Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss, 20. Feb. 2014 - 2 A 1599/13
Gericht
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000,- € festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die von der Klägerin vorgebrachten, für die Prüfung maßgeblichen Einwände (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO) begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
4Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird. Sie sind (nur) begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt.
5Derartige Zweifel weckt das Antragsvorbringen nicht.
6Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Antrag,
7die der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung vom 5. Juli 2012 aufzuheben,
8im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die Baugenehmigung verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin habe keinen Gebietsgewährleistungsanspruch. Das genehmigte Vorhaben sei ihr gegenüber nicht rücksichtslos. Die Klägerin könne nicht geltend machen, dass das Vorhaben ihrem Grundstück gegenüber die nach § 6 BauO NRW erforderliche Abstandfläche nicht einhalte.
9Die dagegen von der Klägerin erhobenen Einwände haben keinen Erfolg.
10Der Zulassungsantrag zeigt nicht auf, dass der Klägerin ein Gebietsgewährleistungsanspruch zusteht.
11Die für die Beurteilung des Gebietscharakters maßgebliche nähere Umgebung eines Grundstücks wird dadurch ermittelt, dass in zwei Richtungen, nämlich in Richtung vom Vorhaben auf die Umgebung und in Richtung von der Umgebung auf das Vorhaben geprüft wird, wie weit die jeweiligen Auswirkungen reichen. Zu berücksichtigen ist die Umgebung einmal insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und zweitens insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Bei der Ermittlung der näheren Umgebung ist die Betrachtung auf das Wesentliche zurückzuführen und sind Fremdkörper und Ausnahmen außer Acht zu lassen, solange beispielsweise die erkennbaren „Grundzüge der Planung“ durch sie nicht berührt werden. Bei der für die Prüfung erforderlichen Bestandsaufnahme ist grundsätzlich alles tatsächlich Vorhandene in den Blick zu nehmen. Die Grenzen der näheren Umgebung sind nicht schematisch, sondern nach der jeweiligen städtebaulichen Situation zu bestimmen. Es darf aber nicht nur diejenige Bebauung als erheblich angesehen werden, die gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft des Baugrundstücks überwiegt, sondern es muss auch die Bebauung der weiteren Umgebung des Grundstücks insoweit berücksichtigt werden, als auch sie noch „prägend“ auf dasselbe einwirkt. Wie weit die wechselseitige Prägung - und damit die „nähere Umgebung“ - reicht, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls.
12Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 11. Februar 2000 - 4 B 1.00 -, BRS 63 Nr. 102 = juris Rn. 34 und 44, und vom 20. August 1998 - 4 B 79.98 -, BRS 60 Nr. 176 = juris Rn. 7 f.; OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 2013 - 2 A 3010/11 -, BauR 2013, 1817 = juris Rn. 77.
13An diesem Maßstab gemessen ist offensichtlich, dass das Verwaltungsgericht hinsichtlich der gebietsprägenden maßgebenden näheren Umgebung nicht allein auf die Bebauung an der W.-straße abstellen musste. Dem Verwaltungsgericht, das die Örtlichkeit im Rahmen eines Ortstermins am 4. Juni 2013 in Augenschein genommen hat, ist anhand der verfügbaren Karten und Luftbilder darin zuzustimmen, dass mindestens auch noch die Bebauung an den nächsten kreuzenden Querstraßen in den Blick zu nehmen ist. Andernfalls würde der Gebietsrahmen in dem hier in Rede stehenden dicht bebauten innerstädtischen Bereich ohne ersichtlichen Grund zu eng gezogen. Städtebauliche Zäsuren, die eine andere Betrachtungsweise gebieten würden, legt der Zulassungsantrag nicht dar. Auch Baulichkeiten mit einer anderen Nutzungsstruktur oder Größe können das streitige Nachbarverhältnis nach der jeweiligen städtebaulichen Situation prägen. Gerade wegen deren Verkehrsfunktion strahlen die Nutzungen entlang der C.-Straße in die umliegenden Quartiere - die Bebauung an der von ihr abzweigenden W.-straße eingeschlossen - ab. Soweit sich in der W.-straße etliche freiberufliche Nutzungen entwickelt haben, sind diese im Zusammenhang mit den großen Verwaltungsgebäuden - u. a. des ehemaligen Kreishauses in der C.-Straße 92 - zu sehen, welche die Umgebung westlich und östlich von ihr entscheidend prägen. Von einem allgemeinen Wohngebiet kann daher keine Rede sein. Warum von dieser - richtigen - Prämisse aus eine Erweiterung des ehemaligen Kreishauses unter Gebietsgewährleistungsgesichtspunkten nicht möglich sein soll, erklärt der Zulassungsantrag nicht.
