Oberlandesgericht München Verfügung, 14. Aug. 2015 - 10 U 1977/15

published on 14/08/2015 00:00
Oberlandesgericht München Verfügung, 14. Aug. 2015 - 10 U 1977/15
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Landgericht München I, 17 O 19543/14, 27/03/2015

Gericht

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Tenor

A.

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufungen beider Parteien vom 05.08.2015 bzw. 20.07.2015 gegen das Endurteil des LG München I vom 27.03.2015 durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 II 1 ZPO wegen offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht zurückzuweisen.

Weder eine grundsätzliche Bedeutung der Sache noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Senats aufgrund mündlicher Verhandlung (§ 522 II 1 Nr. 1-3 ZPO); eine solche ist auch nicht aus sonstigen Gründen geboten (§ 522 II 1 Nr. 4 ZPO).

2. Es wird hiermit Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Entscheidung bis zum

20.09.2015 gegeben (§ 522 II 2 ZPO).

Wichtige Hinweise:

> Die vorstehende, großzügig bemessene Frist (nach allgemeiner Meinung genügt an sich entsprechend § 277 III ZPO eine Replikfrist von zwei Wochen) kann nur ganz ausnahmsweise aufgrund eines schriftlichen, eingehend begründeten und hinsichtlich des tatsächlichen Vortrags nach Maßgabe des § 294 I ZPO glaubhaft gemachten Antrags verlängert werden (vgl. zu den strengen Anforderungen an eine Verlängerung der Hinweisreplikfrist OLG Rostock OLG-NL 2004, 228 und NJOZ 2004, 680; Doukoff, Zivilrechtliche Berufung, 5. Aufl. 2013, Rz. 994). Mit einer Verlängerung um mehr als zwei Wochen kann grundsätzlich nicht gerechnet werden.

> Der Hinweis nach § 522 II 2 ZPO dient nicht der Verlängerung der gesetzlichen Berufungsbegründungsfrist (OLG Koblenz NJOZ 2007, 698; Senat in st. Rspr., grdl. Beschluss vom 17.09.2008 - 10 U 2272/08, zuletzt eingehend Beschluss vom 21.08.2012 - 10 U 1836/12; Doukoff, a. a. O. Rz. 998); neuer Sachvortrag ist nur in den Grenzen der §§ 530, 531 II 1 ZPO zulässig (BGHZ 163, 124 = NJW 2005, 3067), wobei die Voraussetzungen des § 531 II 1 ZPO glaubhaft zu machen sind (§ 531 II 2 ZPO).

3. Nach Sachlage empfiehlt es sich, zur Vermeidung unnötiger weiterer Kosten die Rücknahme der Berufung binnen dieser Frist zu prüfen (im Falle einer Rücknahme ermäßigt sich gem. Nr. 1222 Satz 2 KV-GKG die Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen von 4,0 auf 2,0).

4. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 275.000,- € festzusetzen.

Gründe

I. Eine mündliche Verhandlung ist nicht gem. § 522 II 1 Nr. 4 ZPO geboten.

Eine „existentielle Bedeutung“ des Rechtsstreits für die Berufungsführer aufgrund der Natur des Rechtsstreits ist nicht gegeben: Der Rechtsstreit betrifft zwar Schmerzensgeldansprüche nach einem Verkehrsunfall mit schweren und dauerhaften Verletzungen des Klägers, dies allein - ebenso wie der vom Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren beispielshalber genannten Arzthaftungsprozeß - begründet ohne Hinzutreten weitere Umstände noch keine solche „existentielle Bedeutung“ (vgl. für Arzthaftungsprozesse OLG München, Beschluss vom 16.2.2012 - 1 U 4433/11 [juris, dort Rz. 23]; OLG Koblenz MedR 2013, 300 [Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschl. des BGH v. 20.11.2012 - VI ZR 157/12 nicht angenommen]); Beschluss vom 19.8.2014 - 5 U 279/14 [juris; Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschl. des BGH v. 20.1.2015 - VI ZR 367/14 nicht angenommen]). Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten, wenn sie wie hier absehbar nicht zu einem entscheidungserheblichen Erkenntnisgewinn führen kann (OLG Oldenburg, Beschluss vom 1.3.2012 - 6 U 233/11 [BeckRS 2014, 06054]; OLG Celle, Beschluss vom 27.7.2012 - 11 U 40/12 [BeckRS 2013, 09741]; OLG Koblenz, Beschluss vom 30.1.2013 - 5 U 324/12 [juris, dort Rz. 27]).

