Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 19. März 2014 - 2 Ws 98/14

bei uns veröffentlicht am19.03.2014

Gericht

Oberlandesgericht Nürnberg

Tenor

I.

Dem Europäischen Gerichtshof werden gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens insoweit mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar, als er das Verbot der Doppelverfolgung unter die Bedingung stellt, dass im Falle einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann?

2. Ist die genannte Bedingung des Art. 54 SDÜ auch dann erfüllt, wenn nur ein Teil (hier: Geldstrafe) der im Urteilsstaat verhängten, aus zwei selbstständigen Teilen (hier: Freiheits- und Geldstrafe) bestehenden Sanktion vollstreckt worden ist?

II.

Es wird beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

III.

Das Verfahren über die weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 28.01.2014 wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.

IV.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschuldigten wird angeordnet.

Gründe

Der Beschuldigte befindet sich in dieser Sache seit seiner Auslieferung aus Österreich am 06.12.2013 aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Regensburg vom 20.11.2013 (Geschäftszeichen III Gs 252413) in Verbindung mit dem Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 28.01.2014 (Aktenzeichen 2 Qs 1/14) ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg hat über die weitere Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 28.01.2014 zu entscheiden.

I.

Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Zunächst hatte das Amtsgericht Regensburg am 25.02.2010 (Geschäftszeichen Gs 418/2010 III) Haftbefehl gegen den sich nicht im Inland aufhaltenden Beschuldigten wegen des dringenden Tatverdachts des bandenmäßigen Betruges gemäß § 263 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 Strafgesetzbuch (künftig: StGB) zulasten des deutschen Staatsangehörigen S., begangen in M., am 20.03.2009, erlassen (Bl. 116-117 der Ermittlungsakte).

Danach liegt dem Beschuldigten folgender Sachverhalt zur Last:

„Der Beschuldigte ist Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Wechselgeldbetrügereien zusammengeschlossen hat. Der Beschuldigte handelt in der Absicht, sich durch die Begehung von Straftaten eine Lebensgrundlage zu schaffen.

Der Geschädigte S. suchte per Internet einen Investor für ein Bauvorhaben für eine Investmentsumme von 900.000 €. Daraufhin wurde er von einem unbekannten Täter, der sich als israelischer Geschäftsmann mit dem Namen W. ausgab, kontaktiert. Dieser präsentierte einen Herrn P. als interessierten Investor. Bei einem Treffen in Mailand mit Herrn P. stellte dieser den Beschuldigten unter dem Namen H. A. D. als eigentlichen Investor vor. Dabei wurde vereinbart, dass der Beschuldigte 500.000 € auf ein Treuhandkonto einbezahlen sollte. Eine weitere Zahlung von 400.000 € sollte bei einem weiteren Treffen in Mailand in bar vorgenommen werden. In der Folgezeit überredete Herr P. den Geschädigten außerdem, zu dem weiteren Treffen in Mailand 40.000 € in kleinen Scheinen mitzubringen, um diese gegen 40.000 € des Beschuldigten in 500 €-Scheinen umzutauschen, da italienischen Banken keine größeren Beträge in 500 €-Noten wechseln würden.

Am 20.3.2009 kam es zu einem erneuten Treffen zwischen dem Geschädigten und dem Beschuldigten im „Café C.“ in Mailand, bei dem der Geschädigte die vereinbarten 40.000 € im Koffer bei sich trug. Der Beschuldigte hatte einen Koffer mit Bargeld im Wert von 400.000 € bei sich. Der Beschuldigte täuschte dem Geschädigten durch Durchführung eines Wechselgeschäfts bei einer Bank vor, dass es sich bei dem Bargeld im Wert von 400.000 € um echtes Geld handeln würde, tatsächlich handelte es sich bei den im Koffer befindlichen 400.000 € um Fac-Simile. Der Geschädigte übergab dem Beschuldigten aufgrund der Täuschung Bargeld im Wert von 40.000 € und erhielt im Gegenzug 400.000 € in Fac-Simile.

Dem Geschädigten entstand hierdurch ein Schaden in Höhe von 40.000 €.“

Unter Zugrundelegung des Haftbefehls vom 25.02.2010 erließ die Staatsanwaltschaft Regensburg am 05.03.2010 einen Europäischen Haftbefehl (Aktenzeichen 125 Js 23396/09) gegen den Beschuldigten (Bl. 123 - 129 der Ermittlungsakte).

Am 08.10.2009 wurde der Beschuldigte aufgrund eines Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 27.08.2009 (Bl. 373 - 378 der Ermittlungsakte) in anderer Sache in der Republik Ungarn festgenommen und am 01.12.2009 in die Republik Österreich ausgeliefert. Das Ministerium für Justiz- und Polizeiwesen der Republik Ungarn teilte unter dem 28.05.2010 mit, dass die vollstreckende ungarischen Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 05.03.2010 angeordnet habe (Bl. 153 der Ermittlungsakte). Bei der Vernehmung durch das Landesgericht Innsbruck am 31.03.2010 zu dem Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 05.03.2010 erklärte sich der Beschuldigte nicht mit dem vereinfachten Übergabeverfahren einverstanden und berief sich auf den Grundsatz der Spezialität (Bl. 146 - 149 der Ermittlungsakte). Das Landesgericht Innsbruck hat mit Beschluss vom 23.08.2010 (Aktenzeichen 30 HR 121/10x) die Übergabe des Beschuldigten an die deutschen Behörden zur Strafverfolgung wegen der im europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 05.03.2010 dem Beschuldigten zur Last gelegten Tat unter Wahrung des Spezialitätsschutzes für zulässig erklärt (Blatt 694 - 701 der Ermittlungsakte). Das Oberlandesgericht Innsbruck hat der hiergegen vom Beschuldigten eingelegten Beschwerde mit Beschluss vom 29.09.2010 (Aktenzeichen 6 Bs 473/10z) keine Folge gegeben (Blatt 702 - 709 der Ermittlungsakte).

Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 26.08.2010 (Aktenzeichen 28 Hv 22/10v) ist der Beschuldigte in anderer Sache rechtskräftig zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden (vgl. Bl. 782 der Ermittlungsakte). Mit Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 22.10.2013 (Aktenzeichen 28 Hv 22/10v) wurde vom weiteren Vollzug dieser Freiheitsstrafe im Hinblick auf die vom Landesgericht Innsbruck und vom Oberlandesgericht Innsbruck in den genannten Beschlüssen für zulässig erklärte Auslieferung an die deutschen Behörden mit Wirkung der erfolgten Übergabe des Beschuldigten an die deutschen Behörden abgesehen (vgl. Bl. 747 - 748 und 782 der Ermittlungsakte).

Am 20.11.2013 erließ das Amtsgericht Regensburg einen erweiterten Haftbefehl (Geschäftszeichen III Gs 252413) gegen den Beschuldigten, der unter Ziffer I den bereits dem Haftbefehl vom 25.02.2010 zugrundeliegenden bandenmäßigen Betrug zulasten des deutschen Staatsangehörigen S., begangen in Mailand am 20.03.2009, sowie unter Ziffer II eine weitere Tat umfasst (Bl. 736 - 739 der Ermittlungsakte).

Die Überstellung des Beschuldigten von Österreich nach Deutschland erfolgte am 06.12.2013. Am selben Tag eröffnete das Amtsgericht Rosenheim dem Beschuldigten den Haftbefehl vom 20.11.2013, hob den früheren Haftbefehl vom 25.02.2010 auf und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft an (Bl. 793 - 796 der Ermittlungsakte).

Bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht Regensburg am 10.01.2014 räumte der Beschuldigte die unter Ziffer I des Haftbefehls vom 20.11.2013 beschriebene Tat ein. Das Amtsgericht Regensburg beschloss daraufhin, dass der Haftbefehl aufrecht erhalten bleibt und weiterzuvollziehen ist (Bl. 828 - 829 der Ermittlungsakte).

Mit Schriftsätzen seiner Verteidiger vom 10.01.2014 (Bl. 834 - 837 der Ermittlungsakte) und vom 14.01.2014 (Bl. 838 - 839 der Ermittlungsakte) legte der Beschuldigte hiergegen Beschwerde ein, beantragte den Haftbefehl aufzuheben und ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Er ist der Ansicht, er könne wegen der ihm zur Last gelegten Tat in Mailand vom 20.03.2009 (Ziffer I des Haftbefehls vom 20.11.2013) nicht mehr verfolgt werden, da nach dem Grundsatz des Verbotes der Doppelbestrafung („ne bis in idem“) gemäß Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GrCh) sowie Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (im Folgenden: SDÜ) ein Verfolgungshindernis bestehe. Er weist darauf hin, dass er wegen dieser Tat bereits durch Urteil des Tribunale di Milano vom 18.06.2012, rechtskräftig seit 07.07.2012 (Aktenzeichen N 33709/11 RGNR; N 313/12) zu einer Strafe von einem Jahr Haft sowie 800 € Geldstrafe verurteilt worden sei (Bl. 820 - 824, 863 - 864 der Ermittlungsakte). Die Verurteilung sei in Abwesenheit erfolgt, da er sich zu diesem Zeitpunkt in Österreich in Strafhaft befunden habe. Die Staatsanwaltschaft beim Tribunale di Milano habe mit Bescheid vom 05.01.2013 (Aktenzeichen N SIEP 4882/2012) einen am 17.09.2012 ausgefertigten Beschluss in Sachen Aussetzung des Strafvollstreckungsbescheides widerrufen und die Inhaftnahme des Verurteilten zur Verbüßung der oben genannten Strafe von einem Jahr Haft sowie zur Begleichung der Geldstrafe in Höhe von 800 € verfügt (Bl. 826 - 827, 865 - 866 der Ermittlungsakte).

Mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 24.01.2014 (Bl. 871 - 875 der Ermittlungsakte) legte der Beschuldigte Zahlungsbelege der „Banka Nationale del Lavoro“ (Bl. 876 - 877 der Ermittlungsakte) vor, wonach die Geldstrafe aus dem Urteil des Tribunale di Milano vom 18.06.2012 über 800 € durch eine Zahlung vom 23.01.2014 beglichen worden sei. Entsprechend sei die Sanktion der Geldstrafe aus dem Urteil vollstreckt. Damit sei die vom Gerichtshof der Europäischen Union noch nicht beantwortete Frage zu entscheiden, wie Art. 54 SDÜ bei Vollstreckung einer von mehreren Sanktionen auszulegen sei. Demgemäß sei hinsichtlich der Auslegung des Art. 54 SDÜ und einer möglichen Einschränkung durch Art. 20 GrCh ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu stellen.

