Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Urteil, 25. Jan. 2013 - L 3 AL 4/11
Gericht
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 2. Dezember 2010 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer nach § 421j Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in der ab 1. Mai 2007 geltenden Fassung des Gesetzes vom 19. April 2007, BGBl. I S. 538 (ab 1. April 2012 geregelt in § 417 SGB III).
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Die ... 1956 geborene Klägerin war von 1998 bis zum 30. September 2006 in Vollzeit (zuletzt 40 Wochenstunden) als Bürokauffrau bei der Firma H... Landtechnik in B... beschäftigt. Das beitragspflichtige Bruttoentgelt betrug zuletzt 2.240,00 EUR monatlich. Vom 1. bis 23. Oktober 2006 arbeitete die Klägerin wiederum in Vollzeit (40 Wochenstunden) als Bürokauffrau bei der Firma Ha... GmbH in Ba... und erhielt für diese Zeit ein Bruttoarbeitsentgelt von 1.686,67 EUR. Das Beschäftigungsverhältnis wurde arbeitgeberseitig aus betrieblichen Gründen gekündigt. Am 26. Oktober 2006 meldete die Klägerin sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg), das die Beklagte ihr antragsgemäß bei einer Anspruchsdauer von 360 Tagen bewilligte.
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Am 19. Juni 2007 stellte die Klägerin einen Antrag auf Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer und gab an, am 20. Juni 2007 bei dem V... A... K... GmbH in Ba... eine Beschäftigung als Bürokauffrau im Umfang von 15 Wochenstunden bei einem Bruttoarbeitsentgelt von 412,00 EUR monatlich aufzunehmen. Wegen der Aufnahme der Beschäftigung hob die Beklagte die Bewilligung von Alg mit Wirkung ab 20. Juni 2007 auf (Bescheid vom 2. Juli 2007). Es verblieb ein Restanspruch auf Alg für 125 Tage. Die Beklagte hatte Zweifel, ob das Entgelt in Höhe von 412,00 EUR der tariflichen oder ortsüblichen Entlohnung entsprach, zumal die Klägerin bei den vorherigen Tätigkeiten als Bürokauffrau deutlich höhere Entgelte erzielt hatte (bei der Firma H... auf 15 Wochenstunden umgerechnet ca. 840,00 EUR, bei der Firma Ha... umgerechnet ca. 825,00 EUR). Auf telefonische Nachfrage gab der Arbeitgeber gegenüber der Beklagten an, dass es sich bei den 412,00 EUR um den ortsüblichen Lohn handele. Ausweislich eines Aktenvermerks benannte die Gewerkschaft verdi gegenüber der Beklagten auf Nachfrage als einschlägigen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag den Gehaltstarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe in der ab 1. April 2007 geltenden Fassung mit einem im ungünstigsten Falle geltenden Lohn von 1.950,00 EUR monatlich (umgerechnet auf 15 Wochenstunden: 731,26 EUR).
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Mit Bescheid vom 26. Juli 2007 lehnte die Beklagte den Antrag auf Entgeltsicherung mit der Begründung ab, dass die Klägerin während ihrer Beschäftigung keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt habe, das den tariflichen oder - wenn eine tarifliche Bindung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht bestehe - den ortsüblichen Bedingungen entspreche (§ 421j Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III). Zur weiteren Begründung verwies die Beklagte auf die Differenz zwischen den vereinbarten 412,00 EUR und dem vorbenannten tariflichen Lohn.
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Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, dass das Arbeitsentgelt von 412,00 EUR bei 15 Wochenstunden aus ihrer Sicht durchaus ortsüblichen Bedingungen entspreche. Selbst auf dem Portal der Arbeitsagentur würden Beschäftigungen angeboten, die in diesem Rahmen lägen. Hierzu übersandte die Klägerin eine Aufstellung über fünf Stellenangebote mit einem Stundenlohn zwischen 6,00 EUR und 8,72 EUR, in vier Fällen bei geforderten und bei ihr nach eigenen Angaben nicht vorhandenen Englischkenntnissen. Des Weiteren wies die Klägerin darauf hin, dass sie zwar ausgebildete Bürokauffrau sei, aber nicht über Kenntnisse aus der Versicherungsbranche verfüge. Erst nach Aneignung derartiger Kenntnisse werde sie eine vollwertige Unterstützung für das Unternehmen sein können.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 9. August 2007 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie führte aus: Nach dem Gehaltstarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe in der ab dem 1. April 2007 geltenden Fassung betrage das monatliche Gehalt für Angestellte der Gehaltsgruppe I im ersten Berufsjahr bei einer 38-Stunden-Woche bereits 2.009,00 EUR. Erst die Gehaltsgruppe IV mit einem Anfangsgehalt von 2.142,00 EUR im ersten Berufsjahr setze eine Ausbildung als Versicherungskauffrau oder vergleichbare Ausbildung voraus. Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 Stunden betrage das Tarifgehalt 793,03 EUR. Das tatsächliche Gehalt von 412,00 EUR liege 48,05% unter dem im Bundesgebiet geltenden Tariflohn des privaten Versicherungsgewerbes. Eine Förderung scheide damit nach § 421j Abs. 1 Nr. 2 SGB III aus.
