5 und Abs. 7 Satz 2 führt eine positive Entscheidung über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich eines Staates demnach zur Rechtswidrigkeit der Zielstaatsbezeichnung dieses Staates in der Abschiebungsandrohung (BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8.07 – juris).
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Nach diesen Grundsätzen ist hier wegen der vorgenannten Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die im angefochtenen Bescheid unter Ziffer 4 erfolgte Zielstaatsbezeichnung Afghanistan in der Abschiebungsandrohung aufzuheben.
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Nach alledem ist der Klage teilweise stattzugeben, im Übrigen ist sie abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tatbestand
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Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger, erstrebt Abschiebungsschutz wegen ihm im Irak drohender Gefahren.
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Der 1976 in Mosul geborene Kläger ist kurdischer Volkszugehöriger sunnitischen Glaubens. Zur Begründung des im Juli 2001 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt -) gestellten Asylantrags gab er an, dass er in Mosul ein Lebensmittelgeschäft betrieben habe. Eine von einem Kunden in seinem Laden abgestellte Tasche, die Flugblätter von Schiiten enthalten habe, sei von einem Unbekannten inspiziert worden. Sein Vater habe ihm daraufhin zur Flucht geraten und sei seinetwegen später verhaftet worden. Er befürchte, wegen des Vorfalls getötet oder lebenslang inhaftiert zu werden. Mit Bescheid vom 14. September 2001 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab, stellte jedoch fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (inzwischen § 60 Abs. 1 AufenthG) hinsichtlich des Irak vorliegen. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung verfolgt werde.
- 3
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Wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak widerrief das Bundesamt am 16. März 2006 die Flüchtlingsanerkennung und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.
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Die hiergegen erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 1. Februar 2007 im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf sei rechtmäßig, weil der Kläger im Irak nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein keine Verfolgung mehr zu befürchten habe. Er könne auch keine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bzw. subsidiären Schutz gemäß Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG beanspruchen. Im Irak liege kein landesweiter innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor. Zudem habe der Kläger die Möglichkeit, in Teilen des Irak internen Schutz zu finden. Im Übrigen stehe die Erlasslage des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, die bei allgemeinen Gefahren vergleichbaren Abschiebungsschutz biete, der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes entgegen.
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Während des Revisionsverfahrens hat der Kläger seine Revision hinsichtlich des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung zurückgenommen. Der erkennende Senat hat mit Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 44.07 - das Revisionsverfahren insoweit eingestellt. Im Übrigen hat er, soweit die Verpflichtung zur Feststellung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes aus § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG und hilfsweise nationalen Abschiebungsschutzes aus § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird, das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat er darauf abgestellt, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG keinen landesweiten bewaffneten Konflikt voraussetze. Die zusätzliche Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger könne innerhalb des Irak internen Schutz finden, beruhe auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage. Schließlich verletze der Verweis auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ministerielle Erlasse revisibles Recht. Denn § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sei richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die Sperrwirkung nicht greife, wenn die Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt seien.
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Während des neuen Berufungsverfahrens hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass der Kläger im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei. Damit sei sein Aufenthalt gesichert und es komme auf subsidiären Schutz nicht mehr an.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 21. Januar 2010 zurückgewiesen, soweit sie sich auf das noch anhängige Begehren zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bezieht. Die Berufung sei zulässig, denn für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, obwohl der Kläger mittlerweile im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG sei. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach Art. 18 der Richtlinie 2004/83/EG könne dem Kläger eine zusätzliche Rechtsposition vermitteln. Die Berufung sei aber unbegründet. Mit Blick auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führt das Berufungsgericht aus, es könne dahinstehen, ob die im Irak seit 2003 andauernden und durch staatliche Sicherheitskräfte bekämpften terroristischen Handlungen nach Intensität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren seien. Jedenfalls sei der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt. An seinem Herkunftsort in Mosul bestehe keine so hohe Gefahrendichte, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei. Dies ergebe sich aus der Zahl der Anschläge und der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen Terroranschlag in der Provinz Ninive verletzt oder getötet zu werden, habe 2009 ca. 0,12 % oder ca. 1:800 pro Jahr betragen. Für eine Verschärfung der Sicherheitslage gebe es keine Anhaltspunkte. Gefahrerhöhende individuelle Umstände seien bei dem Kläger nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen des hilfsweise begehrten nationalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 7 Satz 1 und § 60 Abs. 5 AufenthG) lägen ebenfalls nicht vor.
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Mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision wendet sich der Kläger allein gegen die Ablehnung der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Er rügt, der Verwaltungsgerichtshof habe bei der Ermittlung der Gefahrendichte auf die im Rahmen der Gruppenverfolgung entwickelten Kriterien der Verfolgungsdichte abgestellt, ohne zwischen den Schutzsystemen zu differenzieren und die Besonderheiten des subsidiären Schutzes zu berücksichtigen. Auch seien die in das Verfahren eingeführten Quellen zur Häufigkeit von Anschlägen im Irak und zur Zahl der Toten und Verletzten nicht interpretiert und bewertet worden.
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Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
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Die Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat die begehrte Verpflichtung zur Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes ohne Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) abgelehnt.
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Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch das Verpflichtungsbegehren auf Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes. Die darüber hinausgehende Beschränkung des Revisionsantrags auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (Urteile vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 11 und vom 8. September 2011 - BVerwG 10 C 14.10 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen - Rn. 16). Eine Revision kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 13).
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Für diesen Verpflichtungsantrag ist, obwohl der Kläger mittlerweile eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG besitzt, entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten das Rechtsschutzinteresse nicht entfallen. Dieses Interesse fehlt nur, wenn die Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (Urteil vom 29. April 2004 - BVerwG 3 C 25.03 - BVerwGE 121, 1 <3>). Der Beklagten ist einzuräumen, dass sich nach nationalem Aufenthaltsrecht die Rechtsstellung eines Ausländers in der Situation des Klägers, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG ist, durch die Zuerkennung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes derzeit nicht verbessern kann. Diese Betrachtung greift aber zu kurz. Denn aus dem Umsetzungsdefizit des deutschen Gesetzgebers, der - entgegen den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG im 5. Erwägungsgrund, in Art. 2 Buchst. f und in Art. 18 - den Status des subsidiär Schutzberechtigten im nationalen Recht nicht explizit ausgeformt hat, darf für den Kläger kein Nachteil entstehen (vgl. auch Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 13). Er hat daher ein legitimes Interesse, dass trotz seiner gesicherten aufenthaltsrechtlichen Stellung mit Blick auf diesen Schutzstatus und die damit einhergehenden Vergünstigungen über das Bestehen eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots entschieden wird.