Der Beschuldigte meint, er könne auch wegen der ihm in Ziffer II des Haftbefehls vom 20.11.2013 zur Last gelegten Tat nicht verfolgt werden, da die Strafverfolgung gegen den Grundsatz der Spezialität verstoße. Er sei ausschließlich wegen der im Europäischen Haftbefehl vom 05.03.2010 bezeichneten Tat (diese entspricht der in Ziffer I des Haftbefehls des Amtsgerichts Regensburg vom 20.11.2013 bezeichneten Tat) von Österreich nach Deutschland ausgeliefert worden.

Das Amtsgericht Regensburg half mit Beschluss vom 13.01.2014 der Haftbeschwerde nicht ab (Bl. 831 der Ermittlungsakte).

Das Landgericht Regensburg hat mit Beschluss vom 28.01.2014 (Aktenzeichen 2 Qs 1/14) den Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 10.01.2014 (Geschäftszeichen III Gs 2607/13) in Verbindung mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Regensburg vom 20.11.2013 (Geschäftszeichen III Gs 2524/13) mit der Maßgabe aufrecht erhalten, dass der Vollzug der Untersuchungshaft derzeit ausschließlich auf den in Ziffer I des Haftbefehls vom 20.11.2013 bezeichneten Sachverhalt gestützt werden kann, und im Übrigen die Beschwerde des Beschuldigten zurückgewiesen (Bl. 878 - 886 der Ermittlungsakte).

Zur Begründung führt es unter anderem aus, einer Verfolgung der in Ziffer I des angegriffenen Haftbefehls bezeichneten Tat stehe auch im Hinblick auf die Verurteilung durch das Tribunale di Milano vom 18.06.2012 der Grundsatz „ne bis in idem“ nicht entgegen. Der Beschuldigte unterliege gemäß § 7 Abs. 1 StGB der deutschen Strafgewalt. Ein Verfolgungshindernis ergebe sich weder aus Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz (künftig: GG) noch aus Art. 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 25 GG. Ein Strafklageverbrauch folge auch nicht aus Art. 54 SDÜ, da eine Vollstreckung der im Urteil des Tribunale di Milano vom 18.06.2012 verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr noch nicht begonnen hat. Hieran ändere sich nichts durch eine eventuelle Bezahlung der neben der Freiheitsstrafe verhängten Geldstrafe von 800 €. Dies ergebe sich aus dem Sinn und Zweck der in Art. 54 SDÜ vorgenommenen Einschränkung des Doppelbestrafungsverbotes, nämlich ein „forum fleeing“ zu verhindern. Nichts anderes ergebe sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung in Art. 50 GrCh. Diese Regelung enthält zwar keine Modifizierung durch Vollstreckungsbedingungen. Die in der Charta anerkannten Rechte könnten aber durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt werden, die den Wesensgehalt der Charta achten. Art. 54 SDÜ sei eine solche einschränkende Regelung. Ein darüber hinausgehendes Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik, aus dem sich ein weitergehendes Verbot der Doppelbestrafung ergäbe, gebe es nicht (unter Hinweis auf Grützner/Pötz/Greß, Internationaler Rechtshilfeverkehr, 3. Auflage, II.I.16 Italien).

Gegen diesen Beschluss legte der Beschuldigte mit Schriftsätzen seiner Verteidiger vom 28.01.2014 und vom 10.02.2014 (Bl. 921 - 923 und 933 - 941 der Ermittlungsakte) weitere Beschwerde ein, mit dem Antrag, den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 28.01.2013 dahingehend abzuändern, dass der Haftbefehl gegen den Beschuldigten aufgehoben und dieser aus der Haft entlassen werde, hilfsweise der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und die Sache dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt werde. Er wendet sich gegen die Auffassung, dass Art. 50 GrCh durch die Schrankenregelung des Art. 54 SDÜ zulässigerweise eingeschränkt werden könne. Eine eindeutige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs existiere hierzu noch nicht; entsprechendes gelte für die Frage der Vollstreckung lediglich eines Teils der Strafe.

Das Landgericht Regensburg half der weiteren Beschwerde mit undatiertem Beschluss (Blatt 943 der Ermittlungsakte) nicht ab.

Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg beantragt, die weitere Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Eine Stellungnahme hierzu erfolgte nicht mehr.

II.

Der Senat hält die Beantwortung der Vorlagefragen für den Erlass seiner Entscheidung über die weitere Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Regensburg vom 20.11.2013 für erforderlich. Sie ist entscheidungserheblich, ohne dass einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ersichtlich oder die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig wäre, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bliebe (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22.09.2011 - 2 BvR 947/11 StraFo 2011, 498 Rdn. 14, und vom 28.01.2013 - 2 BvR 1561 - 1564/12, Rdn. 178 nach juris). Der Senat legt sie deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 und 4 AEUV zur Vorabentscheidung vor.

Der Senat geht von Folgendem aus:

1. Die weitere Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft (§ 310 Abs. 1 Nr. 1 Strafprozessordnung; künftig StPO) und auch im Übrigen zulässig. Der Senat hat somit in der Sache zu überprüfen, ob der Haftbefehl des Amtsgerichts Regensburg vom 20.11.2013 in der Gestalt, die er durch den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 28.01.2014 gefunden hat, aufrechtzuerhalten ist.

Dies ist im Grunde der Fall, da die Voraussetzungen der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft vorliegen. Der Beschuldigte ist der ihm im genannten Haftbefehl unter Ziffer I zur Last gelegten Tat - allein auf diese wird aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes die Untersuchungshaft derzeit gestützt - dringend verdächtig. Er hat diese eingeräumt. Der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 StPO ist gegeben. Der Beschuldigte ist serbischer Staatsangehöriger. Er hat in Deutschland keinen Wohnsitz und auch sonst keine sozialen und familiären Bindungen. Es ist deshalb aufgrund der zu erwartenden Freiheitsstrafe davon auszugehen, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entziehen wird. Die Fortdauer der Untersuchungshaft verstößt ersichtlich auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Beschleunigungsgebot.

2. Der Haftbefehl wäre aber dann aufzuheben, wenn wegen des ihm zugrundeliegenden Tatvorwurfs ein Verfolgungshindernis bestünde. Dies wäre der Fall, wenn die Verurteilung des Beschuldigten durch das Tribunale di Milano vom 18.06.2012 zu einer Strafe von einem Jahr Haft sowie 800 € Geldstrafe und die bereits erfolgte Begleichung der Geldstrafe die Strafverfolgung hindern würden. Für diese Fragen sind die Vorlagefragen entscheidungserheblich.

a. Ein Verfahrenshindernis folgt nicht aus Art. 103 Abs. 3 GG. Diese Vorschrift gewährt dem Einzelnen ein verfassungsmäßiges Recht, nicht wegen derselben Tat erneut bestraft zu werden. Im Strafprozess schafft dieses Prozessgrundrecht (vgl. BVerfGE 56, 22, 32) ein die Einstellung des neuerlichen Strafverfahrens wegen Strafklageverbrauchs gebietendes Verfahrenshindernis (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. Einleitung, Rdn. 145 u. 171). Der in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz „ne bis in idem“ gilt allerdings nur bei einer Erstverurteilung durch deutsche Gerichte (vgl. BVerfGE 75, 1, 15 f.; BVerfG StraFo 2008, 151, Rdn. 16 ff. nach juris; NJW 2012, 1202 Rdn. 32 nach juris). Eine solche liegt hier nicht vor.

b. Die Verfolgung der genannten Tat durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden verstößt nicht gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25 GG. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 Satz 1 GG, nach der niemand wegen desselben Sachverhalts, dessentwegen er bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, von einem anderen Staat, dessen Strafgewalt ebenfalls gegeben ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf, ist nämlich nicht feststellbar (vgl. ausführlich BVerfG StraFo 2008, 151, Rdn. 21 ff. nach juris; siehe hierzu auch BVerfG NJW 2012, 1202 Rdn. 31 nach juris; Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., Vor §§ 3-7 Rdn. 65).

c. Somit kommt es darauf an, ob ein Verfahrenshindernis aufgrund des in Art. 54 SDÜ sowie Art. 50 GrCh geregelten Verbots der Doppelverfolgung besteht.

Die Bestimmung des Art. 54 SDÜ, die grundsätzlich auch Abwesenheitsurteile erfasst (EuGH NJW 2009, 3149 Rdn. 34 nach juris), lautet wie folgt:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

Art. 50 GrCh mit der Überschrift „Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“ hat folgenden Wortlaut:

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

aa. Die Charta findet im vorliegenden Fall Anwendung (vgl. hierzu BVerfG NJW 2012, 1202 Rdn. 40 nach juris). Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 01.12.2009 (BGBl. II Seite 1223) gilt gemäß Art. 6 Abs. 1 des EU-Vertrages die Grundrechtecharta als bindendes Recht. Gemäß Art. 51 GrCh ist auch deren Anwendungsbereich eröffnet. Die Grundrechtecharta bindet in erster Linie die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 GrCh). Eine Bindung der Mitgliedstaaten sieht die Grundrechtecharta „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ vor (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 GrCh).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung. Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 GrCh bestätigt, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 GrCh für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. EuGH Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09, DEB, Slg 2010, I-13849 = ZIP 2011, 143, Rdn. 32). Gemäß diesen Erläuterungen „[gilt d]ie Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten ... dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst somit die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (EuGH Urteil vom 26.02.2013 - Rs. C-617/10, Frannson, NJW 2013, 1415 Rdn. 19-21).

Die für die Anwendung der Charta erforderliche „Durchführung des Rechts der Union“ liegt darin, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte die Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens, hier Art. 54 SDÜ, prüfen müssen. Denn dieses entfaltet seit seiner Einbeziehung durch das so genannte Schengen-Protokoll (Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, BGBl. 1998 II S. 429 ff.) zum Amsterdamer Vertrag vom 02.10.1997 (Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. EU Nr. C 340 vom 10.11.1997; BGBl. 1998 II S. 387 ff.) in den institutionellen Rahmen der Europäischen Union dieselben Rechtswirkungen wie sekundäres Unionsrecht (BVerfG NJW 2012, 1202 Rdn. 40 nach juris m. w. N.).

bb. Anders als das Verbot des Art. 54 SDÜ ist das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 50 GrCh nicht ausdrücklich durch Vollstreckungsbedingungen modifiziert. Jedoch können gemäß Art. 52 Abs. 1 GrCh die in der Charta anerkannten Rechte durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt werden, die den Wesensgehalt der Charta achteten.

(1) Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs stellt Art. 54 SDÜ eine solche einschränkende Regelung dar (vgl. BGHSt 56, 11 = NJW 2011, 1114 Rdn. 13 nach juris). Dies ergebe sich aus den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta (ABl. EG 2004 C 310/453; aktualisierte Fassung ABl. EU 2007 C 303/17).

Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV werden die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt. Nach der Präambel der Charta und Art. 52 Abs. 7 GrCh sind die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst wurden, von den Gerichten der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen. Ausweislich der Präambel der Erläuterungen selbst stellen diese eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.

In den Erläuterungen zu Art. 50 GrCh heißt es: „Nach Art. 50 findet der Grundsatz ´ne bis in idem´ nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten seine Anwendung. Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union; siehe die Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens und Urteil des Gerichtshofs vom 11. Februar 2003, Rechtssache C-187/01 Gözütok (Slg. 2003, I-1345), Artikel 7 des Übereinkommens zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie Artikel 10 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung. Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der Regel ,ne bis in idem‘ abweichen können, sind von der horizontalen Klausel des Artikels 52 Absatz 1 über die Einschränkungen abgedeckt“.

Danach bestehe nach Auffassung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs kein Zweifel, dass der Grundsatz „ne bis in idem“ auch im Blick auf Art. 50 GrCh nur nach Maßgabe von Art. 54 SDÜ gilt (BGHSt 56, 11 Rdn. 14 nach juris mit Hinweis auf Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 184; im Ergebnis ebenso LG Aachen, StV 2010, 237 mit ablehnender Anmerkung Reichling). Diesen Rechtsausführungen schloss sich der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem weiteren Verfahren mit Beschluss vom 01.12.2010 (2 StR 420/10, in juris) ausdrücklich an.

(2) Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 15.12.2011 (2 BvR 148/11, NJW 2012, 1202) die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und ergänzend darauf hingewiesen, dass nach dem Wortlaut und dem Aufbau der genannten Erläuterungen sich die Formulierung „Die klar eingegrenzten Ausnahmen [...] nach diesen Übereinkommen“ auf die drei Übereinkommen beziehungsweise deren Ausnahmebestimmungen, die in dem Satz zuvor aufgezählt werden, beziehe. Damit seien die Art. 54 bis 58 SDÜ erfasst. Die Ausnahmen seien - so die Erläuterungen - wörtlich „von der horizontalen Klausel des Artikels 52 Absatz 1 über die Einschränkungen abgedeckt“. Schließlich enthielten darüber hinaus die Bestimmungen aller genannten Übereinkommen (Art. 54 SDÜ, Art. 7 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl EG 1995, C 316/49, und Art. 10 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind, ABl EG 1997, C 195/2) ein Doppelbestrafungsverbot, das voraussetzt, dass die Sanktion bereits vollstreckt worden ist oder derzeit vollstreckt wird oder nach dem Recht des verurteilenden Staates nicht mehr vollstreckt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht kommt zum Ergebnis, insofern erscheine es naheliegend, die genannten Bestimmungen - so wie der Bundesgerichtshof - als Einschränkungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GrCh aufzufassen (BVerfG NJW 2012, 1202 Rdn. 44 nach juris).

(3) Diese Auslegung entspricht auch der Einschätzung der Europäischen Kommission im Anhang zum Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren [KOM(2005) 696 endgültig, unter 11.2; abrufbar unter: http://eurlex.europa.eu,CELEX-Nummer: 52005SC1767]. Dort heißt es:

„Sowohl hinsichtlich der Vollstreckungsbedingung als auch der zulässigen Vorbehalte nach Artikel 55 des Schengener Durchführungsübereinkommens scheint ein gewisser Widerspruch zu Artikel 50 Grundrechtscharta zu bestehen. Dieser enthält im Gegensatz zum Schengener Durchführungsübereinkommen weder eine Vollstreckungsbedingung noch Ausnahmen. Nach Artikel 52 Grundrechtscharta dürfen jedoch Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem vorgenommen werden, wenn sie notwendig und verhältnismäßig sind. Dass im Falle einer zulässigen zweiten Verfolgung jede wegen derselben Tat erlittene Freiheitsentziehung auf die ´zweite´ Sanktion angerechnet wird (Artikel 56 des Schengener Durchführungsübereinkommens), ändert nichts daran, dass nach Artikel 50 Grundrechtscharta Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit geprüft werden müssen.“

(4) Allerdings wird in der Literatur zunehmend die einschränkende Auslegung des Art. 50 GrCh durch den Bundesgerichtshof kritisiert (vgl. etwa Schomburg, in: Schomburg/Lagodny u. a., Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. Teil III E 1 SDÜ Art. 54 Rdn. 13 ff. und Teil X.C. EuGrCh Rdn. 14 ff.; Schomburg/Suominen-Picht NJW 2012, 1190 ff.; Böse GA 2011, 504, 505 ff.; Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206, 209 ff.; F. Walther ZJS 2013, 16, 18 ff.; kritisch auch Nestler, HRRS 2013, 337 ff.), während andere Stimmen mit teils unterschiedlicher Begründung das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ als Schrankenbestimmung zu Art. 50 GrCh ansehen, so dass für den Umfang des europäischen Nebisinidem-Grundsatzes weiterhin Art. 54 SDÜ maßgeblich sei (vgl. etwa Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., Vor §§ 3-7 Rdn. 6 Fußnote 472; Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 184; Eckstein ZIS 2013, 220, 221 [jedenfalls bis unmittelbar wirkende europäische Straftatbestände in Kraft treten]; Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., III.A 3.3. Übk von Schengen Rdn. 30; Hecker, JuS 2012, 261 ff., [der dennoch für eine Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV plädiert]; Rosbaud, StV 2013, 291, 292).

So wird bezweifelt, dass das in Art. 54 SDÜ als tatbestandliche Voraussetzung vorgesehene Vollstreckungselement eine „Ausnahme“ im Sinne der Erläuterungen darstellen soll, in der ein Mitgliedstaat von der Regel „ne bis in idem“ abweichen können soll. Dem stehe auch entgegen, dass mit der Beibehaltung des Vollstreckungselements nicht „die Mitgliedstaaten“ vom Doppelverfolgungsverbot abweichen würden. Vielmehr wäre - wenn man der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgen würde - die Weitergeltung des Vollstreckungselements gemäß Art. 54 SDÜ zum einen zwingend (und nicht fakultativ, wovon offensichtlich die Erläuterungen ausgehen) und ergäbe sich zum anderen direkt aus dem Unionsrecht (und nicht aus einem mitgliedstaatlichen „optout“, wovon die Erläuterungen auszugehen scheinen). Soweit man die in den Erläuterungen in Bezug genommenen „Ausnahmen“ nicht auf das Vollstreckungselement beziehe, werde dieser Auslegungshinweis auch nicht gegenstandslos. Vielmehr seien in Art. 55 SDÜ rechtsterminologisch also solche bezeichnete „Ausnahmen“ von „ne bis in idem“ vorgesehen. Diese seien fakultativ und mussten von den einzelnen Mitgliedstaaten bei Ratifikation des Schengener Durchführungsübereinkommens erklärt werden. Wenig nachvollziehbar erscheine auch die Annahme, die Verfasser hätten sich mit einem mehrdeutigen Hinweis in den Erläuterungen begnügt, soweit sie - noch dazu in Kenntnis von Wortlaut und Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ - eine derart prominente Abweichung von der ne bis in idem Regel wie das Vollstreckungselement tatsächlich hätten beibehalten wollen. Im Übrigen betone der Europäische Gerichtshof ständig den engen Zusammenhang des Doppelverfolgungsverbots mit dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV und lege dementsprechend bezüglich Art. 54 SDÜ sowohl den Tatbegriff wie auch den Begriff der rechtskräftigen Erstentscheidung und das Vollstreckungselement betont weit aus (vgl. F. Walther ZJS 2013, 16, 19).

cc. Der Senat neigt dennoch dazu, der vom Bundesgerichtshof in Übereinstimmung mit der Kommission vertretenen Auffassung zu folgen.

Die Einwendungen des Beschuldigten gegen die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung des Art. 50 GrCh überzeugen nicht. Sein Hinweis darauf, dass die Grundrechtscharta dem Schengener Durchführungsübereinkommen zeitlich nachgefolgt ist, stellt das Ergebnis der vom Bundesgerichtshof vorgenommenen Auslegung nicht in Frage. Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta berücksichtigen gerade das bereits vorhandene Schengener Durchführungsübereinkommen. Dass im Hinblick auf die temporale (Weiter-)Geltung von Art. 54 SDÜ trotz Inkrafttretens von Art. 50 GrCh nicht einfach auf den lex posterior-Grundsatz zurückgegriffen werden kann, ergibt sich im Übrigen aus Art. 9 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen vom 13.12.2007 zum Vertrag von Lissabon (Abl. EU 2008 Nr. C 115/322), wonach Übereinkommen, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des EU-Vertrages zwischen Mitgliedstaaten geschlossen wurden „so lange Rechtswirkung [behalten], bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden.“ Eine stillschweigende Aufhebung oder Änderung in jenem Sinne könnte zwar auch im Inkrafttreten einer sachlich vorrangigen Bestimmung liegen (so F. Walther ZJS 2013, 16, 18). Dies liegt aber vorliegend fern, da die Erläuterungen zu Art. 50 GrCh ausdrücklich die Art. 54 bis 58 SDÜ im Zusammenhang mit den Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten von der Regel „ne bis in idem“ abweichen können, erwähnen.

Auch der Umstand, dass Art. 54 SDÜ nur im Schengenraum gilt, während Art. 50 GrCh für die gesamte Europäische Union Wirkung entfaltet, ändert an der Einschränkung des Art. 50 GrCh durch Art. 54 SDÜ nichts. In den Erläuterungen zur Grundrechtecharta wird dieser Umstand gerade durch den Hinweis auf die dort genannten Übereinkommen ausdrücklich angesprochen. Im Übrigen sind - wie oben ausgeführt - die Bestimmungen der Charta für sich genommen nicht tauglich, als „Recht der Union“ mitgliedstaatliches Handeln der Charta zu unterwerfen, das nicht in Durchführung anderweitigen Unionsrechts - hier des Schengener Durchführungsübereinkommens - ergangen ist. Das Doppelbestrafungsverbot des Art. 50 GrCh entfaltet seine Wirkung somit immer nur auf dem Boden mitgliedstaatlichen Handelns aufgrund bestimmter EU-Rechtsvorschriften.