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Die Klägerin, die seinerzeit weiterhin mit Hauptwohnsitz in S... gemeldet war, hat am 31. August 2007 bei dem Sozialgericht (SG) Schleswig Klage erhoben. Zuvor hatte die Beklagte dem Arbeitgeber mit Bescheid vom 6. Juli 2007 antragsgemäß für die Dauer von 12 Monaten einen Eingliederungszuschuss für die Einstellung der Klägerin in Höhe von 148,32 EUR monatlich bewilligt (§ 421f SGB III a.F.).
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Am 15. Februar 2009 hat der Geschäftsführer der V... A... K... GmbH bei dem Amtsgericht Charlottenburg unter dem Aktenzeichen 36v IN 669/09 einen Insolvenzantrag gestellt.
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Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht: Der Manteltarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe sei - wie sich auch aus dem entsprechenden Verzeichnis des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ergebe - nicht allgemeinverbindlich. Es liege auch keine Tarifgebundenheit vor; auch sonst könne hier nicht auf den Tarifvertrag zurückgegriffen werden. Die Beklagte verkenne, dass es sich bei dem V... A... K... nicht um ein Versicherungsunternehmen im Sinne des Manteltarifvertrages handele. Die Firma berate Privatpersonen und Unternehmen zu Fragen des Versicherungsschutzes und vermittele diese bei entsprechendem Kundeninteresse, wobei dann mit einer Vielzahl von Versicherungsunternehmen zusammengearbeitet werde. Es komme somit hier allein entscheidend auf die Ortsüblichkeit des Entgelts an. Die Ortsüblichkeit könne hier nicht in Zweifel gezogen werden. Zum einen werde insoweit auf die Stellungnahme des Arbeitgebers Bezug genommen; zum anderen werde auf Stellenangebote der Ba...er Arbeitsagentur verwiesen, die für Vollzeitarbeitsplätze als Bürokauffrau, Industriekauffrau und Büromitarbeiter eine Vergütung von 1.200,00 EUR brutto auswiesen. Umgerechnet auf 15 Wochenstunden errechne sich eine in etwa dem vorliegenden Fall vergleichbare Vergütung. Die hier getroffene Vergütungsvereinbarung entspreche von ihrer Struktur her den üblichen Konditionen in den neuen Bundesländern, insbesondere im Raum Ba.../Bb... Hinzuweisen sei auch darauf, dass sie als im Versicherungsgewerbe fachfremde Arbeitskraft nur Aushilfsarbeiten ausgeführt habe (Telefondienst, Postverteilung, Briefsortierung und Überwachung von Zahlungseingängen).
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Bescheid vom 25. Juli 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. August 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin antragsgemäß Leistungen der Entgeltsicherung gemäß § 421j SGB III für die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung hat sie den Inhalt angefochtenen Bescheide ausführlich weiter vertieft. Zu dem dem Arbeitgeber gewährten Eingliederungszuschuss hat sie geltend gemacht, dass diese Bewilligung fehlerhaft sei. Denn es sei versehentlich nicht geprüft worden, ob der Monatslohn ortsüblich sei.
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Das SG hat ein schriftliches Sachverständigengutachten des Diplom-Verwaltungswirts L... zu der Frage eingeholt, wie hoch das ortsübliche Entgelt im Rahmen einer ortsüblichen Vollzeitbeschäftigung als Bürokauffrau im Versicherungs- und Finanzgewerbe im Jahr 2007/2008 in Ba... gewesen ist. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 20. Mai 2010 Bezug genommen. Zusammenfassend hat der Sachverständige die Ortsüblichkeit der hier vereinbarten Vergütung verneint.