Eine „existentielle Bedeutung“ des Rechtsstreits ist auch nicht wegen der Höhe des in Streit befindlichen Betrages gegeben:

> Die absolute Höhe des Betrages ist grundsätzlich nicht entscheidend (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.02.2012 - 10 U 817/11 [juris, dort Rz. 28]; r+s 2013, 450 [451 für eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente von knapp 400 €]; OLG Hamm, Be

> schl. v. 18.09.2013 - 3 U 106/13 [BeckRS 2014, 15433] in einer Arzthaftungssache; Hk-ZPO/M/östmann, 5. Aufl. 2013, § 522 Rz. 12 a; BL/Hartmann, ZPO, 73. Aufl. 2015, § 522 Rz. 16).

> Eine Gefährdung der wirtschaftliche Existenz der Berufungsführer (vgl. zu dieser Fallgestaltung OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 30.8.2012 - 21 U 34/11 [juris, dort Rz. 4; Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschl. des BGH v. 20.2.2014 - VII ZR 265/12 zurückgewiesen]; Stackmann JuS 2011, 1087 [1088 unter II 4]) ist hinsichtlich des Klägers weder dargetan noch sonst ersichtlich, hinsichtlich der Beklagten als größtem europäischen Versicherungsunternehmen ausgeschlossen.

II. Die Berufungen sind auch offensichtlich unbegründet (§ 522 II 1 Nr. 1 ZPO).

1. Eine offensichtliche Unbegründetheit ist gegeben, wenn für jeden Sachkundigen ohne längere Nachprüfung erkennbar ist, daß die vorgebrachten Berufungsgründe (solche sind nur eine Rechtsverletzung [§ 513 I Var. 1 i. Verb. m. § 546 ZPO], eine unrichtige Tatsachenfeststellung [§ 513 I Var. 2 i.Verb. m. § 529 I Nr. 1 ZPO] oder das Vorbringen neuer berücksichtigungsfähiger Angriffs- und Verteidigungsmittel [§ 513 I Var. 2 i. Verb. m. §§ 529 I Nr. 2, 531 II ZPO]) das angefochtene Urteil nicht zu Fall bringen können (Beschlußempfehlung, a. a. O. unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 2002, 814 [815]). Offensichtlichkeit setzt aber nicht voraus, daß die Aussichtslosigkeit gewissermaßen auf der Hand liegt (Beschlußempfehlung, a. a. O.), also nur dann bejaht werden dürfte, wenn die Unbegründetheit der Berufung anhand von paratem Wissen festgestellt werden kann (BVerfG EuGRZ 1984, 442 f.); sie kann vielmehr auch das Ergebnis vorgängiger gründlicher Prüfung sein (Beschlußempfehlung, a. a. O. unter Hinweis auf BVerfGE 82, 316 [319 f.]).

2. Dem Senat ist es nicht verwehrt, auf der Grundlage der erstinstanzlichen tatsächlichen Feststellungen ergänzende, das angefochtene Urteil weiter rechtfertigende oder berichtigende Erwägungen anzustellen (OLG Stuttgart VRS 122 340; OLG Düsseldorf v. 10.04.2012 - 2 U 3/10 [juris]; OLG Köln v. 20.04.2012 - 5 U 139/11 [juris]; KG RdE 2013, 95; OLG Koblenz VersR 2013, 708; OLG Hamm VersR 2013, 604; Zöller/Heßler, a. a. O. § 522 Rz. 36; Hk-ZPO/IAöstmann, a. a. O. § 522 Rz. 11; BL/Hartmann, a. a. O. § 522 Rz. 16).

3. Dies zugrunde gelegt, nimmt der Senat zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die angefochtene ausführlich und sorgfältig begründete Entscheidung des LG München I Bezug, in der zu allen relevanten Punkten zutreffend Stellung genommen worden ist.

Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen ist zu bemerken:

a) Die tatsächlichen Grundlagen des Rechtsstreits - sowohl die zum Haftungsgrund als auch die unfallbedingten Verletzungen des Klägers und Verletzungsfolgen - sind unstreitig.

b) Beide Berufungsführer beanstanden nur die Schmerzensgeldbemessung durch das Erstgericht, wobei sie jeweils gegensätzlich verschiedene Ermessens- und Bewertungsfehler rügen. Solche sind nach Auffassung des Senats aber nicht gegeben.

aa) Hierzu sind zunächst folgende Grundsätze der Schmerzensgeldrechtsprechung des Senats festzuhalten:

aaa) Ein Ermessensfehler kann in einem - praktisch kaum vorkommenden - Ermessensmißbrauch bestehen oder in einem Ermessensfehlgebrauch, der in drei Formen auftritt:

> als Ermessensnichtgebrauch (ein praktisches Beispiel für einen solchen Ermessensfehler ist die beliebte, gelegentlich leicht abweichend gefaßte Formulierung, ein Schmerzensgeld von x € „erscheine angemessen und ausreichend“; es handelt sich insoweit um eine unbrauchbare Leerformel (Senat, Beschl. v. 19.08.2014 - 10 U 2606/14 unter Hinweis auf Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 7. Aufl. 2014, Teil 1 Rz. 1061; Hinweisverfügung v. 16.02.2015 - 10 U 1319/14 [S. 8 unter 1 c]), wenn sonst keine nähere Begründung gegeben wird),

> als Heranziehungsdefizit (nicht alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Gesichtspunkte wurden in die Ermessensausübung eingestellt; Senat, Urt. v. 06.10.2006 - 10 U 1963/06; Hinweisverfügung v. 16.02.2015),

> als Ermessensdisproportionalität (einzelne oder mehrere Gesichtspunkte wurden nicht mit dem ihnen gebührenden Gewicht in die Ermessensausübung eingestellt; Senat, Hinweisverfügung v. 16.02.2015).

bbb) Auch ein Bewertungsfehler erfordert unter bestimmten Voraussetzungen ein Eingreifen des Berufungsgericht (Senat, Urt. v. 06.10.2006 - 10 U 1963/06).

(1) Maßstab ist folgender Grundsatz: Es ist bei der Schmerzensgeldbemessung jede Kleinlichkeit ebenso zu vermeiden wie die letztlich nicht begründbare Abänderung erstinstanzlicher Entscheidungen um Kleinbeträge (Senat in st. Rspr., zuletzt Beschluss vom 12.08.2015 - 10 U 1995/15. Eine Abänderung erfordert vielmehr eine „greifbare“ Fehlbewertung; insoweit lassen sich keine festen Beträge oder Prozentsätze angeben, maßgeblich ist vielmehr, ob sich der Erstrichter sich „in der Oktave vergriffen“ hat (vgl. Senat, Urt. v. 06.10.2006 - 10 U 1963/06; der Ausdruck wurde von Schmidt-Leichner auf dem 41. Dt. Juristentag 1955 geprägt [Verhandlungen Bd. 2, D 72]; vgl. zur Relevanz dieses Ansatzes für die Überprüfung von Schmerzensgeldbemessungen Teblitzky, Ist die Schmerzensgeldentscheidung revisibel? DAR 1971, 257 [260]).

(2) Ein solcher Bewertungsfehler mit dem Ziel der Erhöhung bzw. Herabsetzung des erstinstanzlich zugesprochenen Schmerzensgelds kann nicht nur mit Hinweisen auf angeblich vergleichbare Fälle begründet werden.

(1) §§ 253 II BGB, 11 S. 2 StVG sprechen von „billiger Entschädigung in Geld“. Da es eine absolut angemessene Entschädigung für nichtvermögensrechtliche Nachteile nicht gibt, weil diese nicht in Geld meßbar sind (BGH - GSZ -BGHZ 18, 149 [156, 164]; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa NZV 2014, 577 ff.), unterliegt der Tatrichter bei der ihm obliegenden Ermessensentscheidung von Gesetzes wegen keinen betragsmäßigen Beschränkungen (BGH VersR 1976, 967 [968 unter II 1]; Senat a. a. O.; Jaeger/Luckey, a. a. O. Teil 1 Rz. 1053).