Weder der Grundrechtecharta noch dem Vertrag von Lissabon oder anderen Normen ist somit zu entnehmen, dass der den Normgebern bekannte Art. 54 SDÜ durch Art. 50 GrCh verdrängt oder modifiziert werden sollte. Daher besitzt Art. 54 SDÜ nach wie vor Gültigkeit und ist als zulässige Einschränkung von Art. 50 GrCh zu werten.

d. Sofern der Europäische Gerichtshof die Frage dahin beantworten sollte, dass Art. 20 GrCh durch Art. 54 SDÜ zulässigerweise eingeschränkt wird, stellt sich die Anschlussfrage, ob der Umstand, dass der Beschuldigte bereits die gegen ihn in Italien verhängte Geldstrafe beglichen hat, während die Freiheitsstrafe von einem Jahr noch nicht vollstreckt worden ist, zu einem Verfolgungshindernis nach Art. 54 SDÜ führt.

aa. Zunächst liegt offensichtlich kein Fall vor, in dem nach dem Recht des Urteilsstaates die Strafe nicht mehr vollstreckt werden könnte. Wie sich aus dem Bescheid der Staatsanwaltschaft bei dem Tribunale di Milano vom 05.01.2013 ergibt, gehen die italienischen Behörden von einer Vollstreckbarkeit aus.

bb. Sodann dürften nach Auffassung des Senats auch die Bedingungen, dass die verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird, nicht gegeben sein.

Diese Tatbestandsalternativen von Art. 54 SDÜ sind jedenfalls nicht dadurch erfüllt, dass die Staatsanwaltschaft bei dem Tribunale di Milano den Bescheid vom 05.01.2013 erlassen hat, mit dem sie die Inhaftnahme des Verurteilten zur Verbüßung der Strafe von einem Jahr Haft sowie zur Begleichung der Geldstrafe in Höhe von 800 € verfügte. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Umstand, dass eine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe nach Übergabe eines Verurteilten durch einen anderen Staat im Urteilsstaat vollstreckt werden könnte, die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ nicht beeinflussen (EUGH Urteil vom 18.07.2007 - Rs. C-288/05 - Kretzinger, NJW 2007, 3412 Rdn. 63). Demgemäß kann diese Vollstreckungsbedingung definitionsgemäß nicht erfüllt sein, wenn ein Europäischer Haftbefehl nach einer strafrechtlichen Verurteilung in einem ersten Mitgliedstaat gerade zu dem Zweck ausgestellt würde, damit eine Freiheitsstrafe vollstreckt werden kann, die noch nicht im Sinne von Art. 54 SDÜ vollstreckt worden ist (EUGH a. a. O. Rdn. 60 und 64). Daraus folgt, dass eine bloße innerstaatliche Vollstreckungsanordnung einer Vollstreckung im Sinne von Art. 54 SDÜ ebenfalls nicht gleichzusetzen ist. Das Urteil vom 18.06.2012 könnte somit auch nicht im Blick auf eine mögliche Auslieferung des Beschuldigten nach Italien ein Verfahrenshindernis begründen. Italien hat bisher keinen Antrag auf Auslieferung gestellt. Die Möglichkeit, dass ein solcher Antrag noch gestellt wird, führt nicht dazu, dass rechtliche Konsequenzen, die ein solcher Antrag im Falle seines Erfolges hätte, ein Verfahrenshindernis begründen würden (vgl. BGHSt 56, 11 Rdn. 10 nach juris).

Auch der Umstand, dass der Beschuldigte die gegen ihn neben der Freiheitsstrafe verhängte Geldstrafe - der zudem im Verhältnis zur Freiheitsstrafe geringeres Gewicht zukommt - bereits beglichen hat, dürfte nicht dazu führen, dass die Sanktion als „bereits vollstreckt“ im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen wäre. Dies wäre nach Auffassung des Senats nur der Fall, wenn sämtliche Teile der Strafe - hier also Freiheitsstrafe und Geldstrafe - bereits vollstreckt worden wären.

Ebenso dürfte mit der erfolgten Begleichung der Geldstrafe und der damit bewirkten teilweisen Vollstreckung der gegen den Beschuldigten verhängten Sanktion das Tatbestandsmerkmal, dass die verhängte Strafe „gerade vollstreckt wird“, nicht erfüllt sein, da kein gegenwärtiger Vollstreckungsakt vollzogen wird.

cc. Der Senat neigt somit dazu, das Vorliegen der Vollstreckungsbedingungen zu verneinen, sieht sich jedoch an einer entsprechenden Entscheidung dadurch gehindert, dass diese Frage durch den Europäischen Gerichtshof - soweit ersichtlich - bisher nicht entschieden wurde und die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch nicht offenkundig und zweifelsfrei im Sinne der „acteclair-Doktrin“ ist (vgl. EuGH Urteil vom 06.10.1982 - Rs. C-283/81 - CILFIT, NJW 1983, 1257), zumal der Bundesgerichtshof in einem Vorlagebeschluss (NStZ 2006, 106 Rdn. 24 ff.) eine abweichende Auffassung vertreten hat. Dort hatte der Verfolgte im Urteilsstaat Polizei- und/oder Untersuchungshaft erlitten, die auf die später verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen wäre. Der Bundesgerichtshof war der Ansicht, die Anrechnungsvorschriften würden im Ergebnis zu einer vorweggenommenen „Teilvollstreckung“ der später verhängten Freiheitsstrafe führen. Vor diesem Hintergrund sei zu fragen, ob der Begriff der „Vollstreckung“ in Art. 54 SDÜ auch eine durch eine Anrechnungsvorschrift bewirkte Teilvollstreckung mit umfasse, ob bereits eine ganz kurzfristige Teilvollstreckung genüge oder wieweit eine solche Teilvollstreckung gegebenenfalls erfolgt sein müsse, um dieses Tatbestandselement des Art. 54 SDÜ zu erfüllen. Dass jedenfalls eine vollständige Verbüßung der verhängten Freiheitsstrafe nicht erforderlich sein könne, sei offenkundig. So wie das deutsche Strafrecht in § 57 StGB eine Aussetzung der Reststrafenvollstreckung als Regelfall kenne, existierten auch in anderen Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften, welche zu einer Beendigung der Vollstreckung vor Ablauf der vollständigen Verbüßungsdauer führen. Demzufolge erschien es dem Bundesgerichtshof zwingend, dass eine solche „Teilvollstreckung“ im Regelfall und unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ zum gesamteuropäischen Strafklageverbrauch führen müsste. Soweit es nach einer Teilvollstreckung zum Erlass der Reststrafe komme, greife allerdings bereits Art. 54, 3. Variante SDÜ ein, da die Strafe dann nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann (NStZ 2006, 106 Rdn. 25 f. nach juris).

(1) Mit der Auslegung der Formulierungen „gerade vollstreckt“ und „bereits vollstreckt“ befasst sich - soweit ersichtlich - nur eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die zur Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung und zu der vom Bundesgerichtshof vorgelegten Frage der Polizei- und Untersuchungshaft ergangen ist (vgl. Urteil vom 18.07.2007 - Rs. C-288/05 - Kretzinger, Slg 2007, I-6442 = NJW 2007, 3412). Dieser können jedoch keine Aussagen entnommen werden, die eine eindeutige Auslegung der Vollstreckungsbedingung für die vorliegende Fallgestaltung zulassen:

Danach ist eine Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, insofern, als mit ihr das rechtswidrige Verhalten eines Verurteilten bestraft wird, eine Sanktion im Sinne von Art. 54 SDÜ. Sie ist als Strafe zu betrachten, die „gerade vollstreckt“ wird, sobald das Urteil vollstreckbar geworden ist und solange die Bewährungszeit dauert. Anschließend, nach Ablauf der Bewährungszeit, ist die Strafe als „bereits vollstreckt“ im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen (EUGH Urteil vom 18.07.2007, a. a. O.., Rdn. 42).

Zur vorweggenommenen Teilvollstreckung bemerkte der Gerichtshof, dass bei einer Polizei- und/oder Untersuchungshaft Art. 54 SDÜ schon seinem Wortlaut nach nicht gelten könne, bevor der Betroffene „rechtskräftig abgeurteilt worden ist“. In Gerichtsverfahren lägen sowohl die Polizeihaft als auch die Untersuchungshaft vor dem rechtskräftigen Urteil. Daraus folge, dass Art. 54 SDÜ für solche Zeiten des Freiheitsentzugs nicht gelten kann, auch wenn diese nach dem nationalen Recht bei der anschließenden Vollstreckung einer gegebenenfalls verhängten Freiheitsstrafe berücksichtigt werden müssen. Folglich sei die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion nicht im Sinne von Art. 54 SDÜ „bereits vollstreckt“ worden oder werde „gerade vollstreckt“, wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaats auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre (EUGH Urteil vom 18.07.2007, a. a. O.. Rdn. 49 f. und 52).

(2) Anders verhält es sich zwar im vorliegenden Verfahren, in dem die bereits vollstreckte Geldstrafe eine Sanktion im Sinne des Art. 54 SDÜ darstellt. Die vom Gerichtshof dem Art. 54 SDÜ beigelegte Zweck- und Zielrichtung scheint jedoch die Auslegung zuzulassen, dass eine Teilvollstreckung im genannten Sinn kein Verfolgungshindernis nach Art. 54 SDÜ begründet.

Der Zweck des Artikel 54 SDÜ besteht darin, zu verhindern, dass eine Person aufgrund der Tatsache, dass sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Gebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird (EuGH Urteil vom 11. Februar 2003 Rs. C-187/01 und C-385/01 - Gözütok und Brügge, Slg 2003, I-1345-1397 = NJW 2003, 1173, Rdn. 38: EuGH Urteil vom 09.03.2006 - Rs. C-436/04 - Van Esbroek, Slg 2006, I-2333 = NJW 2006, 1781, Rdn. 33). Das Recht auf Freizügigkeit werde nur dann effektiv gewährleistet, wenn der Urheber einer Handlung weiß, dass er sich, wenn er in einem Mitgliedstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat deshalb verfolgt wird, weil diese Handlung in der Rechtsordnung des letztgenannten Mitgliedstaats einen unterschiedlichen Verstoß darstellt (EuGH Urteil vom 09.03.2006 - Rs. C-436/04 Van Esbroek, Slg 2006, I-2333 = NJW 2006, 1781 Rdn. 34; EuGH Urteil vom 22.12.2008 - Rs. C-491/07 - Turansky, Slg 2008, I-11039 = NStZ-RR 2009, 109 Rdn. 44 m. w. N.). Demgegenüber soll die in Art. 54 SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung verhindern, dass ein in einem ersten Vertragsstaat rechtskräftig Verurteilter dann, wenn dieser Staat die verhängte Strafe nicht hat vollstrecken lassen, nicht mehr wegen derselben Tat verfolgt werden kann und somit letztlich einer Strafe entgeht (EuGH Urteil vom 18.07.2007 - Rs. C-288/05 - Kretzinger, Slg 2007, I-6442 = NJW 2007, 3412 Rdn. 51).