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Die Klägerin ist den Ergebnissen des Gutachtens im Einzelnen entgegengetreten. Dabei hat sie die Kompetenz des in E... wohnhaften Sachverständigen für den hier maßgeblichen Ba...er Arbeitsmarkt in Zweifel gezogen und geltend gemacht, dass der Sachverständige nicht einschlägige bzw. vergleichbare Maßstäbe herangezogen habe. Auch sei unberücksichtigt geblieben, dass sie faktisch nur Aushilfstätigkeiten verrichtet habe. Die vom Sachverständigen herangezogenen tariflichen Regelungen könnten hier keine Berücksichtigung finden.
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Nach mündlicher Verhandlung am 2. Dezember 2010, zu der der prozessleitend geladene Sachverständige aus Witterungsgründen nicht erscheinen konnte, hat das SG der Klage mit Urteil vom selben Tage stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig und begründet. Die Klägerin habe dem Grunde nach Anspruch auf Entgeltsicherungsleistungen gemäß § 421j SGB III. Streitig sei hier allein, ob das von der Klägerin bezogene Arbeitsentgelt dem erforderlichen Mindestentgelt entspreche; die übrigen Anspruchsvoraussetzungen seien erfüllt. An der Geltung eines Tarifvertrages fehle es hier mangels Tarifgebundenheit des Arbeitgebers. Entscheidungserheblich seien somit die ortsüblichen Bedingungen der Entlohnung einer Bürokauffrau in Ba... Trotz Unbeachtlichkeit hypothetisch geltender Tarifverträge ergäben sich aus diesen Verträgen Anhaltspunkte für die Wertigkeit von Arbeit im jeweiligen Wirtschaftsbereich. Liege die ortsübliche Vergütung unterhalb des Tariflohns, dürfe keine Sittenwidrigkeit im Sinne von § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vorliegen; die Lohnwuchergrenze des § 138 Abs. 2 BGB dürfe nicht unterschritten werden, wenn ein Anspruch auf Entgeltersatzleistungen begründet werden solle. Denn eine Förderung in Form einer Lohnsubventionierung für eine sittenwidrige Beschäftigung komme nicht in Betracht. Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass der von der Klägerin erzielte Stundenlohn von 6,34 EUR für die Beschäftigung in Ba... nicht sittenwidrig gewesen sei. Die gegenteilige Auffassung des berufskundigen Sachverständigen überzeuge die Kammer nicht. Letztlich gehe die Kammer davon aus, dass ein den ortsüblichen Bedingungen entsprechendes Entgelt im Sinne von § 421j SGB III anzunehmen sei, wenn es nicht im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB sittenwidrig sei. Ein auffälliges Missverhältnis für ein Beschäftigungsverhältnis in Ba..., das Sittenwidrigkeit begründe, sei immer dann anzunehmen, wenn das Arbeitsentgelt bei Vollzeitarbeit unter dem Grundsicherungsniveau nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für eine volljährige alleinstehende Person ohne Unterhaltsverpflichtungen, grundsicherungsrechtlich angemessener durchschnittlicher Unterkunft und uneingeschränkter Erwerbsfähigkeit liege. Die Kammer folge insoweit dem SG Berlin, das für 2010 die Grenze der Sittenwidrigkeit bei einer Vollzeitbeschäftigung und einer monatlichen Bruttovergütung von weniger als 1.035,00 EUR (netto 804,00 EUR) und einem Stundenlohn von 6,20 EUR bei einer 38,5-Stunden-Woche angenommen habe. Für 2006 habe das SG Berlin eine Mindestvergütung von monatlich brutto 1.050,00 EUR ausgehend von einem Existenzminimum von 795,00 EUR zugrunde gelegt (Urteil vom 27. Februar 2006, S 77 AL 742/05). Die Klägerin habe 2007 ein Bruttoentgelt von 412,00 EUR bei einer 15-Stunden-Woche erhalten; dies entspreche einem Stundenlohn von 6,34 EUR und einem monatlichen Bruttolohn von 1.098,93 EUR (netto 825,00 EUR). Nach den Maßstäben des SG Berlin sei damit unter Berücksichtigung des Grundsicherungsniveaus für 2007 keine sittenwidrige Entlohnung anzunehmen. Die Überlegungen der Kammer würden auch durch den früheren Arbeitgeber der Klägerin zur Ortsüblichkeit der Entlohnung bestätigt und durch die eigenen Recherchen der Klägerin im Widerspruchs- und Klageverfahren gestützt. Letztlich habe die Beklagte auch dem Arbeitgeber antragsgemäß einen Eingliederungszuschuss gewährt, für den ebenfalls ein tarifliches oder ortsübliches Entgelt vorausgesetzt werde.