14Der Zulassungsantrag macht im Weiteren nicht deutlich, dass die Klägerin sich erfolgreich auf einen Verstoß gegen § 6 BauO NRW zu ihren Lasten berufen kann.
15Wie das Verwaltungsgericht - und zuvor auch der beschließende Senat in seinem Beschluss vom 30. August 2012 - 2 B 983/12 -, juris Rn. 14 ff. - ausgeführt haben, hindert ein eigener Abstandflächenverstoß den dadurch begünstigten Eigentümer zwar nicht schlechthin daran, die Baurechtswidrigkeit eines nachbarlichen Vorhabens unter dem Aspekt des Abstandflächenrechts anzugreifen. Aus dem auch im öffentlichen Baurecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben ist jedoch abzuleiten, dass in einer derartigen Situation nur solche Rechtsverstöße abgewehrt werden können, die den Eigentümer stärker beeinträchtigen als sein eigener Rechtsverstoß das Nachbargrundstück beeinträchtigt. Für die Vergleichbarkeit der Verstöße ist neben dem Grenzverlauf auch die Qualität der beeinträchtigten Belange unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalls von Bedeutung.
16Vgl. nochmals auch OVG NRW, Beschluss vom 16. März 2012 - 2 B 197/12 -, S. 13 des amtlichen Umdrucks, m. w. N.
17Für die Bewertung des Gewichts des Abstandflächenverstoßes ist demnach in erster Linie die Beeinträchtigung der durch die Abstandflächenvorschriften geschützten nachbarlichen Belange des Brandschutzes, der Belichtung, der Belüftung und der Besonnung des Nachbargrundstücks sowie der Wahrung eines ausreichenden Sozialabstands in den Blick zu nehmen. Das Gewicht eines Abstandflächenverstoßes bestimmt sich außerdem primär nach dem Ausmaß, in dem die jeweils erforderliche Abstandfläche zu Lasten des Nachbarn nicht eingehalten wird. Andere „qualitative“ Parameter wie First- und Traufhöhen, Länge, Breite, Grundfläche, Geschossfläche und Erscheinungsbild des geplanten Gebäudes sowie eine etwaige intensivere bauliche Ausnutzung des Nachbargrundstücks spielen hingegen entweder bei der Bemessung der Abstandfläche keine Rolle oder gehen in dieser Bemessung auf.
18Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2010 - 7 B 1840/09 -, juris Rn. 14.
19Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht argumentiert, auf die abstandflächenrechtlich beachtlichen Nachbarbelange wirke sich das Vorhaben der Beigeladenen nicht intensiver aus als das vorhandene Gebäude der Klägerin. Im grenznahen Bereich verfügten die Gebäude über fast die gleiche Bautiefe und Wandhöhe sowie einen ähnlichen Grenzabstand. Beide Gebäude wiesen in der Grenzwand keine Fensteröffnungen auf, so dass eine Verschlechterung der Besonnung, Belichtung oder Belüftung nicht zu befürchten sei. Auf die von der Klägerin angeführte Massigkeit des Vorhabens und seine straßenbildprägende Wirkung komme es nicht an.