Dieser Zweck der Vollstreckungsbedingung ist nach Ansicht des Senats auch dann gegeben, wenn der Urteilsstaat - wie hier - den Beschuldigten in Abwesenheit verurteilt hat, die Strafe nicht vollstreckt hat, der Verurteilte außerhalb des Urteilsstaats aufgegriffen wird und dann einen Teil der Sanktion - hier die Geldstrafe - begleicht. Dies kann nach Auffassung des Senats nicht dazu führen, dass der Beschuldigte hierdurch letztlich der vollständigen Vollstreckung der Strafe (hier der neben der Geldstrafe verhängten Freiheitsstrafe) entgehen kann.

III.

Der Antrag, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, wird wie folgt begründet:

Die Auslegungsfrage bezieht sich auf die Vorschriften zum „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in Art. 67 ff. AEUV (vgl. Nr. 34 der Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl. C 160 vom 28.05.2011, S. 5). Zu diesen gehört der auf Grundlage von Art. 31 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 lit. d EU alter Fassung (= Art. 82 Abs. 1 AEUV) erlassene Art. 54 SDÜ. Der Beschuldigte befindet sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Regensburg vom 20.11.2013 in Verbindung mit dem Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 28.01.2014 seit seiner Überstellung aus Österreich am 06.12.2014 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Es liegt somit der in Art. 267 Abs. 4 AEUV genannte Fall des Freiheitsentzugs vor (vgl. Nr. 37 der Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen).

Die Berechtigung der Inhaftierung hängt von der Entscheidung der Vorlagefrage ab. Würde entgegen der Auffassung des vorlegenden Senats vom Gerichtshof die Vorlagefrage 1 verneint und die Vorlagefrage 2 bejaht, so würde ein Verfolgungshindernis bestehen, so dass sich der Beschuldigte zu Unrecht in Untersuchungshaft befinden würde. Im Hinblick darauf ist nach Ansicht des Senats eine besondere Dringlichkeit gegeben, die die Anwendung des Eilvorlageverfahrens gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs rechtfertigt.

IV.

Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls kommt nicht in Betracht. Der einschlägig vorgeahndete Beschuldigte hat eine Freiheitsstrafe zu erwarten, die die Dauer der erlittenen und voraussichtlich noch zu erleidenden Untersuchungshaft deutlich übersteigen wird. Eine Haftverschonung (§ 116 StPO), die einem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft als mildere Maßnahmen vorgehen könnte, kommt bei ihm aufgrund der hohen Straferwartung nicht in Betracht.

Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist auch unter Berücksichtigung der zu erwartenden Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens verhältnismäßig. Der Senat hat die Durchführung eines Eilverfahrens beantragt. Dieses bietet die Aussicht, mit entscheidungserheblichen Fragen des Europarechts verbundene Strafsachen zu einem zügigen Abschluss zu bringen (vgl. F. Walther ZJS 2013, 16, 22 f.), wie etwa der Umstand zeigt, dass der Gerichtshof ein Vorlageersuchen auf einen entsprechenden Antrag des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 08.02.2012 -5 StR 567/11, in juris) innerhalb von zwei Monaten beantwortet hat (EuGH, Urteil vom 10.04.2012 - Rs. C-83/12 PPU, NJW 2012, 1641).

Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 19. März 2014 - 2 Ws 98/14

Urteilsbesprechungen zu Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 19. März 2014 - 2 Ws 98/14

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 103


(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge

Strafgesetzbuch - StGB | § 263 Betrug


(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen
Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 19. März 2014 - 2 Ws 98/14 zitiert 12 §§.

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Strafprozeßordnung - StPO | § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe


(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßr

Strafgesetzbuch - StGB | § 57 Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe


(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,2. dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der

Strafprozeßordnung - StPO | § 116 Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls


(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werd

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 25


Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.

Strafgesetzbuch - StGB | § 7 Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen


(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. (2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, g

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Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 19. März 2014 - 2 Ws 98/14 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).

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Tenor Es wird festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe aufgrund des Ersuchens des Schwerstrafgerichts Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, vom 28. Juli 2014 v o r l i e g e n . Gründe   I. 1 Das türkische G

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(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung von Urkundenfälschung oder Betrug verbunden hat,
2.
einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeiführt oder in der Absicht handelt, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen,
3.
eine andere Person in wirtschaftliche Not bringt,
4.
seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger oder Europäischer Amtsträger mißbraucht oder
5.
einen Versicherungsfall vortäuscht, nachdem er oder ein anderer zu diesem Zweck eine Sache von bedeutendem Wert in Brand gesetzt oder durch eine Brandlegung ganz oder teilweise zerstört oder ein Schiff zum Sinken oder Stranden gebracht hat.

(4) § 243 Abs. 2 sowie die §§ 247 und 248a gelten entsprechend.

(5) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer den Betrug als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Straftaten nach den §§ 263 bis 264 oder 267 bis 269 verbunden hat, gewerbsmäßig begeht.

(6) Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1).

(7) (weggefallen)

(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt.

(2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter

1.
zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist oder
2.
zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist.

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 30. März 2011 - 1 St OLG Ss 42/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird im Hauptsacheverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) und im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 4.000 € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (Europäischer Gerichtshof) hinsichtlich der Auslegung der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (3. Führerscheinrichtlinie - ABl L 403/18).

I.

2

1. Das Amtsgericht Erlangen verhängte gegen den Beschwerdeführer im Jahr 2007 eine isolierte Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis von neun Monaten (§ 69a Abs. 1 Satz 3 StGB). Nach Ablauf und vor Tilgung der Sperre im Verkehrszentralregister erwarb der Beschwerdeführer in der Tschechischen Republik eine Fahrerlaubnis, in welcher der tschechische Zweitwohnsitz des Beschwerdeführers eingetragen ist.

3

2. Das Amtsgericht Erlangen verurteilte den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil vom 20. Mai 2010 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und verhängte eine erneute isolierte Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis von zwölf Monaten. Das Landgericht Nürnberg-Fürth verwarf die dagegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers mit angegriffenem Urteil vom 8. November 2010 und änderte auf die Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts dahingehend ab, dass die Gesamtfreiheitsstrafe zu Lasten des Beschwerdeführers auf sechs Monate erhöht wurde.

4

Das Oberlandesgericht Nürnberg verwarf die dagegen gerichtete Revision des Beschwerdeführers mit angegriffenem Beschluss vom 30. März 2011 als unbegründet. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV) versage das Recht, von einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, wenn eine isolierte Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis im Inland verhängt worden sei. Zwar sei die Sperre zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer die tschechische Fahrerlaubnis erworben habe, und zu den jeweiligen Tatzeiten bereits abgelaufen gewesen. Dies ändere jedoch nichts, weil die Sperre noch im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht tilgungsreif sei (vgl. § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV i.V.m. § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVG).

5

Diese Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV sei mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie, vereinbar (mit Hinweis auf VGH München, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - 11 CS 10.1380 -, NJW 2011, S. 1380). Der Beschwerdeführer habe wegen Alkoholdelikten im Straßenverkehr wiederholt belangt werden müssen. Er habe sich dadurch in hohem Maße zum Führen von Kraftfahrzeugen als ungeeignet erwiesen. Angesichts der Gefahren, die vom motorisierten Straßenverkehr für das menschliche Leben und die körperliche Unversehrtheit insbesondere dann ausgingen, wenn charakterlich ungeeignete Personen wie der Beschwerdeführer zum Führen von Kraftfahrzeugen zugelassen würden, sei der europäische Normgeber gehalten gewesen, diesem Schutzauftrag bei der Ausgestaltung der 3. Führerscheinrichtlinie gerecht zu werden.

6

3. Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung setzte die Kammer die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 20. Mai 2010 in Form des Urteils des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. November 2010 mit Beschluss vom 30. Mai 2011 einstweilen für die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, längstens für die Dauer von sechs Monaten aus.

II.

7

Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

8

Das Oberlandesgericht Nürnberg habe seinen Beurteilungsspielraum für eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in unvertretbarer Weise überschritten. Gegenüber der vom Oberlandesgericht Nürnberg vorgenommenen Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV sei die Gegenauffassung eindeutig vorzuziehen. Verschiedene Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte hätten § 28 Abs. 4 FeV als unionsrechtswidrig bezeichnet und nicht angewendet, § 28 Abs. 4 FeV unionsrechtskonform ausgelegt oder dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie vorgelegt (vgl. VG Koblenz, Beschluss vom 22. September 2009 - 5 L 970/09 -, juris; VGH Kassel, Beschluss vom 4. Dezember 2009 - 2 B 2138/09 -, juris; OVG Saarlouis, Beschluss vom 16. Juni 2010 - 1 B 204/10 -, SVR 2010, S. 392). Es sei davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie ebenso wie Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (2. Führerscheinrichtlinie - ABl L 237/1) eng auslegen werde und auch nach Inkrafttreten der 3. Führerscheinrichtlinie allein ein Wohnsitzverstoß es rechtfertige, die Anerkennung einer gültigen EU-Fahrerlaubnis abzulehnen.

III.

9

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

10

Eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liege nicht vor. Es bestünden keine Zweifel hinsichtlich des inhaltlichen Verständnisses von Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie, so dass die Vereinbarkeit von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV mit Unionsrecht von dem Oberlandesgericht Nürnberg klar und ohne Vorlage an den Europäischen Gerichtshof habe beantwortet werden können. Art. 11 Abs. 4 UAbs. 1 und 2 der 3. Führerscheinrichtlinie bestimmten sprachlich eindeutig, dass ein Mitgliedstaat einen Führerschein nicht ausstellen dürfe, wenn der betreffenden Person zuvor in einem anderen Mitgliedstaat ein Führerschein entzogen worden sei, und dass ein unter Verstoß gegen dieses Verbot gleichwohl erteilter Führerschein von dem Mitgliedstaat, der den Führerscheinentzug angeordnet habe, nicht anerkannt werden dürfe. Jedenfalls habe sich das Oberlandesgericht Nürnberg nicht willkürlich über die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV hinweggesetzt.

IV.

11

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt, soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 30. März 2011 wendet. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 82, 159 <192 ff.>; 126, 286 <315 ff.>), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

12

1. Das Oberlandesgericht Nürnberg hat den Beschwerdeführer entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter entzogen.

13

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu richten, obwohl es unionsrechtlich dazu verpflichtet ist, werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen Richter entzogen (BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>; 126, 286 <315 ff.>). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergebenden Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen oder offensichtlich unhaltbar sind. Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht (BVerfGE 82, 159<194 f.>; 126, 286 <316>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 1741/09 -, NJW 2011, S. 1427 <1431>).