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Die zulässige Klage ist aber unbegründet. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen, nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und das Revisionsgericht daher bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) greift keines der auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG).
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1. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Bestimmung entspricht nach der Rechtsprechung des Senats trotz geringfügig abweichender Formulierungen den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG und ist in diesem Sinne auszulegen (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 17 und Rn. 36).
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Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob die im Irak seit 2003 andauernden und durch staatliche Sicherheitskräfte bekämpften terroristischen Handlungen nach Intensität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt anzusprechen sind, weil der Kläger auch bei Annahme eines derartigen Konflikts keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wären. Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.
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a) Für seine Prognose, ob der Kläger bei Rückkehr in den Irak einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist, hat der Verwaltungsgerichtshof zu Recht auf die tatsächlichen Verhältnisse in seiner Herkunftsregion Mosul abgestellt. Dort hat der Kläger zuletzt gelebt, so dass die Annahme gerechtfertigt ist, dass er dorthin zurückkehren wird (Urteil vom 14. Juli 2009 - BVerwG 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188 Rn. 17).
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b) Das Berufungsgericht hat des Weiteren zutreffend geprüft, ob von dem - zugunsten des Klägers unterstellten - bewaffneten Konflikt in der Region von Mosul für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr ausgeht, die sich in der Person des Klägers so verdichtet, dass sie für diesen eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Denn auch eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr kann sich individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllen (Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 34).
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Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33). Gefahrerhöhende individuelle Umstände hat das Berufungsgericht bei dem Kläger nicht festgestellt (UA S. 12); dem ist der Kläger mit der Revision auch nicht entgegengetreten.
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Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann aber auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (Urteil vom 14. Juli 2009 a.a.O. Rn. 15 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07, Elgafaji - Slg. 2009, I-921 = NVwZ 2009, 705). Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 33).
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In jedem Fall setzt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden an den Rechtsgütern Leib oder Leben droht. Das ergibt sich aus dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG. Der darin enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR (GK), Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, 1330
); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG).
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Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG u.a. die Beweisregel des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beweiserleichterung in Gestalt einer widerleglichen tatsächlichen Vermutung setzt aber auch im Rahmen des subsidiären Schutzes voraus, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem vor der Ausreise erlittenen oder damals unmittelbar drohenden Schaden (Vorschädigung) und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zugrunde liegende Wiederholungsvermutung beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt (Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 31).
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Eine für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr ausreichende Gefahrendichte hat das Berufungsgericht für den Bereich der Stadt Mosul verneint. Es hat - in Anlehnung an die Vorgehensweise zur Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts (vgl. dazu Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 20 ff.) - aufgrund aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Provinz Ninive und deren Hauptstadt Mosul lebenden Zivilpersonen annäherungsweise ermittelt und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Beziehung gesetzt. Dabei hat es festgestellt, dass das Risiko, in der Provinz Ninive verletzt oder getötet zu werden, für das gesamte Jahr 2009 ungefähr 1:800 betrug. Einen Trend zur Verschlechterung der Sicherheitslage vermochte es nicht festzustellen (UA S. 12). Seine auf der Grundlage dieser Feststellungen gezogene Schlussfolgerung, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist, ist revisionsgerichtlich im Ergebnis nicht zu beanstanden.
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Zwar bedarf es - wie die Revision im Ansatz zu Recht rügt - neben dieser quantitativen Ermittlung auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung (Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 33). Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann. Der Mangel in der Vorgehensweise des Berufungsgerichts bleibt aber im vorliegenden Fall ohne Folgen. Denn die Höhe des vom Berufungsgericht festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens ist so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwirken vermag.
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Auch der Umstand, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG eingegangen ist, verhilft der Revision nicht zum Erfolg, denn das Vorfluchtschicksal des Klägers gab dazu keinen Anlass. Dieses lässt keine Beeinträchtigung erkennen, die auch unter dem Blickwinkel des Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG die Qualität einer Vorschädigung erreichen könnte. Zudem bestünde kein sachlicher Zusammenhang mit den nunmehr im Irak drohenden Gefahren.
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2. Das Berufungsgericht hat auch die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG in den Blick genommen, sie aber nicht als durchgreifend angesehen. Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.
Tatbestand
- 1
Der Kläger, afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit aus der Provinz Kandahar, begehrt die Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Feststellung von Abschiebungshindernissen.
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Der Kläger reiste nach eigenen Angaben auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragte am 11.10.2012 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei seiner persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für (Bundesamt) am 18.02.2013 führte er zur Begründung seines Antrags im Wesentlichen aus, er habe sein Heimatland gemeinsam mit seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Nichte verlassen, da er von den Taliban erpresst worden sei. In Afghanistan habe er eine Konditorei betrieben. Eines Tages habe er einen Erpresserbrief von den Taliban erhalten, in dem er zur Zahlung von 100.000 US-Dollar aufgefordert worden sei. Da bereits sein Vater mehrfach derartige Briefe erhalten habe, mithin ebenfalls erpresst worden sei, und schließlich spurlos verschwunden sei, habe er keine andere Möglichkeit gesehen, als sich in Sicherheit zu bringen und das Land zu verlassen.
- 3
Mit Bescheid vom 21.02.2013 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2 bis 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Kläger habe keine politische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure glaubhaft gemacht. Im Übrigen seien seine Ausführungen unsubstantiiert und nicht nachvollziehbar. Insbesondere sei nicht einsichtig, weshalb sich die Taliban mit einer derart hohen Summe gerade an den Kläger – als Inhaber einer Konditorei – gewandt hätten, während sein wohlhabender Onkel unbehelligt geblieben sei.
- 4
Am 25.02.2013 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung ließ er im Wesentlichen vortragen, die Ablehnung der (finanziellen) Unterstützung der Taliban stelle eine politische Überzeugung dar. Zudem sei er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe von staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung bedroht.