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Gegen diese ihr am 3. Januar 2011 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 2. Februar 2011 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) eingegangene Berufung der Beklagten.
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Zur Begründung macht sie geltend: Sie sei weiterhin der Auffassung, dass das gesetzliche Erfordernis der tariflichen oder jedenfalls ortsüblichen Entlohnung hier nicht erfüllt sei. Trotz grundsätzlicher Unbeachtlichkeit von hypothetisch geltenden Tarifverträgen könnten sich aus ihnen Anhaltspunkte für die ortsübliche Entlohnung insoweit ergeben, als die Lohnwuchergrenze nicht unterschritten werden dürfe, um den Entgeltsicherungsanspruch zu begründen (vgl. Leopold in BeckOnline SGB III § 421j Rn. 12-14). Ergänzend werde auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung vom 2. Dezember 2010 in einem Parallelverfahren (Aktenzeichen S 4 AL 78/07) Bezug genommen, in der das SG ausgeführt habe, dass Entgeltsicherungsleistungen ausschieden, wenn anstelle des Tariflohns ein untertarifliches Arbeitsentgelt vereinbart werde, das in der Folge zu Lasten der Versichertengemeinschaft durch Sozialleistungen aufgestockt werde. Die Beklagte schließe sich auch den Ausführungen des Sachverständigen L... an, wonach das von der Klägerin erwirtschaftete Arbeitsentgelt, das über 20 % unter den tariflichen Regelungen liege, nicht mehr als ortsüblich angesehen werden könne. Nach der hier streitigen Beschäftigung habe die Klägerin auch nahtlos eine neue Beschäftigung als kaufmännische Angestellte aufgenommen, deren Vergütung vergleichbar gewesen sei mit derjenigen, die der Alg-Bemessung zugrunde gelegen habe. Es werde auch nochmals darauf hingewiesen, dass ein Eingliederungszuschuss für das unterbezahlte Arbeitsverhältnis nicht hätte gewährt werden dürfen; eine Rücknahme sei allerdings nicht möglich.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 2. Dezember 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie stützt das angefochtene Urteil, wiederholt und vertieft ihre bisherige Rechtsauffassung und kritisiert weiterhin die von dem Sachverständigen L... beschriebene Einschätzung.
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Der Senat hat von dem Sachverständigen L... unter Hinweis auf die von der Klägerin geäußerte Kritik an seinem Gutachten eine ergänzende Stellungnahme vom 1. März 2012 eingeholt. Inhaltlich hält der Sachverständige darin an seiner dem SG vorgelegten Stellungnahme fest. Die Beklagte sieht sich durch die ergänzende Stellungnahme in ihrer Rechtsauffassung bestätigt; die Klägerin tritt auch den ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen entgegen. In der Berufungsverhandlung am 25. Januar 2013 hat der Senat Herrn L... erneut als Sachverständigen gehört; wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Verhandlungsniederschrift sowie auf die nachgereichte Zusammenfassung der Aussage Bezug genommen.
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Dem Senat haben die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Gerichtsakten vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird hierauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Eine Beschränkung der Berufung liegt nicht vor, weil die Klägerin Leistungen der Entgeltsicherung für die Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses - also vom 20. Juni 2007 bis zumindest zum Tage des Insolvenzantrags am 15. Februar 2009 (die genaue Dauer der Beschäftigung ist nicht bekannt) beantragt. Damit geht es um Leistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
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Die Berufung ist auch begründet. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer zu Recht abgelehnt, weil die Klägerin während ihrer Beschäftigung als Bürokauffrau in Ba... keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt hatte, das tariflichen oder - ortsüblichen Bedingungen entsprach (§ 421j Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III). Das erstinstanzliche Urteil, das im Ergebnis die gegenteilige Auffassung vertritt, ist deshalb aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.
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Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 421j SGB III in der ab 1. Mai 2007 geltenden Fassung des Gesetzes vom 19. April 2007 (BGBl. I S. 538). Nach Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift haben Arbeitnehmer, die das 50. Lebensjahr vollendet haben und ihre Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung beenden oder vermeiden, Anspruch auf Leistungen der Entgeltsicherung, wenn sie 1. einen Anspruch auf Alg von mindestens 120 Tagen haben oder geltend machen können, 2. ein Arbeitsentgelt beanspruchen können, das den tariflichen oder, wenn eine tarifliche Bindung der Vertragsparteien nicht besteht, den ortsüblichen Bedingungen entspricht und 3. eine monatliche Nettoentgeltdifferenz von mindestens 50,00 EUR besteht. Die Klägerin war nach Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses bei der Firma Ha... GmbH seit dem 24. Oktober 2006 arbeitslos (Arbeitslosmeldung vom 26. Oktober 2006); bei Aufnahme der Beschäftigung bei dem V... A... K... am 20. Juni 2007 bestand noch ein Alg-Anspruch für 125 Tage. Die erforderliche Nettoentgeltdifferenz (vgl. dazu die nähere Definition in § 421j Abs. 1 Satz 2 SGB III) ist - worüber die Beteiligten zu Recht nicht streiten - gegeben.
