Oberlandesgericht Rostock Beschluss, 23. Feb. 2016 - 20 Ws 36/16
Gericht
Tenor
1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse, § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.
Gründe
I.
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Die Beschwerde des Nebenklägers W. P. aus Boulder/Colorado (USA) richtet sich gegen den Beschluss der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Neubrandenburg vom 18.02.2016, mit dem diese die mit Beschluss des Senats vom 27.11.2015 - 20 Ws 192/15 - festgestellte Anschlussberechtigung des Beschwerdeführers als Nebenkläger widerrufen hat. Die Schwurgerichtskammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
- 2
Mit Anklageschrift vom 23.02.2015 wirft die Staatsanwaltschaft Schwerin dem Angeklagte Beihilfe zum Mord in mindestens 3681 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen vor, indem er in der Zeit vom 15.08. bis zum 14.09.1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau durch seine Tätigkeit als Sanitäter und Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel das arbeitsteilige Lagergeschehen als Ganzes und insbesondere den ihm bekannten Ablauf der dort vorgenommenen Massentötungen unterstützt und gefördert habe. Mit Beschluss vom 27.11.2015 hat der Senat die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor der dortigen Schwurgerichtskammer eröffnet. Zugleich hat der Senat die Berechtigung des Beschwerdeführers festgestellt, sich dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen. Bei ihm handelt es sich um den Sohn der R. P., die nach seinen glaubhaften Angaben sofort nach ihrer Ankunft in Birkenau am 15.08.1944 getötet wurde.
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Die Schwurgerichtskammer hat den Widerruf der Anschlussberechtigung im Wesentlichen mit der Erwägung begründet, dass eine Verurteilung des Angeklagten wegen der Tötung der Mutter des Nebenklägers nicht möglich sei, weil diese Tat weder als Einzeltat noch als Handlungseinheit von der Anklageschrift erfasst werde. Im Anschluss an höchstrichterliche Rechtsprechung aus dem Jahr 1969 vertritt die Kammer die Auffassung, entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft und des Senates könne nicht von einer in dem angeklagten Zeitraum begangenen "einheitlichen Beihilfehandlung" ausgegangen werden. Dementsprechend könne das Vernichtungsgeschehen in den genannten Zeitraum auch nicht als eine (einzige) Haupttat angesehen werden. Eine solche Sichtweise lasse außer Betracht, dass "Massentötungen aus den verschiedensten Beweggründen erfolgen können und erfolgt sind". Gerade auch bei den hier in Rede stehenden Tötungsverbrechen hebe sich jede Tötungshandlung gegenüber einem bestimmten Menschen von der Tötung eines anderen Menschen soweit ab, dass sie auch "bei natürlicher Auffassung trotz eines zeitlich und örtlich engen Zusammenhangs nicht zu einer Tat verbunden werden“ könne. Allenfalls einzelne "Transporte" seien zu einer "natürlichen Handlungseinheit" zusammenzufassen (BA S. 2). In einer Hilfserwägung führt der angefochtene Beschluss aus (BA S. 3), selbst bei Annahme einer einzigen Haupttat und einer einheitlichen Beihilfehandlung müsse dies zum Strafklageverbrauch führen, weil der Angeklagte "wegen seiner Tätigkeit in Auschwitz" in der Zeit von Oktober 1943 bis Januar 1944 bereits verurteilt worden sei (gemeint ist offenbar die Verurteilung des Angeklagten durch das Bezirksgericht Krakau zu einer 4-jährigen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 1948).
II.
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Die statthafte und zulässige Beschwerde des Nebenklägers hat Erfolg.
1.