14

Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter führt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011, a.a.O., S. 1431). Dies kann nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 126, 286 <317>) insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind. Zu verneinen ist in Fällen der Unvollständigkeit der Rechtsprechung ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG deshalb bereits dann, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat.

15

Dies setzt voraus, dass sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts hinreichend kundig gemacht hat. Dabei umfasst der Begriff des Unionsrechts nicht nur geschriebenes und ungeschriebenes Recht in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof, sondern auch die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für das Unionsrecht entwickelten Auslegungsmethoden und -grundsätze (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, NJW 2001, S. 1267). Das Gericht beantwortet die entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts in nicht mehr vertretbarer Weise, wenn keine tatsächlichen und rechtlichen Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass die eigene Auslegung und Anwendung des Unionsrechts mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und den herkömmlichen Auslegungsmethoden und -grundsätzen übereinstimmt.

16

b) Gemessen an diesem Maßstab hat das Oberlandesgericht Nürnberg den Beschwerdeführer seinem gesetzlichen Richter entzogen, indem es davon abgesehen hat, ein eigenes Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu richten oder das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 16. August 2010 - 11 B 10.1030 -, DAR 2010, S. 596 = Rs. C-419/10, Hofmann, ABl 2010 Nr. C 301/12) auszusetzen.

17

aa) Die Frage, ob die Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV, wonach eine ausländische Fahrerlaubnis im Inland ungültig ist, wenn die Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis abgelaufen, aber nach wie vor noch im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht getilgt ist, mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie, vereinbar ist, ist entscheidungserheblich. Denn ihre Beantwortung entscheidet darüber, ob sich der Beschwerdeführer wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafbar gemacht hat.

18

bb) Das Oberlandesgericht Nürnberg hat als letztinstanzliches Hauptsachegericht den ihm bei der Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie zukommenden Beurteilungsrahmen überschritten. Es hat unter Verweis auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) eine Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie vorgenommen, die im Widerspruch zu der ihm bekannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Unvereinbarkeit von § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV a.F. mit Art. 1 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie steht, ohne sich hierfür auf vertretbare tatsächliche und rechtliche Anhaltspunkte stützen zu können. Darauf beruht die Auffassung, dass § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV, wonach eine ausländische Fahrerlaubnis im Inland ungültig ist, wenn die Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis abgelaufen, aber nach wie vor noch im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht getilgt ist, mit Unionsrecht vereinbar ist.

19

(1) Es bestehen begründete Zweifel daran, dass § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie, vereinbar ist (vgl. VG Koblenz, Beschluss vom 22. September 2009, a.a.O, Rn. 13 ff.; OVG Koblenz, Beschluss vom 17. Februar 2010 - 10 B 351/09 -, juris, Rn. 6 ff.; VGH Kassel, Beschluss vom 4. Dezember 2009, a.a.O., Rn. 2; OVG Saarlouis, Beschluss vom 16. Juni 2010, a.a.O., S. 393 ff.; Blum, NZV 2008, S. 176 <181>; Hailbronner, NZV 2009, S. 361 <366 f.>; Dyllick/Lörincz/Neubauer, LKV 2010, S. 481 <486> m.w.N.; Pießkalla/ Leitgeb, NZV 2010, S. 329 <335>).

20

(a) Es liegt noch keine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie vor.

21

(b) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur 2. Führerscheinrichtlinie sind die Mitgliedstaaten nach deren Art. 1 Abs. 2 verpflichtet, die Führerscheine anderer EU-Mitgliedstaaten ohne jede Formalität anzuerkennen (EuGH, Urteil vom 19. Februar 2009, Rs. C-321/07, Schwarz, Slg. 2009, S. I-1113, Rn. 75).

22

Es ist Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere diejenigen hinsichtlich der Fahreignung und des Wohnsitzes, erfüllt sind und ob somit die Erteilung einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, verb. Rs. C-329/06 und C-343/06, Wiedemann/Funk, Slg. 2008, S. I-4635, Rn. 52). Wenn die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein ausgestellt haben, sind die anderen Mitgliedstaaten somit nicht befugt, die Beachtung der in dieser Richtlinie aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber dieses Führerscheins am Tag der Erteilung des Führerscheins diese Voraussetzungen erfüllte (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, Wiedemann/Funk, a.a.O., Rn. 53). Dies gilt auch dann, wenn der Führerschein im Aufnahmemitgliedstaat wegen Drogen- oder Alkoholkonsums entzogen wurde und der Ausstellungsmitgliedstaat nicht dieselben Anforderungen an den Eignungsnachweis stellt, insbesondere auf eine medizinisch-psychologische Untersuchung verzichtet (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, Wiedemann/Funk, a.a.O., Rn. 73). Der Aufnahmemitgliedstaat ist nur im Hinblick auf ein Verhalten, das nach dem Erwerb des von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins eingetreten ist, zur nachträglichen Eignungsüberprüfung befugt.

23

Ausnahmen von dem in Art. 1 Abs. 2 der 2. Führerscheinrichtlinie enthaltenen allgemeinen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine sind insbesondere vor dem Hintergrund, dass dieser Grundsatz die Ausübung der Grundfreiheiten erleichtern soll, eng auszulegen (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-476/01, Kapper, Slg. 2004, S. I-5205, Rn. 72). Aus diesem Grund kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie berufen, um einer Person, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer früher von ihm erteilten Fahrerlaubnis angewendet wurde, auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins zu versagen, der ihr möglicherweise später von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird. Ist nämlich die zusätzlich zu der fraglichen Maßnahme angeordnete Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bereits abgelaufen, verbietet es Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie diesem Mitgliedstaat weiterhin, die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins abzulehnen (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Kapper, a.a.O., Rn. 76). Die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins kann allerdings abgelehnt werden, wenn sein Inhaber zum Zeitpunkt dieser Ausstellung einer Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis unterlag (EuGH, Beschluss vom 3. Juli 2008, Rs. C-225/07, Möginger, Slg. 2008, S. I-103, Rn. 45).

24

(c) Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie ist durch die 3. Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 7. Januar 2009 (BGBl I S. 27 und 29) umgesetzt worden. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV, wonach Inhaber einer in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilten gültigen Fahrerlaubnis nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt sind, wenn ihnen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, wurde wortgleich aus der vorangegangenen Fassung übernommen. Ergänzend wurde § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV angefügt, wonach Satz 1 Nr. 3 und 4 nur anzuwenden ist, wenn die dort genannten Maßnahmen im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht nach § 29 StVG getilgt sind. Da eine unbegrenzte Verweigerung der Anerkennung unionsrechtswidrig ist, wurde sie nach der Begründung des Verordnungsgebers durch einen Verweis auf die Tilgungsfristen des Straßenverkehrsgesetzes ersetzt (BRDrucks 851/08, S. 12).

25

(2) Die Argumente, die das Oberlandesgericht Nürnberg unter Verweis auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) für die Vereinbarkeit von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV mit Unionsrecht anführt und die von Stimmen in der Rechtsprechung (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 20. Januar 2010 - 16 B 814/09 -, juris, Rn. 6 ff.; VGH Mannheim, Beschluss vom 21. Januar 2010 - 10 S 2391/09 -, NJW 2010, S. 2821 <2822 ff.>; OVG Greifswald, Beschluss vom 23. Februar 2010 - 1 M 172/09 -, juris, Rn. 11 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Mai 2010 - 2 Ss 269/10 -, NJW 2010, S. 2818 <2819 f.>; OVG Lüneburg, Beschluss vom 18. August 2010 - 12 ME 57/10 -, juris, Rn. 11 ff.) und in der Literatur geteilt werden (vgl. Jancker, DAR 2009, S. 181 <184 f.>; Mosbacher/Gräfe, NJW 2009, S. 801 <804>), sind nicht vertretbar.

26

(a) Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kommt aufgrund einer grammatikalischen, systematischen und historischen Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie zu der Auffassung, dass eine Auslegung des § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV, wonach eine ausländische EU-Fahrerlaubnis im Inland ungültig sei, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung in Verbindung mit § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV erfüllt seien, mit Unionsrecht vereinbar sei (Beschluss vom 7. Oktober 2010, a.a.O., S. 1382).

27

Dies begründet er damit, dass durch die 3. Führerscheinrichtlinie ein Paradigmenwechsel vollzogen worden sei, um ein Unterlaufen von in einem Mitgliedstaat getroffenen fahrerlaubnisrechtlichen "Negativentscheidungen" dadurch zu verhindern, dass der Betroffene zwecks Erlangung einer neuen Fahrerlaubnis in einen anderen Mitgliedstaat ausweiche. Dies komme nicht nur in der doppelten Sicherung zum Ausdruck, die Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie durch den Übergang von fakultativen zu bindenden Regelungen und dadurch geschaffen habe, dass das in Art. 11 Abs. 4 UAbs. 1 der 3. Führerscheinrichtlinie ausgesprochene Verbot der Erteilung einer Fahrerlaubnis durch eine an den Aufnahmestaat gerichtete Nichtanerkennungsverpflichtung ergänzt worden sei. Der Wille des Normgebers, den Mitgliedstaaten ein möglichst wirksames Instrument zur Bekämpfung des Führerscheintourismus an die Hand zu geben, lasse sich auch aus den Materialien entnehmen (mit Hinweis auf VGH München, Beschluss vom 22. Februar 2007 - 11 CS 06.1644 -, NZV 2007, S. 539 <540 f.>).

28

Diese Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie stehe nicht in Widerspruch zu höherrangigem Unionsrecht. Zu den Normen des primären Unionsrechts, die im vorliegenden Zusammenhang in den Blick zu nehmen seien, gehörten nicht nur die Bestimmungen, die die Freizügigkeit innerhalb der Union verbürgten, sondern auch die Unionsgrundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In den Erwägungsgründen 2, 7, 8, 9, 10, 11, 13 und 15 der 3. Führerscheinrichtlinie komme zum Ausdruck, dass die 3. Führerscheinrichtlinie das Ziel verfolge, dem aus diesen Unionsgrundrechten folgenden Schutzauftrag gerecht zu werden, indem die Verkehrssicherheit erhöht werde, und dass dieses Ziel mindestens gleichrangig neben dem Anliegen stehe, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu erleichtern.

29

(b) Es bestehen keine tatsächlichen oder rechtlichen Anhaltspunkte dafür, dass diese Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs übereinstimmt.

30

(aa) Der Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 und 3 der 3. Führerscheinrichtlinie stützt die Annahme einer Einschränkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Reichweite des Anerkennungsgrundsatzes nicht.