- 5
Der Kläger beantragt,
- 6
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 21.02.2013 zu verpflichten, dem Kläger unter Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
- 7
hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2013 zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG festzustellen,
- 8
weiter hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2013 zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
- 9
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
- 10
die Klage abzuweisen.
- 11
Sie tritt der Klage unter Bezugnahme auf die Begründung des Bescheides des Bundesamtes vom 21.02.2013 entgegen.
- 12
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
- 13
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
- 14
Die zulässige Klage, über die auch in Abwesenheit der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zum Teil begründet. Hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG war die Klage abzuweisen. Soweit der Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geltend macht, war der Klage unter entsprechender Aufhebung des angegriffenen Bescheides des Bundesamtes vom 21.02.2013 stattzugeben.
- 15
Die Klage musste hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolglos bleiben.
- 16
Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 AsylVfG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine derartige Verfolgung kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind die Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) – im Folgenden: QRL – für die Feststellung, ob eine solche Verfolgung vorliegt, ergänzend anzuwenden. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, die Schutzakteure, internen Schutz, Verfolgungshandlungen und -gründe für anwendbar erklärt.
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Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger vor seiner Ausreise keine solche Verfolgung erlitten, insbesondere befindet er sich nicht in asylerheblicher Weise aus Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Heimatlandes.
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Zwar glaubt der Einzelrichter dem Kläger, dass er in Kandahar in einer Konditorei gearbeitet und dort einen Erpresserbrief erhalten hat. Der etwas schüchtern und in sich gekehrt wirkende Kläger hat das Rand- und Kerngeschehen im Verfahren vor dem Bundesamt wie auch vor Gericht in einer strukturgleichen und mit individuellen Merkmalen durchsetzten Aussage geschildert. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat er detailreich und ohne Widersprüche von der Konditorei in Kandahar und den näheren Umständen zu den erhaltenen Briefen berichtet. Was insbesondere die Frage anbelangt, warum gerade er bzw. sein Vater von den Taliban erpresst worden sei, so hat er die (nachvollziehbare) Vermutung geäußert, dass dies mit der schiitischen Religionszugehörigkeit seiner Familie zusammenhängen könne. Der überwiegende Bevölkerungsteil in Kandahar sei sunnitischen Glaubens. Dies habe auch für sein Wohnviertel und die Einkaufstraße gegolten, in der er bzw. sein Vater die Konditorei betrieben hätten. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auch im Einzelnen dargelegt, dass und aus welchen Gründen die Konditorei „gut gelaufen“ sei und täglich Einnahmen von ca. 2.000 US-Dollar eingebracht habe. Selbst wenn diese Mittel nicht ausgereicht hätten, um den Forderungen der Taliban i.H.v. 100.000 US-Dollar nachkommen zu können, so erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Forderung der Taliban nur ein Druckmittel war, um die schiitische Familie des Klägers unter Druck zu setzen und ggf. aus Kandahar zu vertreiben.
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Gleichwohl konnte der Kläger eine konkrete asylrelevante Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft machen.
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Soweit der Kläger vorgetragen hat, er sei aufgrund seiner schiitischen Religionszugehörigkeit ins Visier der Taliban geraten, so hat er eine diesbezügliche Bedrohungslage nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit glaubhaft machen können. Die Frage des Einzelrichters im Rahmen der mündlichen Verhandlung, ob ihm die Taliban in den Erpresserbriefen vorgehalten hätten, dass er bzw. seine Familie Schiiten bzw. „Gottlose“ seien, hat der Kläger ausdrücklich verneint. Stattdessen meinte er lediglich, es sei „allgemein bekannt“, dass Schiiten in Kandahar von den Taliban verfolgt bzw. benachteiligt würden. Damit fehlt der Nachweis einer konkreten Verknüpfung der Verfolgungshandlungen der Taliban mit der schiitischen Religionszugehörigkeit des Klägers. Auch im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger mit Blick auf den Inhalt des Briefes lediglich davon gesprochen, dass die Taliban ihn bzw. seine Familie aufgefordert hätten, sie in ihrem Kampf gegen die Ungläubigen zu unterstützen.
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Auch eine asylrelevante Bedrohung aufgrund seiner politischen Überzeugung hat der Kläger nicht glaubhaft machen können. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) QRL insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 der Richtlinie genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Was unter einer Verfolgungshandlung zu verstehen ist, definieren Art. 9 Abs. 1 und 2 QRL, wobei nach Art. 9 Abs. 3 eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen bestehen muss.
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Soweit der Kläger diesbezüglich vorträgt, die Ablehnung der (finanziellen) Unterstützung der Taliban sei als politische Überzeugung anzusehen, so vermag dies nicht zu überzeugen. Zwar kann etwa die Ablehnung des „Djihad“ eine politische Überzeugung i.S.v. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) QRL darstellen (vgl. hierzu das seitens der Prozessbevollmächtigten des Klägers in Bezug genommene Urteil des VG Göttingen vom 04.12.2012 – 4 A 125/10, zu finden unter asyl.net). So liegt der Fall hier indes nicht. Die Flucht vor dem „Djihad“ – die seitens der Taliban als todeswürdiges Verbrechen angesehen wird – kann mit der Weigerung, die Taliban finanziell zu unterstützen, nicht ohne Weiteres gleichgesetzt werden. Dies gilt vorliegend jedenfalls deshalb, weil der Kläger die (finanzielle) Unterstützung der Taliban nicht ausdrücklich abgelehnt, sondern auf die Forderung der Taliban (lediglich) geflüchtet ist. Er hat die Konditorei bereits zwei Tage nach dem Erhalt des Erpresserbriefes geschlossen, um einige Monate später aus Afghanistan zu fliehen. Es ist vom Kläger nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass dieses Verhalten des Klägers zu weiteren Verfolgungshandlungen seitens der Taliban geführt hat, zumal auch der Vater des Klägers in der Vergangenheit mehrere Briefe erhalten hat, ohne dass dies (zunächst) mit konkreten Bedrohungen oder Nachstellungen seitens der Taliban verbunden gewesen wäre. Sofern Ziel des Erpresserbriefes die Vertreibung des Klägers bzw. seiner Familie zum Ziel gehabt haben sollte, so hätten die Taliban dieses Ziel mit der Flucht des Klägers erreicht. Soweit der Kläger sich gleichwohl in einer Bedrohungslage gesehen hat bzw. immer noch sieht, so ist dies letztlich auch auf entsprechende Äußerungen in seinem Bekanntenkreis zurückzuführen. Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt hat er hierzu angegeben, dass seine Bekannten die Vermutung geäußert hätten, dass er in Gefahr sei und das Land verlassen müsse. Von konkreten Bedrohungen oder Übergriffen seitens der Taliban hat der Kläger indes nichts berichtet. Soweit er das spurlose Verschwinden seines Vaters mit den Erpresserbriefen in Zusammenhang bringt, so handelt es sich auch insoweit um Spekulation. Welche Hintergründe das Verschwinden des Vaters wirklich hatte, lässt sich nicht sagen.