Die in den Schmerzensgeldtabellen erfaßten „Vergleichsfälle.“

> bilden nur „in der Regel den Ausgangspunkt für die tatrichterlichen Erwägungen zur Schmerzensgeldbemessung“ (BGH VersR 1970, 134; 1970, 281 [dort betont der BGH weiter: „Inwieweit alsdann der Tatrichter die früheren Maßstäbe einhält oder - sei es unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, sei es im Zuge einer behutsamen Fortentwicklung der Rechtsprechung - überschreitet, liegt wiederum in seinem pflichtgemäßen, in der Revisionsinstanz nicht nachprüfbaren Ermessen.“]);

> sind nur im Rahmen des zu beachtenden Gleichheitsgrundsatzes als Orientierungsrahmen zu berücksichtigen (BGH VersR 1961, 460 ; 1964, 842 (843); 1967, 256 [257]; OLG Köln VersR 1978, 650 [„nur geringer Erkenntniswert“]; OLG Saarbrücken zfs 1999, 101; OLG Hamm NJW 2000, 3219 und zfs 2005, 122 [123]); OLG Karlsruhe VersR 2001, 1175; OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 - 12 U 714/02; OLG München [1. ZS], Beschluss vom 26.08.2005 - 1 W 2282/05 [juris]; OLGR 2006, 92; Senat a. a. O.; Mertins VersR 2006, 47 : „Anhaltspunkte mit einer erheblichen Streuweite“; Gei-gel/Pardey, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl. 2015, Kap. 7 Rz. 54: „Anhaltspunkte“; Bachmeier, Verkehrszivilsachen, 2. Aufl. 2010, Rz. 564: „Orientierungshilfe“; Hacks/ Wellner/Häcker, Schmerzensgeldbeträge, 33. Aufl. 2015, S. 20: „Anregung“ für die eigenverantwortliche Rechtsfindung; vgl. aus rechtstatsächlicher Sicht ebenso [618]Musielak VersR 1982, 613);

> sind aber keine verbindliche Präjudizien (BGH VersR 1970, 134; Senat a. a. O.; Jaeger/Luckey, a. a. O. Teil 1 Rz. 1057).

Deshalb können aus der Existenz bestimmter ausgeurteilter Schmerzensgeldbeträge keine unmittelbaren Folgerungen abgeleitet werden (Senat a. a. O.; OLG Hamm zfs 2005, [124]122). Verweise auf solche Vergleichsfälle ohne umfassende Herausarbeitung der Fallähnlichkeit, die neben den Verletzungen weitere 11 Variable, nämlich Geschlecht, Alter, Beruf, Vorschädigung, Empfindlichkeit, Einkommen und Vermögensverhältnisse des Geschädigten, sowie Verschulden, Einkommen, Vermögensverhältnisse und Versicherung des Schädigers zu berücksichtigen hat (Berger VersR 1977, 877 [878 unter II 3]), sind nicht weiterführend. Deshalb ist der vom Kläger schon in seiner Klageschrift vom 06.10.2014 (S. 7 = Bl. 7 d. A., 2. Abs.) gewählte Ausgangspunkt für seine Argumentation („Natürlich ist klar, dass die Bezifferung des Schmerzensgeldes grundsätzlich anhand von Vergleichsurteilen, die aus den gängigen Schmerzensgeldtabellen entnommen werden könne, erfolgt“) rechtsirrig.

ccc) Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt allgemein entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluß der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muß (BGH VersR 1976, 440; 1980, 975; 1988, 299; OLG Hamm zfs 2005, 122 ; Senat a. a. O.).

Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt (grdl. RG, Urt. v. 17.11.1882 - RGZ 8, 117 und BGH - GSZ - BGHZ 18, 149 ff. = NJW 1955, 1675 ff.; ferner BGH NJW 2006, 1068 [1069]; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]; Senat a. a. O.).

Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu (OLG Hamm zfs 2005, 122); OLG Brandenburg, Urt. v. 08.03.2007 - 12 U 154/06 [juris]; Senat a. a. O.).

bb) Diese allgemeinen Grundsätze zugrundegelegt, ist zu den beidseitigen Berufungen folgendes zu bemerken:

aaa) Berufung des Klägers

a) Genugtuungsfunktion des Schmerzensgelds

Die Erwägungen des Klägers sind im Ansatz zutreffend, gleichwohl nicht geeignet, einen Fehler des Ersturteil aufzuzeigen:

> Nach der Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Zivilsachen des Bundesgerichtshofs vom 6.7.1955 (BGHZ - GSZ - 18, 149 ff. = NJW 1955, 1675 ff. = VersR 1955, 615 ff.) kommt dem Schmerzensgeld ein Doppelcharakter zu - Ausgleich und Genugtuung. Daran hat der Bundesgerichtshof in der Folgezeit festgehalten (so etwa in VersR 1967, 256; NJW 1976, 1147 (unter II pr.); VersR 1978, 36; BGHZ 128, 117 = NJW 1995, 781; NJW 2004, 1243; ebenso etwa KG VersR 2002, 1567).