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Das Institut der Nebenklage verschafft einem als besonders schutzwürdig angesehenen Personenkreis ab Erhebung der öffentlichen Klage eine umfassende Beteiligungsbefugnis im gesamten Verfahren. Dementsprechend ist ohne Bedeutung, ob die Staatsanwaltschaft ihre rechtliche Beurteilung auf das Nebenklagedelikt stützt oder dies wenigstens in ihre Beurteilung einbezogen hat. Entscheidend für die Nebenklagebefugnis ist allein die - wenn auch ggf. nur geringe - Möglichkeit, dass der Beschuldigte eine nebenklagefähige Katalogtat begangen, d.h. materiell-rechtlich verwirklicht hat, wenn auch in Tateinheit oder in Gesetzeskonkurrenz oder bei einer prozessualen Tat i.S.d. § 264 StPO. Unerheblich ist demgemäß, ob das Nebenklagedelikt in der Anklage genannt wird, wenn nur eine Verurteilung wegen dieses Delikts in Betracht kommt (vgl. dazu LR-Hilger, StPO, 26. Auflage § 395 Rz. 13; KK-Senge, StPO, 7. Auflage § 396 Rz. 5; Meyer-Goßner, StPO, 58. Auflage § 396 Rz. 10, jeweils m.w.N.).
2.
- 6
Gemessen daran ist die Nebenklagebefugnis des Beschwerdeführers (weiterhin) gegeben. Sie folgt aus der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Schwerin vom 23.02.2015 und der darin zutreffend vorgenommenen umfassenden Würdigung der Sach- und Rechtslage, die sich seit der Feststellung der Anschlussberechtigung durch den Senat auch nicht geändert hat. Die Schwurgerichtskammer - die im Übrigen keinen entsprechenden rechtlichen Hinweis gemäß § 265 StPO erteilt hat - kommt im angefochtenen Beschluss - außerhalb der Hauptverhandlung in der dann vorgesehenen Gerichtsbesetzung - lediglich aufgrund einer anderen rechtlichen Bewertung des angeklagten Sachverhalts zu einer abweichenden Beurteilung der Anschlussberechtigung des Beschwerdeführers. Dies allein rechtfertigt, weil die Möglichkeit der Begehung eines nebenklagefähigen Delikts mitnichten ausschließend, den Widerruf schon nicht und gebietet die Aufrechterhaltung der Nebenklägerstellung des Beschwerdeführers.
3.
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Der Senat konnte von daher offenlassen, ob die in dem angefochtenen Beschluss vertretene Rechtsauffassung im Ergebnis und von der Begründung her haltbar ist.
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Sie enthält ihrerseits zwar ebenfalls vertretbare Ansätze, lässt aber außer Betracht, dass dem Angeklagten hier nicht zur Last gelegt wird, zu einigen Einzeltaten einen individuellen, allein diese Einzeltaten fördernden Tatbeitrag erbracht zu haben, sondern während seiner Anwesenheit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau durch seine dortige Tätigkeit zu sämtlichen in diesem Zeitraum begangenen Haupttaten Beihilfe geleistet zu haben. Auf einzelne Transporte (Deportationszüge) kann es mithin nicht ankommen, zumal der Angeklagte an diesen Transporten ersichtlich nicht selbst beteiligt war. Dementsprechend ist auch die in dem angefochtenen Beschluss problematisierte und verneinte Frage, ob der Deportationszug vom 15.08.1944, mit dem die Mutter des Nebenklägers nach Birkenau verbracht worden war, und ihre anschließende Ermordung von der Kognitionspflicht der Kammer erfasst werden, nicht entscheidungserheblich. Maßgeblich ist allein, dass der Angeklagte in einem bestimmten, von der Anklage erfassten Zeitraum seinen Dienst in Auschwitz-Birkenau verrichtet hat und die Mutter des Nebenklägers in diesem Zeitraum dort ermordet worden ist. In welchem Umfang - und mit welchen rechtlichen Konsequenzen - der Tatbeitrag des Angeklagten diesen einzelnen Mord tatsächlich gefördert hat, kann und muss dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben. Für die Zulassung der Nebenklage kommt es lediglich darauf an, dass dies möglich ist. Das ist hier der Fall.
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Der Senat verweist im Übrigen auf die unlängst ergangenen Entscheidungen des Landgerichts Lüneburg (Urteil vom 15.07.2015 - 27 Ks 9/14 - Gröning) sowie des Landgerichts Hanau (Eröffnungsbeschluss vom 04.02.2016 - 2 KLs 17/15), die mit beachtlichen Erwägungen die in vorliegender Sache in der zugelassenen Anklage vertretenen Rechtsauffassungen zu stützen geeignet sind und die dem Schwurgericht bei Abfassung des angefochtenen Beschlusses offenbar noch nicht vorlagen.