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Damit ist ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben. Insoweit erweist sich der angegriffene Bescheid als rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Demgegenüber hat die Klage mit dem hilfsweise geltend gemachten Begehren, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des angegriffenen Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt, Erfolg.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht um.
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Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S. von Art. 15 Buchst. c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 – juris).
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Kann ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zumindest im tatsächlichen Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat festgestellt werden, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weiter zu fragen, ob ihm dort infolgedessen auch eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt droht. Hierfür sind Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt bzw. zu der sogenannten Gefahrendichte erforderlich, d.h. (1.) eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und (2.) der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie (3.) eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Hierzu gehört auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (ausführlich: BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 32 ff.).
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Bei der Prüfung, ob dem Ausländer zumindest in seiner Herkunftsregion aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben droht, sind gegebenenfalls gefahrerhöhende persönliche Umstände zu berücksichtigen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Liegen hingegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Allerdings kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 18 ff.).
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Auf dieser Grundlage gestaltet sich die Situation in Afghanistan wie folgt:
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Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 09.02.2011, 10.01.2012 und 04.06.2013) finden in weiten Teilen des Landes mit Schwerpunkt Süden, Südwesten, Südosten, Osten und Teilen des Nordens gewalttätige Auseinandersetzungen statt. Die Lage ist weder sicher noch stabil. In den letzten Jahren war ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen. Dabei wird die Sicherheitslage in den einzelnen Regionen unterschiedlich dargestellt. Zwar heißt es im Bericht vom 04.06.2013, dass die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle im Berichtszeitraum (2012) im Vergleich zum Vorjahr leicht abgenommen habe. Insbesondere in den Herbst- und Wintermonaten sei eine weitere wetterbedingte Abschwächung der Kampfhandlungen zu beobachten gewesen. Andererseits finden sich Pressemitteilungen, wonach die internationalen Streitkräfte einen eigenen Bericht, wonach die Zahl der Angriffe der Taliban im Jahr 2012 zurückgegangen sei, korrigiert hätten. Laut neuen Angaben sei die Zahl gegenüber dem Vorjahr praktisch unverändert gewesen (BBC News vom 26.02.2013, zu finden unter http://www.bbc.co.uk/news/world-asia-21594010).
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Das Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) führt in einem Bericht vom April 2013 an, dass die Anzahl der von bewaffneten Oppositionsgruppen in den ersten 3 Monaten des Jahres 2013 verübten Angriffe im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 47 Prozent angestiegen ist. Nach Einschätzung des ANSO ist angesichts der Stabilität der saisonalen Konflikttrends (geringe Konfliktintensität im Winter und starker Anstieg im Sommer) davon auszugehen, dass die erneute Eskalation des Konflikts während der gesamten Saison anhält und die Gewalt im Jahr 2013 das zweithöchste Niveau nach 2010 erreicht. Die Anzahl der Angriffe bestätigt außerdem, dass der Rückgang der Gewalt im vergangenen Jahr kein Anzeichen einer dauerhaft verminderten Kampffähigkeit der bewaffneten Oppositionsgruppen gewesen ist. Vielmehr handelte es sich um eine operationelle Pause, die möglicherweise durch den strengen Winter 2011/12 bedingt war und mittlerweile beendet wurde. Das ANSO berichtet weiters, dass die bewaffneten Oppositionsgruppen weiterhin zunehmend afghanische Ziele angreifen. So haben in den ersten 3 Monaten des Jahres 2013 insgesamt 73 Prozent aller von den bewaffneten Oppositionsgruppen verursachten sicherheitsrelevanten Vorfälle auf die afghanischen Sicherheitskräfte abgezielt. Weitere 10 Prozent zielten auf Zivilisten, die mit der Regierung in Verbindung standen bzw. denen eine solche Verbindung vorgeworfen wurde (ANSO, April 2013, S. 9). In einem Bericht vom Juni 2013 erwähnt der UNO-Generalsekretär, dass im Zeitraum vom 16.02. bis 15.05.2013 insgesamt 4.267 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet wurden. Dies stellt einen 10-prozentigen Anstieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum dar. 70 Prozent der Vorfälle ereigneten sich im Süden, Südosten und Osten des Landes (UNGA, 13.06.2013, S. 5)
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Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) schreibt in ihrem Halbjahresbericht zum Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt vom Juli 2013, dass sie im Zeitraum von Januar bis Juni 2013 insgesamt 3.852 zivile Opfer (1.319 Tote und 2.533 Verletzte) dokumentiert hat und dies einen 23-prozentigen Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum darstellt. Für 74 Prozent der zivilen Opfer waren laut UNAMA regierungsfeindliche Elemente, für 9 Prozent regierungstreue Kräfte und für 12 Prozent Bodenkämpfe zwischen beiden Seiten verantwortlich. Die restlichen 4 Prozent konnten keiner Konfliktpartei zugeordnet werden. Die Hauptursachen für den Anstieg der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2013 waren die vermehrte willkürliche Verwendung von Spreng- und Brandvorrichtungen durch regierungsfeindliche Elemente sowie Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe an Orten, an denen sich Zivilisten aufhalten, darunter auch zivile Regierungsgebäude (UNAMA, Juli 2013, S. 1-2).