Allerdings tritt die Genugtuungsfunktion in Verkehrsunfallsachen in der Regel (aber nicht stets, vgl. OLG München [7. ZS] NJW-RR 1999, 820) zurücktritt (Senat VersR 1966, 170; 1989, 1056; OLG Frankfurt a. M. VersR 1993, 1033 (red. Ls.); KG NZV 2002, 230; 2002, 398; OLG Koblenz, Urt. v. 17.11.2003 - 12 U 1186/02 [juris, dort Rz. 37]; OLG Celle NJW 2004, 1185; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415). Sie ist nur in Fällen grober Fahrlässigkeit oder Vorsatzes relevant (vgl. BGHZ 83, 71 [76] = NJW 1982, 985; OLG Köln VerkMitt. 2000, 70 [nur Ls.]; OLG Koblenz, Urt. v. 17.11.2003 - 12 U 1186/02 [juris, dort Rz. 37]).

> Das LG München I hat diese Grundsätze beachtet (EU 6 unter 1 a) a. E.). Der Kläger behauptet BB 3 = Bl. 79 d. a. (letzter Abs.) zwar, das Erstgericht habe auch diesem Bewertungskriterien „nicht in vollem Umfang Rechnung getragen“, versagt sich aber jede Begründung.

ß) Allgemeines Schmerzensgeldniveau und Vergleichsfälle

(1) Was das allgemeine Schmerzensgeldniveau angeht, sind die Erwägungen des Klägers, insbesondere in Verbindung mit der von ihm gezogenen 10-Jahres-Grenze (dazu auch nachfolgend 2) aus rechtshistorischer Sicht fehlsam.

Maßgeblich für die kontinuierliche Anhebung der Schmerzensgeldbeträge war nicht die Entscheidung des LG München I aus dem Jahr 2001 im Verfahren 19 O 8467/00 (NJW-RR 2001, 1246) (ganz abgesehen davon, daß die kurzschlüssige Verkopplung des Schmerzensgeldes mit der allgemeinen Preisentwicklung in diesem Urteil fehlerhaft ist, vgl. Geigel/Pardey a. a. O. Kap. 7 Rz. 55). Die Rechtsprechung verfuhr bei der Bemessung von Schmerzensgeld nach gravierenden Verletzungen vielmehr schon seit Ende der 1960er Jahre (siehe eingehend OLG Karlsruhe VersR 1969, 1123) deutlich großzügiger als früher (zu dieser Tendenz ferner OLG Köln VersR 1992, 1013 [!] und 1995, 549 [!]; Senat, Urt. v. 01.07.2005 - 10 U 2544/05, st. Rspr., zuletzt etwa SP 2011, 107 und Urteil vom 22.03.2013 - 10 U 3619/10 [juris, dort Rz. 49]; OLG Nürnberg VersR 2009, 71 [73 unter 2]; OLG Frankfurt a. M. NJW-RR 2009, 1684 [1685]; LG Lübeck, Urteil vom 09.07.2010 - 9 O 265/09 [juris, dort Rz. 44-46]). Die Unrichtigkeit der klägerischen Verortung des Paradigmenwechsels in der Schmerzensgeldbemessung erhellt schließlich aus der Entscheidung des BGH in VersR 1976, 967 (968), wo er die Berücksichtigung eines solchen Wandels ausdrücklich gebilligte.