20Dem setzt der Zulassungsantrag nichts Erhebliches entgegen. Daraus, dass sich die Klägerin bei der Errichtung ihres Neubaus in jeder Hinsicht - auch im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung - an die vorhandene Bebauung in der W.-straße habe halten müssen, ergibt sich nicht, dass die Abstandflächenverstöße nicht vergleichbar sind. Auch mit dem Hinweis auf die nach Auffassung der Klägerin gegebene Wechselwirkung bzw. das entstandene Austauschverhältnis der Gebäude an der W.‑straße geht der Zulassungsantrag auf die spezifisch an abstandflächenrechtlichen Kriterien ausgerichtete Gedankenführung des Verwaltungsgerichts nicht ein.
21Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
22Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
23Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
24Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.
(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,
- 1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen, - 2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist, - 3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, innerhalb dieser Frist Rechtsmittelanträge nicht eingereicht, ist die Beschwer maßgebend.
(2) Der Streitwert ist durch den Wert des Streitgegenstands des ersten Rechtszugs begrenzt. Das gilt nicht, soweit der Streitgegenstand erweitert wird.
(3) Im Verfahren über den Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels und im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung des Rechtsmittels ist Streitwert der für das Rechtsmittelverfahren maßgebende Wert.
(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.
(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.
(1) Über Erinnerungen des Kostenschuldners und der Staatskasse gegen den Kostenansatz entscheidet das Gericht, bei dem die Kosten angesetzt sind. Sind die Kosten bei der Staatsanwaltschaft angesetzt, ist das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig. War das Verfahren im ersten Rechtszug bei mehreren Gerichten anhängig, ist das Gericht, bei dem es zuletzt anhängig war, auch insoweit zuständig, als Kosten bei den anderen Gerichten angesetzt worden sind. Soweit sich die Erinnerung gegen den Ansatz der Auslagen des erstinstanzlichen Musterverfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz richtet, entscheidet hierüber das für die Durchführung des Musterverfahrens zuständige Oberlandesgericht.
(2) Gegen die Entscheidung über die Erinnerung findet die Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro übersteigt. Die Beschwerde ist auch zulässig, wenn sie das Gericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage in dem Beschluss zulässt.
(3) Soweit das Gericht die Beschwerde für zulässig und begründet hält, hat es ihr abzuhelfen; im Übrigen ist die Beschwerde unverzüglich dem Beschwerdegericht vorzulegen. Beschwerdegericht ist das nächsthöhere Gericht. Eine Beschwerde an einen obersten Gerichtshof des Bundes findet nicht statt. Das Beschwerdegericht ist an die Zulassung der Beschwerde gebunden; die Nichtzulassung ist unanfechtbar.
(4) Die weitere Beschwerde ist nur zulässig, wenn das Landgericht als Beschwerdegericht entschieden und sie wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage in dem Beschluss zugelassen hat. Sie kann nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Verletzung des Rechts beruht; die §§ 546 und 547 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Über die weitere Beschwerde entscheidet das Oberlandesgericht. Absatz 3 Satz 1 und 4 gilt entsprechend.
(5) Anträge und Erklärungen können ohne Mitwirkung eines Bevollmächtigten schriftlich eingereicht oder zu Protokoll der Geschäftsstelle abgegeben werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend. Für die Bevollmächtigung gelten die Regelungen der für das zugrunde liegende Verfahren geltenden Verfahrensordnung entsprechend. Die Erinnerung ist bei dem Gericht einzulegen, das für die Entscheidung über die Erinnerung zuständig ist. Die Erinnerung kann auch bei der Staatsanwaltschaft eingelegt werden, wenn die Kosten bei dieser angesetzt worden sind. Die Beschwerde ist bei dem Gericht einzulegen, dessen Entscheidung angefochten wird.
(6) Das Gericht entscheidet über die Erinnerung durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter; dies gilt auch für die Beschwerde, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen wurde. Der Einzelrichter überträgt das Verfahren der Kammer oder dem Senat, wenn die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Das Gericht entscheidet jedoch immer ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter. Auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden.
(7) Erinnerung und Beschwerde haben keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht oder das Beschwerdegericht kann auf Antrag oder von Amts wegen die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen; ist nicht der Einzelrichter zur Entscheidung berufen, entscheidet der Vorsitzende des Gerichts.
(8) Die Verfahren sind gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.