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Der afghanische Innenminister Umer Daudzai hat laut einem Anfang September 2013 veröffentlichten Artikel von AlertNet bekannt gegeben, dass seit März 2013 insgesamt 1.792 Polizisten getötet worden seien – die meisten durch am Straßenrand platzierte Bomben. Die gleiche Anzahl an Polizisten sei in den 12 vorangegangenen Monaten ums Leben gekommen (AlertNet, 02.09.2013).
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In einem im September 2013 erschienenen Bericht des UNO-Generalsekretärs wird erwähnt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die meisten Operationen durchführen und ihre Opferzahl deutlich angestiegen ist. Berichten zufolge wurden im zweiten Quartal des Jahres 2013 mehr als 3.500 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte bei Kampfhandlungen verletzt oder getötet. Am 01.07.2013 hat der afghanische Innenminister bekannt gegeben, dass zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 2013 insgesamt 299 Polizisten getötet wurden. Dabei handelt es sich um einen 22-prozentigen Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (UNGA, 6. September 2013, S. 5).
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Eine Analyse der Aktivitäten von Aufständischen seit Dezember 2012 habe eine Zunahme von größeren Angriffen der Taliban ergeben, bei denen strategisch wichtige Ortschaften vorübergehend besetzt worden seien. Es gebe Anzeichen für Verstärkung der Aktivitäten im Hinblick auf den Abzug ausländischer Truppen im Jahr 2014 (Ruttig, Thomas: After the ‘operational pause’: How big is the insurgents’ 2013 spring offensive?, 02.06.2013, veröffentlicht von AAN, verfügbar auf ecoi.net).
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Die Bewertung dieser Auskunftslage ergibt, dass in erheblichen Teilen Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ausgegangen werden muss. Die in diesem Rahmen stattfindenden Auseinandersetzungen sind als willkürliche Gewalt einzustufen. Hierbei ist es unerheblich, wie dieser Begriff zu verstehen ist (vgl. BVerwG vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 – juris Rn. 36; EuGH vom 17.02.2009 - Rs C-465/07 Abl. EU vom 18.04.2009 C 90/4 Rn. 35). Einerseits wird er verstanden als nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheidende unterschiedslose Angriffe sowie als Anschläge, die nicht auf die bekämpfte Konfliktpartei gerichtet sind, sondern die Zivilbevölkerung treffen sollen, ferner als Gewaltakte, bei denen die Mittel und Methoden in unverhältnismäßiger Weise die Zivilbevölkerung treffen. Nach anderer Ansicht soll das Merkmal der willkürlichen Gewalt definiert werden als wahllos stattfindende Gewalt gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität.
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Wie die genannten Auskünfte ergeben, halten sich die Konfliktparteien mit Ausnahme der internationalen Truppen nicht an die Regeln des humanitären Völkerrechts. Sie unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die unterschiedlichen Milizen sowie die Taliban suchen gerade nicht den Kampf mit den regulären Truppen. Vielmehr agieren sie z.B. mit Sprengstoffanschlägen gerade gegen die Zivilbevölkerung, um hier ihre Opfer zu finden. Zudem tarnen sie sich als Zivilisten und provozieren hierdurch Angriffe der Gegenseite, die als Folge auch Unschuldige treffen. Damit liegen unterschiedslose Angriffe vor. Die fehlende Zielgerichtetheit der Angriffe ergibt sich daraus, dass gerade Angriffe auf Zivilpersonen und humanitäre Organisationen ein allgemeines Klima der Angst hervorrufen sollen. Hierzu werden Attentate eingesetzt, die möglichst viele Opfer zur Folge haben sollen.
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Allerdings ist die Lage hinsichtlich der unterschiedlichen Provinzen differenziert zu sehen. Nicht in allen Teilen Afghanistans ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in diesem Sinne auszugehen, bei denen wahllos stattfindende Gewalt insbesondere die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht (bejahend: HessVGH vom 11.12.2008 - 8 A 611/08.A - juris für die Provinz Paktia; VG Kassel vom 01.07.2009 - 3 K 206/09.KS.A - juris für den Süden und Südosten des Landes; VG Ansbach vom 03.03.2011 - AN 11 K 10.30505 - juris für die Provinz Helmand; VG Augsburg vom 10.06.2011 - AU 6 K 10.30644 - juris für die Provinz Kandahar; VG Gießen vom 20.06.2011 - 2 K 499/11.GI.A, Asylmagazin 2011, 235 insbesondere für die Provinz Maidan-Wardak, aber auch allgemein für das ganze Land; VG Köln vom 24.01.2012 - 14 K 4279/10.A Asylmagazin 2012, 74 für die Provinz Kunar; verneinend: VG Osnabrück vom 16.06.2009 - 5 A 48/09 - juris für die Stadt Herat; VG Kassel vom 01.07.2009 - 3 K 206/09.KS.A - juris für den Großraum Kabul; VG des Saarlandes vom 26.11.2009 - 5 K 623/08 - juris für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 16.12.2009 - AN 11 K 09.30327 - juris für Stadt und Distrikt Kabul; VG Regensburg vom 15.04.2010 - RN 9 K 09.30075 - juris ohne regionale Differenzierung; BayVGH vom 03.02.2011 - 13a B 10.30394 - juris für die Provinzen Parwan und Kabul; VG Augsburg vom 24.02.2011 - AU 6 K 09.30134 - juris für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 04.08.2011 - AN 11 K 11.30262 - juris für die Provinz Herat; BayVGH vom 07.10.2011 - 13a ZB 11.30347 - juris für die Provinz Wardak; BayVGH vom 08.12.2011 - 13a B 11.30276 - juris für die Provinz Ghazni; BayVGH vom 20.01.2012 - 13a B 11.30427 - juris für die Provinz Kunar; BayVGH vom 20.01.2012 - 13a B 11.30425 - juris für die Zentralregion [Maydan-Wardak]; VGH Baden-Württemberg vom 06.03.2012 - A 11 S 3177/11 - juris für Kabul; BayVGH vom 15.03.2012 - 13a B 11.30438 - juris für die Provinz Kandahar).
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Auf der Grundlage dieser Auskunftslage unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung muss davon ausgegangen werden, dass in der Provinz Kandahar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, der jedenfalls für den Kläger zu einer erheblichen individuellen Gefahr führt.