(2) Diese Korrektur der Rechtsentwicklung entzieht auch dem weiteren Argument des Klägers, es dürfe „keinesfalls auf Entscheidungen zurückgegriffen werden [..], die älter als zehn Jahre sind“ (BB 4, 1. Abs.) den Boden. Der Kläger hat dieses Argument aus dem bereits oben S. 4 nachgewiesenen Handbuch von Jaeger/Lu-ckey übernommen (vgl. dort schon das Vorwort zur 1. Aufl. 2003 und eingehend jetzt Teil 1 Rz. 1068). Es hätte den Kläger und seinen Prozeßbevollmächtigten nachdenklich stimmen müssen, daß Jaeger/Luckey selbst einräumen, daß sie mit ihrem Ansatz keine Gefolgschaft gefunden haben. Im übrigen verkennt der Kläger, daß es, wie oben S. 4/5 eingehend dargestellt, gar nicht entscheidend auf ankommt, ob und welche „Vergleichsfälle“ es gibt.

(3) Nicht zielführend ist schließlich der Verweis des Klägers (BB 4 = Bl. 80 d. A., 2. Abs.) auf die Entscheidung BGHZ 132, 341 (350 f.) = NJW 1996, 2425 = VersR 1996, 990. Der BGH begründet dort nur, daß die Größenordnungsangabe in einer Klage, wenn sie nicht als Obergrenze formuliert ist, trotz § 308 I ZPO keine Begrenzung nach oben darstellt. Unrichtig ist auch die im Zusammenhang mit dieser Entscheidung aufgestellte Behauptung „erstmal [habe] die Anwaltschaft deshalb sehr vorsichtig Schmerzensgelder beziffert, um keine kostenpflichtige (Teil-)Abweisung der Klage zu riskieren“. In der gennannten Entscheidung (Rz. 33 bei juris) wird unter Bezugnahme auf die st. Rspr. des BGH seit VersR 1974, 1182 betont, daß auch bei unbezifferten Leistungsanträgen nicht nur die tatsächlichen Grundlagen, sondern auch die Größenordnung des geltend gemachten Betrages so genau wie möglich angeben werden müßten.

bbb) Berufung der Beklagten

a) Vergleichsfälle

Zu Bedeutung von Vergleichsfälle ist schon das Erforderliche gesagt. Es ist völlig gleichgültig, ob das Erstgericht zwei oder mehrere Entscheidungen herangezogen hat und ob diese „passen“, was, wie ober schon dargelegt, strukturbedingt nie wirklich der Fall sein kann. Entscheidend ist nur, ob der gefundene Betrag angemessen ist.

ß) Prozeßverhalten der Beklagten

Das LG München I hat zu Recht das prozessuale Verhalten der Beklagten schmerzensgelderhöhend gewürdigt.

(1) Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, insbesondere auch des erkennenden Senats gilt: Unvertretbares (vor-)prozessuales Verhalten ist, wenn es über die verständliche Rechtsverteidigung hinausgeht (so zu Recht Bachmeier Rz. 562; Senat, Urt v. 30.06.1976 - 10 U 1571/76 [juris]) und von einem Geschädigten als herabwürdigend empfunden werden muß (Senat, Urt. v. 02.06.2006 - 10 U 1685/06 [juris]; Urt. v. 24.09.2010 -10 U 2671/10 [juris]), grds. unter dem Gesichtspunkt der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes schmerzensgelderhöhend zu würdigen (vgl. aus der Rechtsprechung vgl. etwa OLG Nürnberg VersR 1997, 1108 [Vorwurf der Alkoholisierung]; OLG Naumburg VersR 2004, 1423 [Vorwurf der Arbeitsverweigerung, Schwarzarbeit]; OLG Köln OLGR 2003, 214 [5 Jahre währendes Leugnen der Verantwortung durch den Schädiger]), unreflektierte und nicht überprüfte Übernahme der Darstellung des eigenen Versicherungsnehmers [OLG Karlsruhe NJW 1973, 851]; Spekulation des Versicherers, der Geschädigte werde die Ablehnung des Versicherungsschutzes hinnehmen [OLG Naumburg VersR 2004, 1423]; Stellen einer Erlaßfalle [LG Berlin NZV 2006, 2006]; Versuch, einen Abfindungsvergleich zu erzwingen [OLG Frankfurt a. M. NVersZ 1999, 144]; Einlegen eines offensichtlich unbegründeten Rechtsmittels [vgl. BGH VersR 1970, 134 [135: langjähriger Prozeß]).