31

Er lehnt sich weitgehend an Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie an. Geändert hat sich im Wesentlichen nur die Ersetzung einer Ermessensklausel durch eine Pflicht, die Anerkennung zu verweigern. Inhaltlich ist die Vorschrift jedoch weitgehend identisch geblieben, wenn man davon absieht, dass Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der 2. Führerscheinrichtlinie auf Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 2 verweist, während Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie nicht mehr auf Maßnahmen nach Art. 11 Abs. 2 (Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis) verweist, sondern direkt auf die Einschränkung, Aussetzung oder Entziehung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats Bezug nimmt.

32

Die Folgerung, dass damit der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Grundlage entzogen würde, wäre nur tragfähig, wenn die Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit von § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV a.F. entscheidend auf der Verknüpfung von Art. 8 Abs. 4 mit Abs. 2 der 2. Führerscheinrichtlinie beruhen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall (vgl. Hailbronner, NZV 2009, S. 361 <366>). Der Europäische Gerichtshof begründet seine restriktive Auslegung von Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie entscheidend mit den Grundfreiheiten, für die dem Grundsatz der Anerkennung von Führerscheinen große Bedeutung zukomme. Dabei unterscheidet er zwischen Art. 8 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 4 argumentativ nicht. Der Europäische Gerichtshof stellt vielmehr fest, dass im Hinblick auf die Bedeutung der Individualverkehrsmittel der Besitz eines vom Aufnahmestaat ordnungsgemäß anerkannten Führerscheins Einfluss auf die tatsächliche Ausübung einer großen Zahl von unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeiten haben könne (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Kapper, a.a.O., Rn. 71). Eine nationale Regelung, die wie § 28 FeV a.F. gerade darauf abziele, die zeitliche Wirkung einer Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer früheren Fahrerlaubnis auf unbestimmte Zeit zu verlängern und den deutschen Behörden die Zuständigkeit für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis vorzubehalten, wäre daher "die Negation des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine selbst, der den Schlussstein des mit der Richtlinie 91/439 eingeführten Systems darstellt" (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Kapper, a.a.O., Rn. 77).

33

(bb) Auch die Entstehungsgeschichte der 3. Führerscheinrichtlinie spricht nicht für eine erweiterte Befugnis der Mitgliedstaaten zur Nichtanerkennung der von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Fahrerlaubnis.

34

Die Erwägungsgründe der 3. Führerscheinrichtlinie enthalten keine Hinweise auf eine Änderung der Rechtsgrundlagen zur Anerkennung (vgl. Hailbronner, NZV 2009, S. 361 <366>). Erwägungsgrund Nr. 6 verweist in allgemeiner Form auf die Anerkennungspflicht der Mitgliedstaaten und Erwägungsgrund Nr. 15 auf die allgemeine Befugnis der Mitgliedstaaten, aus Gründen der Verkehrssicherheit ihre innerstaatlichen Bestimmungen über den Entzug, die Aussetzung, die Entziehung und die Aufhebung einer Fahrerlaubnis auf einen Führerscheininhaber anzuwenden, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet begründet hat.

35

Die Erwägungsgründe Nr. 2, 7, 8, 9, 10, 11 und 13, die nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zum Ausdruck bringen, dass das Ziel der Erhöhung der Verkehrssicherheit mindestens gleichrangig neben dem Anliegen stehe, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu erhöhen, betreffen nicht die Anerkennung von ausländischen EU-Führerscheinen, sondern beschreiben lediglich, inwieweit die innerstaatlichen Vorschriften für den Führerschein durch die Richtlinie harmonisiert werden. Auch ein Vergleich der Formulierung der Erwägungsgründe der 2. und 3. Führerscheinrichtlinie widerstreitet der Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Während die 2. Führerscheinrichtlinie beabsichtigte, "die Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern und die Freizügigkeit von Personen zu erleichtern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem niederlassen, in dem sie ihre Fahrprüfung abgelegt haben" (Erwägungsgrund 1), "tragen" die Regelungen der 3. Führerscheinrichtlinie lediglich "zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei", während sie "die Freizügigkeit der Personen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der den Führerschein ausgestellt hat, niederlassen", "erleichtern", und "der Besitz eines vom Aufnahmemitgliedstaat anerkannten Führerscheins die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit der Personen" "fördert" (Erwägungsgrund 2).

36

Auch die Begründung der Kommission für die 3. Führerscheinrichtlinie geht auf die mit dem sogenannten "Führerscheintourismus" zusammenhängenden Probleme der Verkehrssicherheit nur insoweit ein, als die Mitgliedstaaten ausdrücklich keinen neuen Führerschein ausstellen dürfen sollen für eine Person, der der Führerschein entzogen wurde und die somit indirekt immer noch Inhaber eines anderen Führerscheins ist (KOM 2003 <621> endg., S. 6). Der Gemeinsame Standpunkt des Rates verweist ausschließlich auf die neuen Vorschriften über die Überprüfung der Wohnsitzklausel (ABl 2006 Nr. C 295 E/45). Diese Ausführungen deuten nicht auf eine Korrektur der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Reichweite der Pflicht zur Anerkennung einer EU-Fahrerlaubnis hin.

37

(cc) Der Kritik des Europäischen Gerichtshofs, wonach ein Mitgliedstaat nicht befugt ist, einer Person, auf die eine Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer von diesem Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis angewendet worden ist, auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins zu versagen, der ihr möglicherweise später von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird, kann - entgegen der Begründung des Verordnungsgebers (BRDrucks 851/08, S. 12) - auch nicht in vertretbarer Weise durch § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV Rechnung getragen werden. Danach darf die Anerkennung nur solange versagt werden, als die Entziehung im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht nach § 29 StVG getilgt ist.

38

(α) Die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach ein Mitgliedstaat nach Art. 1 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 und 4 der 2. Führerscheinrichtlinie die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nicht anerkennen muss, wenn sein Inhaber zum Zeitpunkt dieser Ausstellung im ersten Mitgliedstaat einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis unterlag (EuGH, Beschluss vom 3. Juli 2008, Möginger, a.a.O., Rn. 45), stellt allein auf die Sperrfrist ab. Nicht gemeint ist hingegen die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, sonstige Fristen vorzusehen, wenn diese der Funktion der Sperrfrist nicht entsprechen.

39

Die Funktion der Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis besteht darin, dass erst durch ihre Festsetzung die Entziehung der Fahrerlaubnis ihre Wirkungskraft in dem jeweils festgesetzten Umfang erlangt (Herzog, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 3. Aufl. 2010, § 69a StGB Rn. 1). Für die Bemessung der Sperrfrist gelten die gleichen Maßstäbe wie für die Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis selbst. Die Sperrfrist leitet sich mit anderen Worten aus der durch die Schwere der Tat und unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit anzunehmenden Dauer der Ungeeignetheit ab (Geppert, Leipziger Kommentar, Bd. 3, 12. Aufl. 2008, § 69a StGB Rn. 16; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 69a StGB Rn. 15 ff.). Die Tilgungsfrist nach § 29 StVG verfolgt einen anderen Zweck als die Sperrfrist, indem sie keine Rückschlüsse auf die aktuelle Fahreignung gibt. Beim Verkehrszentralregister steht der Gedanke der Bewährung im Sinne der Verkehrssicherheit im Mittelpunkt (vgl. Janker, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 21. Aufl. 2010, § 29 StVG Rn. 2). Bewährung in diesem Sinne bedeutet aber, dass eine Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs nicht fehlt, sondern eine Fahrerlaubnis erteilt werden kann und lediglich bei zukünftigen Zuwiderhandlungen die zurückliegenden Verstöße berücksichtigt werden können.

40

§ 28 Abs. 5 FeV sieht zwar die Möglichkeit vor, auf Antrag eine Genehmigung zur Nutzung der EU-Fahrerlaubnis während der Tilgungsfrist zu erhalten, "wenn die Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr bestehen", das heißt die Fahreignung besteht. Ein im Aufnahmemitgliedstaat durchzuführendes Genehmigungsverfahren widerspricht jedoch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Führerscheine anderer EU-Mitgliedstaaten ohne jede Formalität anzuerkennen (EuGH, Urteil vom 19. Februar 2009, Schwarz, a.a.O.). Frühere Inhaber einer Fahrerlaubnis, die in einem Mitgliedstaat entzogen oder aufgehoben wurde, können insbesondere nicht verpflichtet werden, bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats die Erlaubnis zu beantragen, von einer Fahrberechtigung Gebrauch zu machen, die sich aus einem nach Ablauf der Sperrfrist in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, Rs. C-334/06 und 336/06, Zerche u.a., Slg. 2008, S. I-4691, Rn. 70).

41

(β) § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV führt zu einer Ungleichbehandlung zwischen Kraftfahrern, die eine neue ausländische, und solchen, die eine neue deutsche Fahrerlaubnis erworben haben (vgl. Dyllick/Lörincz/ Neubauer, LKV 2010, S. 481 <487>). Selbst wenn diese Bestimmungen dahingehend ausgelegt werden könnten, dass sie mit der 3. Führerscheinrichtlinie vereinbar wären, würden sie - entgegen der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs - gegen höherrangiges primäres Unionsrecht, nämlich das in allen Grundfreiheiten enthaltene Diskriminierungsverbot, verstoßen.

42

§ 28 Abs. 4 Satz 3 FeV enthält für die Anerkennung einer ausländischen Fahrerlaubnis nach Entziehung einer inländischen Fahrerlaubnis eine andere Frist, als sie für die Neuerteilung einer inländischen Fahrerlaubnis gilt. Die inländische Fahrerlaubnis kann unmittelbar nach Ablauf der Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis neu erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis nach wie vor vorliegen (§ 20 Abs. 1 FeV). Zur Klärung von Eignungszweifeln kann ein medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet werden (§ 20 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 9 FeV). Eine ausländische Fahrerlaubnis kann, sofern der betroffene Kraftfahrer nach Ablauf der Sperrfrist keinen Antrag nach § 28 Abs. 5 FeV stellt, erst nach Ablauf der Tilgungsfrist im Verkehrszentralregister, in dem sowohl die Entziehung der Fahrerlaubnis als auch die Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis eingetragen wird, anerkannt werden. Im Fall einer isolierten Sperre (§ 69a Abs. 1 Satz 3 StGB) beträgt die Tilgungsfrist nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVG zehn Jahre. Stellt der betroffene Kraftfahrer nach Ablauf der Sperrfrist einen Antrag nach § 28 Abs. 5 FeV, wird seine Fahreignung vom Aufnahmemitgliedstaat geprüft, das heißt er müsste bei Eignungszweifeln ebenfalls ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegen.