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Die Provinz Kandahar liegt im Süden Afghanistans. Sie grenzt im Norden an die Provinz Uruzgan, im Nordwesten an Zabul, im Westen und Süden an Pakistan (Provinz Balochistan) und im Osten an die Provinz Helmand. Die Provinz umfasst ca. 54.000 km2 (fast doppelt so groß wie Brandenburg). Die Einwohnerzahl wird auf rund 1,11 Mio. Einwohner geschätzt (Central Statistics Organization, Afghanistan, „Settled Population by Province – 2010-11” aus http://cso.gov.af), von denen ca. ein Drittel in ländlichen Gebieten leben. In der Hauptstadt Kandahar leben rund 369.000 Einwohner (zweitgrößte Stadt nach Kabul).
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Kandahar galt seit je her als Hochburg der Taliban. Mullah Omar stammt aus Kandahar und hatte hier sein Hauptquartier. Die Stammesgesellschaft ist in Kandahar sehr ausgeprägt. Sicherheit und Ordnung liegen vielfach in Händen der Clanchefs, die entscheiden, ob sie die Anwesenheit von Taliban- oder Regierungstruppen in ihrem Gebiet zulassen. Die Ring-Road (Afghanistans Hauptverkehrsader) läuft durch drei Distrikte und bietet den Taliban sowohl Mobilität als auch Gelegenheiten zu Überfällen auf Militär- und Zivilkonvois. Durch die nördlichen Distrikte Ghorak, Khakrez, Shah Wali Kot und Miya Nishin laufen Transit- und Versorgungsrouten für Operationen der Aufständischen in den benachbarten Provinzen Helmand, Uruzgan und Zabul.
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Das Bundesamt ging in einem Informationspapier aus April 2009 zur Sicherheitslage in bestimmten Provinzen Afghanistans (Kabul, Herat, Kandahar, Balkh, Parwan, Ghazni, Paktia, Nangarhar, Laghman, Kunar, Uruzgan) vom 01.04.2009 davon aus, dass aufgrund der Vielzahl der Vorfälle vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Kandahar auszugehen ist (BAMF, Informationszentrum Asyl und Migration: Afghanistan, Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen (Kabul, Herat, Kandahar, Balkh, Parwan, Ghazni, Paktia, Nangarhar, Laghman, Kunar, Uruzgan), S. 43).
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ANSO stellt auf Seite 10 seines Vierteljahresberichts zur Sicherheitslage vom April 2013 (Berichtszeitraum Januar bis März 2013) eine Tabelle zur Verfügung, aus der hervorgeht, dass es im Berichtszeitraum in der Provinz Kandahar 188 sicherheitsrelevante Vorfälle gegeben habe, für die bewaffnete Oppositionsgruppen verantwortlich gewesen seien. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stelle dies einen 17-prozentigen Anstieg dar (ANSO, April 2013, S. 10). Auf einer im selben Bericht enthaltenen Landkarte ist die Provinz Ghazni als „extrem unsicher“ gekennzeichnet.
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In seinem Vierteljahresbericht zur Sicherheitslage vom Januar 2013 (Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2012) schreibt das ANSO, dass die Provinzen Kandahar, Nangarhar, Helmand, Khost, Kunar und Ghazni die am meisten umkämpften Gebiete im Jahr 2012 gewesen seien (ANSO, Januar 2013, S. 13). Laut einer im selben Bericht enthaltenen Tabelle ereigneten sich im Jahr 2012 insgesamt 2.065 sicherheitsrelevante Vorfälle in der Provinz Kandahar. Für 1.098 dieser Vorfälle seien bewaffnete Oppositionsgruppen, für 152 die internationalen Truppen und für 773 die afghanischen Sicherheitskräfte verantwortlich gewesen (ANSO, Januar 2013, S. 13). Weiter enthält der ANSO-Bericht eine Tabelle, aus der hervorgeht, dass die Anzahl der im Jahr 2012 von bewaffneten Oppositionsgruppen verübten Angriffe im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozent gesunken sei (von 1.290 auf 1.097) (ANSO, Januar 2013, S. 16).
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In seinem Länderbericht zu Terrorismus vom Mai 2013 (Berichtszeitraum 2012) erwähnt das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) in Zusammenhang mit terroristischen Angriffen im Jahr 2012, dass Helmand, Kandahar, Ghazni und Kunar die gefährlichsten Provinzen für die afghanischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen gewesen seien (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Allgemeine Sicherheitslage; 2) Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle in Ghazni, [a-8497], 14.08.2013, verfügbar auf ecoi.net).
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Auf dieser Grundlage ist anzunehmen, dass in der Provinz Kandahar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht (so z.B. auch VG Köln, Urteil vom 13.12.2011 - 14 K 4389/10 – juris; VG B-Stadt, Urteil vom 16.04.2013 – 7 K 4308/12 – juris – Rn. 18).
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Ob dieser bewaffnete Konflikt ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson bei einer Rückkehr nach Helmand allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein, ob also eine außergewöhnliche Situation vorliegt, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, kann im vorliegenden Fall dahinstehen. Zwar hat die (obergerichtliche) Rechtsprechung unter Auswertung der zur Verfügung stehenden Opferzahlen darauf hingewiesen, dass das Risiko, Opfer eines Anschlages in der Provinz Kandahar zu werden, lediglich ca. 1:1.200 oder 0,1% pro Jahr betrage (so etwa VG München, Urteil vom 04.04.2013 - M 12 K 12.30449 – juris unter Hinweis auf BayVGH, Urteil vom 15.03.2013 – 13a B 11.30438 – Rn 22). Auch das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen geht in einem Beschluss vom 28.03.2013 (13 A 1117/12.A – juris Rn. 21) davon aus, dass die statistische Gefahr, in der Provinz Kandahar bei einem Anschlag getötet zu werden, „erheblich unterhalb von 5 Promille“ liege.
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Zum einen sind diese Entscheidungen jedoch noch maßgeblich auf der für das Jahr 2012 geltenden Auskunftslage ergangen. Zum anderen ergibt sich im vorliegenden Fall eine Individualisierung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Klägers.