(2) Der Berufungsvortrag (BB 4 = Bl. 76 d.A.), daß es der Beklagten unbenommen sein muß, zu den Bemessungsvariablen vorzutragen, geht ins Leere. Es handelt sich hierbei nur um den Versuch, den vom Erstgericht zu Recht inkriminierte Vortrag der Beklagten im Schriftsatz vom 30.01.2015 (Bl. 35/38 d. A.) vergessen zu machen. Die Beklagten führten dort, nachdem sie akri-bisch und durchaus sachlich den beruflichen Werdegang des Klägers referiert hatten, ohne nachvollziehbarem sachlichen Grund aus: „Es muss damit ganz klar gesagt werden, dass der Kläger bereits vor dem streitgegenständlichen Unfall ein perspektivloses Leben in einem ländlichen Randgebiet von Deutschland geführt hat.“

Die Beklagte hat damit genau das zum Ausdruck gebracht, was das Erstgericht in seinem Urteil beschrieben hat. Der Kläger wurde als hinterwäldlerischer Taugenichts abqualifiziert. Dabei ist besonders zu wür digen, daß der Vortrag nicht einer spontanen Reaktion in einer mündlichen Verhandlung geschuldet war, sondern wohlüberlegt schriftsätzlich erfolgte. Solchen Ausführungen ist der Senat stets mit allem gebotenen Nachdruck entgegengetreten (in einem Fall, wo ein Einzelrichter ähnlich abfällige Bemerkungen über eine Klägerin machte, setzte er ein mündliche Verhandlungen an, u.a., um sich bei der Klägerin zu entschuldigen). Das Verhalten der Beklagten entspricht strukturell dem, welches der Senat im Verfahren 10 2671/10 zu beurteilen hatte. Dort hatte sich die beklagte Versicherung bemüßigt gefühlt, vortragen zu lassen, „dass sich der Kläger im Leben doch gut eingerichtet habe (und deshalb das Schmerzensgeld von 65.000,- € ausreichend sei), er sogar durch den Kündigungsschutz für Schwerbehinderte durch den Unfall quasi einen Vorteil erlangt hat“. Der Senat hat dazu in seinem bei juris veröffentlichten Urteil ausgeführt: Damit „verlässt sie [die Beklagte] den noch akzeptablem Rahmen verständlicher Rechtsverteidigung. Ein derartiges Verhalten muss schmerzensgelderhöhend berücksichtigt werden (vgl. Senat, Urt. v. 30.06.1976 - 10 U 1571/76 [Juris] = VersR 1977, 262 [nur Ls.]), wenn es wie hier von einem Geschädigten als herabwürdigend empfunden werden muss (Senat, Urt. v. 02.06.2006 - 10 U 1685/06 [Juris]; Hinweis v. 25.09.2006 - 10 U 3661/06). Auch ändert sich an dieser Einschätzung nichts, wenn die Beklagte nun im Schriftsatz vom 27.08.2010 beteuert, dass sie die schwerwiegende Verletzung des Klägers nicht verharmlosen wollte. Dieses Bekenntnis ist im Lichte der Hinweise im Termin zu sehen, dass der Senat das Verhalten der Beklagten als schmerzensgelderhöhend angesehen hat.“ Der Senat hatte das erstinstanzliche Urteil auch und gerade im Hinblick hierauf für zutreffend erachtet.

(3) Bei unvertretbarem (vor-)prozessualen Verhalten ist eine Erhöhung von 20% (Senat, Urt. v. 15.06.2007 - 10 U 5176/06 (juris); OLG Schleswig, Urt. v. 23.02.2011 -7 U 106/09 (juris, dort Rz. 50); LG Saarbrücken zfs 2001, 255) die Untergrenze. Es sind auch schon Erhöhungen um 33% (OLG Karlsruhe NJW 1973, 851) bis 100% (OLG Frankfurt a. M. NJW 1999, 2447; OLG Düsseldorf VersR 2000, 457) ausgesprochen worden.

ccc) Zusammenfassende Beurteilung

Aus alledem erhellt, daß der Senat aufgrund eigenständiger Überprüfung (vgl. dazu BGH NJW 2006, 1589 ff.; Senat, Urt. v. 30.07.2010 - 10 U 2930/10 [juris]) der Ansicht ist, daß das zuge sprochene Schmerzensgeld durchaus angemessen ist. Der Senat tritt, wie soeben dargelegt, insbesondere der vom Erstgericht vorgenommenen Berücksichtigung des unvertretbarem prozessualen Verhaltens der Beklagten bei.