43

Eine Ungleichbehandlung kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zwar grundsätzlich durch Grundrechte gerechtfertigt werden (EuGH, Urteil vom 12. Juni 2003, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 74; EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2004, Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 35). Völlig offen ist allerdings, ob sich aus den Unionsgrundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit - wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof annimmt - ein Schutzauftrag (der Mitgliedstaaten) zur Erhöhung der Verkehrssicherheit ergibt. Unterstellt, dies wäre der Fall, erscheint die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung unter Hinweis auf diesen Schutzauftrag jedenfalls deshalb nicht vertretbar, weil das Ziel der 3. Führerscheinrichtlinie damit offensichtlich konterkariert würde. Die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins würde von den im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Fahreignung abhängig gemacht werden, obwohl die 3. Führerscheinrichtlinie die innerstaatlichen Mindestvoraussetzungen im Hinblick auf die Fahreignung harmonisiert hat, die Prüfung der Mindestvoraussetzungen durch den Ausstellungsmitgliedstaat erfolgen soll und Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eng auszulegen sind.

44

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg ist aufzuheben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

45

3. Im Hinblick auf die Urteile des Amtsgerichts Erlangen vom 20. Mai 2010 und des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. November 2010 wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

46

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Zwar wird die Verfassungsbeschwerde teilweise nicht zur Entscheidung angenommen. Da der Beschwerdeführer sein wesentliches Verfahrensziel erreicht hat, sind die Angriffsgegenstände jedoch insoweit für sein Begehren von untergeordneter Bedeutung (vgl. BVerfGE 32, 1 <39>; 79, 372 <378>; 86, 90 <122>; 88, 366 <381>; 104, 220 <238>; 114, 1 <72>).

47

Die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

48

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.

(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen

1.
festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2.
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3.
das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a)
Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b)
auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c)
andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.

(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

1.
zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,
2.
dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und
3.
die verurteilte Person einwilligt.
Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.

(2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestens jedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn

1.
die verurteilte Person erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt oder
2.
die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, daß besondere Umstände vorliegen,
und die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind.

(3) Die §§ 56a bis 56e gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.

(4) Soweit eine Freiheitsstrafe durch Anrechnung erledigt ist, gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3.

(5) Die §§ 56f und 56g gelten entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte; als Verurteilung gilt das Urteil, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.

(6) Das Gericht kann davon absehen, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die verurteilte Person unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die der Einziehung von Taterträgen unterliegen.

(7) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag der verurteilten Person, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. In Betracht kommen namentlich

1.
die Anweisung, sich zu bestimmten Zeiten bei dem Richter, der Strafverfolgungsbehörde oder einer von ihnen bestimmten Dienststelle zu melden,
2.
die Anweisung, den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis des Richters oder der Strafverfolgungsbehörde zu verlassen,
3.
die Anweisung, die Wohnung nur unter Aufsicht einer bestimmten Person zu verlassen,
4.
die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen anderen.

(2) Der Richter kann auch den Vollzug eines Haftbefehls, der wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt ist, aussetzen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindern werden. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen.

(3) Der Richter kann den Vollzug eines Haftbefehls, der nach § 112a erlassen worden ist, aussetzen, wenn die Erwartung hinreichend begründet ist, daß der Beschuldigte bestimmte Anweisungen befolgen und daß dadurch der Zweck der Haft erreicht wird.

(4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn

1.
der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt,
2.
der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, daß das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder
3.
neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

5 StR 567/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 8. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Februar 2012

beschlossen:
Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Sind die die Erteilung und die Annullierung eines einheitlichen Visums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15. September 2009 S. 1, Visakodex – VK) dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen, in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen , dieses aber durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben? Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorlagefrage ausgesetzt.
G r ü n d e
1
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin zu entscheiden. Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.
2
1. Dem Vorabentscheidungsverfahren liegt folgender, vom Landgericht festgestellter Sachverhalt zugrunde:
3
Der Angeklagte gehörte vietnamesischen Banden an, deren Ziel es war, Vietnamesen nach Deutschland illegal einzuschleusen. Eine Bande ging in der Weise vor, dass der ungarischen Botschaft in Vietnam vorgespiegelt wurde, bei gegen ein Entgelt von 11.000 $ bis 15.000 $ zu schleusenden vietnamesischen Staatsbürgern handele es sich um Mitglieder touristischer Reisegruppen. Die vorgeblichen Reisegruppen bestanden jeweils aus 20 bis 30 Personen. In der irrigen Annahme, dass die Reisen tatsächlich stattfinden würden, erteilte die ungarische Botschaft den Betroffenen Touristenvisa, die einen kurzen Aufenthalt in allen Schengenstaaten ermöglichten. Die Reisen wurden in den ersten Tagen zum Schein gemäß Reiseprogramm durchgeführt , bevor die Geschleusten dem vorab gefassten Tatplan entsprechend von Paris aus in die jeweiligen Zielländer – zumeist Deutschland – weitertransportiert wurden. Die in Berlin eintreffenden Geschleusten wurden zu- nächst in so genannten „Safehouses“ untergebracht, bis sie dann von in Deutschland ansässigen Verwandten abgeholt und anderweitig einquartiert wurden.
4
Die weitere Bande machte sich den Umstand zunutze, dass vietnamesische Arbeitskräfte in Schweden als Beerenpflücker auf wenige Monate befristete Arbeitsvisa erlangen konnten, die einen Aufenthalt im Schengenraum erlaubten. Bei der Beantragung der Visa wurde den zuständigen Behörden vorgespiegelt, dass die zu schleusenden Personen als Beerenpflücker arbeiten wollten, während sie in Wahrheit planten, sich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Schweden weiter nach Deutschland schleusen zu lassen.
5
2. Dem Angeklagten liegt im Einzelnen zur Last:
6
a) Am 21. Juni 2010 nahm er mit zwei anderen Bandenmitgliedern sechs vietnamesische Staatsbürger in Empfang, die mit erschlichenen unga- rischen Touristenvisa von Paris kommend in Berlin eingetroffen waren. Mit einem der Mittäter sorgte er dafür, dass diese und drei weitere geschleuste Personen durch Verwandte oder Bekannte abgeholt und untergebracht wur- den. Für seine Mithilfe erhielt er einen Lohn von 500 €. Dem Tatplan ent- sprechend tauchten die betreffenden vietnamesischen Staatsbürger nach ihrer Ankunft in Deutschland unter (Tat 1).
7
b) Am 4. Juli 2010 holte er mit zwei Bandenmitgliedern zehn nach Berlin gebrachte vietnamesische Staatsbürger ab, die mit erschlichenen ungarischen Touristenvisa nach Europa eingereist waren, und sorgte für deren Unterbringung. Er erhielt Geldleistungen in unbekannter Höhe (Tat 2).
8
c) Am 17. Juli 2010 fuhren der Angeklagte und ein Mittäter von Berlin nach Schweden, um den Transport einer Gruppe von vietnamesischen Staatsangehörigen nach Berlin zu organisieren. Diese hatten auf die dargestellte Weise schwedische Arbeitsvisa als Beerenpflücker erschlichen. Jeder vietnamesische Staatsangehörige hatte für die Schleusung 2.000 € an den Angeklagten zu zahlen. Der Mittäter des Angeklagten fuhr mit vier geschleusten Personen am 19. Juli 2010 nach Berlin, während der Angeklagte in Schweden verblieb, um die Schleusung der übrigen vietnamesischen Staatsangehörigen zu organisieren. Die vier mit seinem Mittäter nach Berlin gekommenen Vietnamesen wurden plangemäß von einem weiteren Mittäter in Berlin untergebracht (Tat 3).
9
d) Anschließend organisierten der in Schweden verbliebene Angeklagte und sein dorthin zurückgekehrter Mittäter nach gleichem Muster die Schleusung weiterer vietnamesischer Staatsbürger nach Berlin. Auch diese Personen mussten hierfür jeweils 2.000 € an den Angeklagten bezahlen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2010 wurden acht vietnamesische Staatsangehörige von Schweden nach Berlin verbracht, wo die Aufnahme und Unterbringung der geschleusten Personen organisiert wurde (Tat 4).
10
3. Nach Auffassung des Landgerichts hat sich der Angeklagte dadurch in vier selbständigen Fällen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern nach § 97 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 und § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) strafbar gemacht. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist dabei, dass hinsichtlich der geschleusten Personen der Tatbestand der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) bzw. des unerlaubten Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) erfüllt ist. Wie aus der Zitierung des § 95 Abs. 6 AufenthG im Urteil ersichtlich ist, hat das Landgericht in dem Umstand, dass die geschleusten Personen formell über Visa verfügten, keinen die Strafbarkeit hindernden Umstand gesehen. Gemäß dieser Vorschrift steht für die Tatbestände des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein – hier gegebenes – Handeln aufgrund eines durch falsche Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.
11
4. Mit seiner Revision wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung. Er beanstandet, ohne dies näher zu begründen, die Verletzung sachlichen Rechts.
12
5. Der Senat hält die Beantwortung der – mit seinem Ersuchen um Vorabentscheidung vom 10. Januar 2012 (5 StR 351/11) identischen – Vorlagefrage für den Erlass seiner Entscheidung über die Revision für erforderlich. Sie ist entscheidungserheblich, ohne dass einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ersichtlich wäre (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 Rn. 25, und vom 22. September 2011 – 2 BvR 947/11 Rn. 14, jeweils mwN). Der Senat legt sie deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vor.
13
Er geht davon aus, dass die Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 AufenthG erfüllt sind. Die zu schleusenden Personen haben gegenüber den Amtsträgern der ungarischen bzw. der schwedischen Botschaft in Vietnam bewusst wahrheitswidrig vorgegeben, zu touristischen Zwecken bzw. zum Zweck vorübergehender Arbeit in den Schengenraum einreisen zu wollen (vgl. Art. 21 VK, auch i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d und e der Verordnung (EG) – Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, Schengener Grenzkodex – SGK, ABl. L 105 vom 13. April 2006, S. 1). Demgegenüber hatten sie von Anfang an die Absicht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, was der Erteilung der Visa zwingend entgegenstand (vgl. Art. 21 Abs. 1 VK, Art. 5 Abs. 1 lit. e SGK; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., AufenthG § 6 Rn. 22). Nach den tatgerichtlichen Feststellungen wurden die Visa nur aufgrund der Fehlvorstellung der Amtsträger über den wahren Zweck der Reisen erteilt.
14
Zur weiteren Begründung wird auf das in der Sache 5 StR 351/11 ergangene Vorabentscheidungsersuchen vom 10. Januar 2012 Bezug genommen.
15
Der Senat weist darauf hin, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof Verfahrensbeteiligter ist.
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