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Diese gefahrerhöhenden Umstände sind vorliegend zum einen in der schiitischen Religionszugehörigkeit des Klägers zu sehen, zugleich jedoch auch in dem Umstand, dass er sich in einem Lebensalter von 29 bzw. 30 Jahren befindet und aufgrund dieser Gesamtumstände von einem deutlich erhöhten Rekrutierungsinteresse der, wie dargelegt, nach wie vor in der Provinz Kandahar sehr präsenten Taliban auszugehen ist.
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Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Länderbericht vom April 2011 (Berichtsjahr 2010) in Bezug auf Hazara und andere Schiiten, dass diese in bestimmten Gebieten Afghanistans weiterhin von Diskriminierung in Form von Gelderpressung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung betroffen seien. Der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR) berichtet im Mai 2011, dass es in verschiedenen Gebieten Afghanistans zur Zwangsrekrutierung von Männern zwischen 18 und 40 Jahren durch „regierungsfeindliche Elemente“ („Anti Government Elements“) gekommen sei. In einigen Fällen hätten Älteste in Zusammenhang mit Mobilisierungstätigkeiten der Taliban Familien dazu gezwungen, einen Mann für „lashkar“ (Tradition, einen Mann im kampffähigen Alter zur Verfügung zu stellen) zur Verfügung zu stellen (zum Ganzen: ACCORD: Zwangsrekrutierung von erwachsenen Männern durch die Taliban [a-7895], 08.02.2012, verfügbar auf ecoi.net; Bundesasylamt, Rekrutierung durch die Taliban, 02.04.2012).
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Der UNHCR weist im Zusammenhang mit einem Bericht des Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) von Juli 2012 darauf hin, dass es neben der Anwendung und Androhung unmittelbarer Gewalt weitere Druckmittel gebe, um Personen zu drängen, sich den Taliban anzuschließen. Dazu würden die Verbreitung von Angst, Einschüchterungen und die Nutzung von Stammesmechanismen zählen (ACCORD: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Zwangsrekrutierung junger Afghanen durch die Taliban [a-8093-5 (8085)], 13.08.2012, verfügbar auf ecoi.net). In einer aktuellen Stellungnahme des UNHCR vom 16.08.2013 wird festgestellt, dass insbesondere Männer und Jungen im wehrfähigen Alter einer besonderen Verfolgungsgefahr ausgesetzt seien, da diese häufig als Kämpfer rekrutiert würden. Dabei werde auch auf Zwangsrekrutierungen zurückgegriffen. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge dem Risiko ausgesetzt, als vermeintliche Regierungsspione getötet oder auf andere Weise bestraft zu werden (UNHCR-Stellungnahme zu Fragen der potentiellen Rückkehrgefährdung von jungen männlichen afghanischen Staatsangehörigen, 16.08.2013).
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Mit Blick darauf, dass der Kläger in seiner Heimatprovinz Kandahar bereits ins Visier der Taliban geraten ist, liegt es für den Einzelrichter auf der Hand, dass im Fall seiner Rückkehr ein besonderes Rekrutierungsinteresse seitens der Taliban bestehen wird, zumal der Betroffene keine familiären Verpflichtungen zu erfüllen hat und er aufgrund seiner schiitischen Religionszugehörigkeit ein erhöhtes Misstrauen gegenüber dieser Person seitens der Taliban besteht. Was die besondere Gefährdungslage von Afghanen schiitischer Glaubenszugehörigkeit anbelangt, so berichtet das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 04.06.2013 zwar davon, dass Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten im Alltagsleben in Afghanistan selten seien. Allerdings heißt es in diesem Bericht ebenfalls, dass zum Schiitischen Aschura-Fest am 06.12.2011 eine der schwersten Anschlagsserien der letzten Jahre stattgefunden habe. In Kabul, Masar-e-Scharif und Kandahar seien bei Angriffen auf schiitische religiöse Stätten etwa 60 Menschen gestorben, ca. 200 seien verletzt worden. Auch in den aktuellen Richtlinien des UNHCR zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von afghanischen Asylsuchenden vom 06.08.2013 wird davon berichtet, dass Diskriminierungen schiitischer Glaubenszugehöriger zugenommen hätten, wobei der Umfang der Diskriminierungen von Region zu Region unterschiedlich sei (UNHRC, a.a.O., S. 45 Fn. 276). Diese Auskunftslage deckt sich mit den Angaben des Klägers zur Gefährdungslage von Schiiten in der Stadt Kandahar. Danach wird die Minderheit der schiitischen Glaubensbrüder als fremd und andersartig betrachtet.
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Der Kläger hat auch keine interne Schutzmöglichkeit. In Betracht käme hier lediglich der Großraum Kabul.
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Nach Art. 8 Abs. 1 QRL können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Zur Frage, wann von dem Ausländer „vernünftigerweise erwartet werden kann“, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhält, verweist das Bundesverwaltungsgericht auf die Begründung zum Regierungsentwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes (BT-Drs. 16/5065 S. 185). Hier wird ausgeführt, dass dies dann der Fall sei, wenn der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinde, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet sei. Ausdrücklich offen gelassen wurde, welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen. Allerdings spreche einiges dafür, dass die gemäß Art. 8 Abs. 2 QRL zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftslandes -oberhalb (Hervorhebung durch den Einzelrichter) der Schwelle des Existenzminimums - auch den Zumutbarkeitsmaßstab prägen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 20). Nach diesen Grundsätzen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen eine wirtschaftliche Lebensgrundlage etwa dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen können (hierzu ausführlich: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.03.2012 – A 11 S 3070/11 – juris).
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Auf dieser Grundlage stellt sich die Situation in Afghanistan, insbesondere im Großraum Kabul, wie folgt dar:
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Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Das Auswärtige Amt teilt in seinen Lageberichten zu Afghanistan vom 10.01.2012 und 04.06.2013 mit, dass der Staat, einer der ärmsten der Welt, in extremem Maß von Geberunterstützung abhängig sei. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gelte dies naturgemäß verstärkt. Eine hohe Arbeitslosigkeit werde verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Die aus Konflikt und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten des Landes hätten zur Folge, dass ca. 1 Mio. oder 29,5% aller Kinder als akut unterernährt gelten. Problematisch bleibe die Lage der Menschen insbesondere in den ländlichen Gebieten des zentralen Hochlands. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in Städten sei nach wie vor schwierig. Die medizinische Versorgung sei - trotz erkennbarer Verbesserungen - immer noch unzureichend. Rund 36% der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze und die Analphabetenrate liege bei 70%. Auch das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar.