III. Da, wie aus dem Vorstehenden erhellt, auch die Voraussetzungen des § 522 II 1 Nr. 2 und 3 ZPO vorliegen, beabsichtigt der Senat, beide Berufungen gem. § 522 II 1 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.

Die Zurückweisung ist nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut des Gesetzes anders als im Verwaltungsgerichtsprozeß (§ 130 a VwGO; vgl. dazu grdl. BVerwG NVwZ 1996, 1102 und zur Ermessensausübung eingehend Schoch/Schnei-der/Bier/'Meyer-Ladewig/Rudisile, VwGO, [Stand] 2014, § 130 a Rz. 5) nicht in das Ermessen (in Form des Auswahlermessens zwischen dem Beschluss- und dem Urteilsverfahren) des Berufungsgerichts gestellt. Dem steht nicht entgegen, daß der Rechtsausschuß des Bundestages (Beschlußempfehlung, a. a. O.) und ihm folgend etwa Baumert (MDR 2011, 1155 [1146 unter 2 b]) mit der Formulierung einer Sollvorschrift nur ein „freies Ermessen“ des Berufungsgericht ausgeschlossen sehen wollen und in der Vorschrift die Festlegung eines „gebundenen Ermessens“ sehen. Sollvorschriften sind im Zivilprozeßrecht grundsätzlich zwingend (BAG NJW 2012, 2376 [2378 unter Tz. 23] zu § 6 S. 2 KSchG]; BayVerfGH NJW 1962, 627 [628 unter V 2 b bb ganz allgemein]; BayObLG Rpfleger 1981, 76; Wieczorek/Schütze/Prütting, a. a. O. Einl. Rz. 126; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 7 Rz. 7); sie unterscheiden sich von Mußvorschriften nur darin, daß ihre Verletzung durch das Gericht die Handlung in der Regel nicht anfechtbar macht (grdl. Heilbut, „Müssen“ und „Sollen“ in der Deutschen Civilprozeßordnung, in: AcP 69 [1886] 331433; Wieczorek/Schütze/Prütting, a. a. O.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, a. a. O.; vgl. auch Stickelbrock, Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess, Köln 2002, S. 8 ff. [unter § 2 I 1]). Ihr Sinn besteht darin, einer etwaigen atypischen Einzelfallgestaltung Rechnung zu tragen (vgl. für das Verwaltungsrecht BVerwGE 10, 117 [118] ; 49, 16 [23]; 56, 220 [223]); 64, 318 [323]; 90, 88 [93]; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.07.2008 - 11 S 158/08 [juris]).

Eine atypische Fallgestaltung im vorgenannten Sinne, etwa dergestalt, daß eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung das Verfahren nicht verzögern würde, weil die mündliche Verhandlung zeitnah erfolgen könnte (vgl. Beschlußempfehlung, a. a. O.), ist vorliegend nicht gegeben: Angesichts der Notwendigkeit, bei Anberaumung einer mündlichen Verhandlung eine Berufungserwiderungsfrist (§ 521 II 1 ZPO) von grundsätzlich mindestens einem Monat (vgl. dazu eingehend Doukoff, a. a. O. Rz. 1015) sowie in der Regel einer Replikfrist (vgl. § 521 II 1 ZPO) von wenigstens drei Wochen zu setzen sowie des gegenwärtigen Terminsstandes des Senats müßte mit einer wenigstens drei- bis vierfach längeren Verfahrensdauer gerechnet werden. Anhaltspunkte für eine sonstige atypische Fallgestaltung sind nicht ersichtlich.

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2 Referenzen - Urteile
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published on 16/02/2012 00:00

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 1. Juni 2011 wird zurückgewiesen. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen. Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistu
published on 29/07/2008 00:00

Tenor Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 6. Dezember 2007 - 3 K 2586/07 - wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
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Annotations

Das Recht ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.

Hat ein Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung im Klagewege geltend gemacht, dass eine rechtswirksame Kündigung nicht vorliege, so kann er sich in diesem Verfahren bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf innerhalb der Klagefrist nicht geltend gemachte Gründe berufen. Das Arbeitsgericht soll ihn hierauf hinweisen.