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Nur der Vollständigkeit halber sei ferner darauf hingewiesen, dass dem deutschen Strafrecht - nämlich in Gestalt des § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB (bzw. § 220a Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F.) - Völkermord - ein „Kollektivlebensschutz“ nicht fremd ist. Bei dieser Vorschrift handelt es sich - anders als bei den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten - nicht um eine dem Individualrechtsgüterschutz dienende Strafnorm. Sie schützt vielmehr die soziale Existenz der verfolgten Gruppe als überindividuelles Rechtsgut und erfasst auch objektiv ein mehrfaches Handeln zum Nachteil derselben Gruppe, weshalb jedenfalls dann, wenn sich die tatbestandlichen Handlungen gegen dieselbe Gruppe richten und innerhalb eines einheitlichen örtlichen und zeitlichen Lebenssachverhalt begangen wurden, eine Tat im Rechtssinne gegeben ist (BGH, Urteil vom 30. April 1999, Az.: 3 StR 215/98, BGHSt 45, 65-91; OLG Frankfurt, Urteil vom 18.02.2014, Az.: 5 - 3 StE 4/10 - juris -; jeweils m. w. N.). Auch wenn diese Strafnorm im vorliegenden Verfahren keine Anwendung findet (Art. 103 Abs. 2 GG), kann der dahinter stehende Rechtsgedanke nach Ansicht des Senats bei der Frage, ob „Massenverbrechen“ auch ohne nähere Individualisierung einzelner Taten oder Tatkomplexe eine Tat im prozessualen Sinne gemäß § 264 StPO bilden können, durchaus herangezogen werden. Die These, „Massenverbrechen seien dem StGB fremd“, kann im Lichte der genannten Vorschriften jedenfalls keine Geltung mehr beanspruchen.
4.
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Die „Hilfserwägung“ der Kammer verfängt jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt. Strafklageverbrauch kann bei Annahme einer einheitlichen Haupttat (fortlaufende millionenfache Tötung von Menschen in Auschwitz-Birkenau) schon deshalb nicht eingetreten sein, weil der einheitlichen Haupttat keine einheitliche Beihilfehandlung des Angeklagten gegenübersteht. Der Anklagte war nach dem Ergebnis der Ermittlungen in zwei verschiedenen, länger unterbrochenen Zeiträumen in diesem Vernichtungslager tätig. Das Urteil des Bezirksgerichts Krakau bezieht sich auf den Zeitraum von Oktober 1943 bis Januar 1944, während im vorliegenden Verfahren der Zeitraum vom 15. August bis zum 14. September 1944 Gegenstand der Anklage ist.
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Annotations
(1) Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last.
(2) Die Kosten des Verfahrens, die der Angeschuldigte durch eine schuldhafte Säumnis verursacht hat, werden ihm auferlegt. Die ihm insoweit entstandenen Auslagen werden der Staatskasse nicht auferlegt.
(3) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn der Angeschuldigte die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er in einer Selbstanzeige vorgetäuscht hat, die ihm zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Das Gericht kann davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er
- 1.
die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat, oder - 2.
wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.
(4) Stellt das Gericht das Verfahren nach einer Vorschrift ein, die dies nach seinem Ermessen zuläßt, so kann es davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen.
(5) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn das Verfahren nach vorangegangener vorläufiger Einstellung (§ 153a) endgültig eingestellt wird.
(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.
(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn
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sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßnahme oder die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen, - 2.
das Gericht von einer in der Verhandlung mitgeteilten vorläufigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage abweichen will oder - 3.
der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist.
(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den in Absatz 2 Nummer 1 bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.
(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.
(1) Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,
- 1.
ein Mitglied der Gruppe tötet, - 2.
einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt, - 3.
die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, - 4.
Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen, - 5.
ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt,
(2) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 bis 5 ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.