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Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung (Juni 2013, S. 20 ff.) weist darauf hin, dass weitere Herausforderungen für die Wirtschaftsentwicklung in Afghanistan im hohen Konsum durch die internationale Gemeinschaft zu sehen seien, der sich im Zuge des Truppenabzugs stark verringern werde, während das natürliche Binnenwachstum vergleichsweise schwach bleiben werde. Hinzu komme im regionalen Vergleich das – durch die internationale Präsenz verursachte – hohe Lohnniveau bei gleichzeitiger Abwertung der Währungen der Nachbarstaaten. Dieser Wettbewerbsnachteil werde durch geringe Investitionen in mangelhafte Produktionsstätten, schlecht ausgebildete Arbeitskräfte, korruptionsanfällige Verwaltung sowie fehlende Voraussetzungen zur besseren Nutzung des agrarischen Charakters der afghanischen Wirtschaft (Zertifizierungssysteme, Verpackungsindustrie, Kühlketten) verschärft.
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Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 23.08.2011, S. 19 f.; Update vom 03.09.2012, S. 19 f., 21) sieht mangels sozialer Sicherungssysteme für eine sichere und wirtschaftliche Existenz eines Rückkehrers ein gutes Familiennetz und zuverlässige Stammes- und Dorfstrukturen als wichtigste Voraussetzung an. Die vorhandene medizinische Versorgung wird als völlig unzureichend eingestuft. Weite Teile der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Viele Menschen würden sterben, weil sie auf dem Weg zu Gesundheitseinrichtungen an Checkpoints lange aufgehalten würden. In Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, würde etwa ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Aufgrund der andauernden Gewalt, der politischen Instabilität sowie der extremen Armut und den zahlreichen Naturkatastrophen befinde sich das Land in einer humanitären Notlage. Die Arbeitslosenrate betrage rund 40%. Die durch die Landflucht rasant angewachsene städtische Bevölkerung, die vielen durch den Krieg zerstörten Wohngegenden sowie internationale Organisationen, welche horrende Mieten bezahlen können, haben die Mietpreise in Kabul stark in die Höhe getrieben. Über 40 Prozent der Rückkehrenden konnten sich in ihren Heimatorten nicht integrieren, und zahlreiche Flüchtlinge waren nach ihrer Rückkehr auf Unterstützung angewiesen. Für Rückkehrende ist es oft unmöglich, ihr Land zurückzufordern und zudem schwierig, ohne soziales und wirtschaftliches Netzwerk eine Arbeitsstelle zu finden.
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Dr. Mostafa Danesch berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010), dass alleinstehende Rückkehrer in Afghanistan keinerlei Aussicht haben, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Ein soziales Netz in Form der Großfamilie ist überlebensnotwendig.
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Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass Personen ohne familiäre oder verwandtschaftliche Strukturen bzw. ohne soziales Netzwerk und mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kindern, Familien und Personen mit besonderen ethischen oder religiösen Merkmalen in der Regel keine Möglichkeit haben, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen.
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Dies zugrunde gelegt, muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger keine Möglichkeit hat, sich im Großraum Kabul eine neue - wenn auch kümmerliche - Existenz aufzubauen. Er hat nachvollziehbar vorgetragen, dass er im Großraum Kabul nicht auf verwandtschaftliche Strukturen zurückgreifen kann. Sein einziger Verwandter ist sein in Kandahar lebender Onkel, der ihm bei der Gründung einer eigenen Existenz in der Millionenstadt Kabul kaum behilflich sein kann. Zwar war der Kläger bereits als Lebensmittelverkäufer tätig. Allerdings hat er dieses Geschäft nicht selbständig aufgebaut, sondern war lediglich als Angestellter tätig. Er ist auch Zeit seines Lebens in Kandahar gewesen. Mit den gesellschaftlichen und örtlichen Strukturen in Kabul ist er daher nicht vertraut. Seine finanziellen Mittel sind aufgebraucht. Erschwerend kommt seine schiitische Religionszugehörigkeit hinzu. Aufgrund des Eindrucks, den das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, ist zudem davon auszugehen, dass der Kläger nicht die Energie aufzubringen vermag, um in Kabul ohne familiäre Unterstützung eine eigene Existenz aufzubauen.
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Hieraus ergibt sich, dass der Kläger für sich geltend machen kann, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 AufenthG und nach § 60 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sind nicht erkennbar.
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Da es sich bei dem unionsrechtlichen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7Satz 2 AufenthG als auch bei dem nationalen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG sich jeweils um einen Streitgegenstand handelt, ist wegen der Feststellung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Feststellung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen, aufzuheben.
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Nach § 34 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist in der Abschiebungsandrohung der Staat zu bezeichnen, in den der Schutzsuchende nicht abgeschoben werden darf, wenn ein Abschiebungsverbot besteht. Daraus folgt, dass die positive Bezeichnung des fraglichen Staates als Zielstaat in der Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist und zwar - wie Satz 3 dieser Vorschrift zeigt - auch dann, wenn das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes feststellt. Dann bleibt zwar die Abschiebungsandrohung nach Satz 3 dieser Vorschrift im Übrigen unberührt, die Zielstaatsbezeichnung ist aber als rechtswidrig aufzuheben. Wann ein Schutzsuchender i.S. von § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht in einen bestimmten Zielstaat abgeschoben werden darf, ist den Bestimmungen über die zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 2 bis Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zu entnehmen. Bei den sog. zwingenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 5 und Abs. 7 Satz 2 führt eine positive Entscheidung über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich eines Staates demnach zur Rechtswidrigkeit der Zielstaatsbezeichnung dieses Staates in der Abschiebungsandrohung (BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8.07 – juris).
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Nach diesen Grundsätzen ist hier wegen der vorgenannten Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die im angefochtenen Bescheid unter Ziffer 4 erfolgte Zielstaatsbezeichnung Afghanistan in der Abschiebungsandrohung aufzuheben.
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Nach alledem ist der Klage teilweise stattzugeben, im Übrigen ist sie abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.
(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.
(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
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Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.