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Die Klägerin konnte aber für ihre Beschäftigung bei dem V... A... K... kein Arbeitsentgelt beanspruchen, das den tariflichen oder, wenn eine tarifliche Bindung der Vertragsparteien nicht besteht, den ortsüblichen Bedingungen entsprach. Die Parteien des Arbeitsvertrages sind - worüber die Beteiligten zu Recht nicht mehr streiten - nicht tarifgebunden; auf die hierzu gemachten und von den Beteiligten nicht (mehr) in Abrede gestellten zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die allerdings zu der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung von § 421j SGB III (BGBl. 2002 I S. 4607) ergangen ist, wonach bei Nichtbestehen einer tariflichen Regelung auf das ortübliche Entgelt abzustellen war, ist das ortsübliche Arbeitsentgelt nur dann und nur hilfsweise maßgeblich, wenn keine Tarifgebundenheit vorliegt und auch nicht auf einen Tarifvertrag zurückgegriffen werden kann, der für das Arbeitsverhältnis gelten würde, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden wären (Urteil vom 8. Februar 2007, B 7a AL 22/06 R, SozR 4-4300 § 324 Nr 3). Diese Rechtsprechung ist hier nicht (mehr) anwendbar, weil die hier maßgebliche Gesetzesfassung das ortsübliche Arbeitsentgelt schon bei Nichtbestehen einer tariflichen Bindung der Vertragsparteien für maßgeblich erklärt. Im Übrigen würde der allein in Betracht kommende Tarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe nicht einschlägig sein, weil das V... A... K... kein eigenes Versicherungsgeschäft betrieben hat und es auch nicht überwiegend für eine Muttergesellschaft (Versicherungsunternehmen) tätig war.
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Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist der Senat jedoch davon überzeugt, dass das Arbeitsentgelt der Klägerin (monatlich 412,00 EUR brutto bei einem Beschäftigungsumfang von 15 Wochenstunden) nicht den ortsüblichen Bedingungen entsprochen hat. Hierzu ist von einem rechnerischen Stundenlohn von 6,34 EUR auszugehen (15 Stunden x 13 Wochen : 3 Monate = 65 Stunden im Monat; 412,00 EUR : 65 Stunden = 6,34 EUR pro Stunde). Für exakt diesen Stundenlohn hat das SG Berlin in Fortführung seiner vom SG Schleswig zitierten Rechtsprechung bei einer Vollzeitbeschäftigung (38,5-Stunden-Woche) die Sittenwidrigkeit der Vergütung angenommen (Beschluss vom 19. September 2011, S 55 AS 24521/11 ER [juris]), wobei diese Entscheidung allerdings das Kalenderjahr 2011 betrifft und insoweit hier (noch) nicht unmittelbar einschlägig ist. Für das Kalenderjahr 2007 kommt der Senat jedoch - wenn auch mit anderer Begründung - zu demselben Ergebnis. Denn der Senat hält die von dem Sachverständigen L... gemachten Ausführungen für überzeugend und schließt sich ihnen ausdrücklich an.
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Insbesondere ist auch der Senat der Auffassung, dass Tarifverträge auch bei fehlender Tarifgebundenheit des in Rede stehenden Betriebes bei der Prüfung der Ortsüblichkeit herangezogen werden können, weil sich aus ihnen Anhaltspunkte für die Wertigkeit von Arbeit im jeweiligen Wirtschaftsbereich ergeben. Auf die hierzu vom SG gemachten Ausführungen kann insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen werden. Der Senat ist auch der Auffassung, dass hier bei der Heranziehung tariflicher Maßstäbe uneingeschränkt von einer Beschäftigung der Klägerin als Bürokauffrau ausgegangen werden kann. Denn sie hat diesen Beruf nach eigenen Angaben erlernt und langjährig ausgeübt und ist auch nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages bei dem V... A... K... ausdrücklich als Bürokauffrau eingestellt worden. Wenn die Klägerin nach eigenen Angaben bei dem V... A... K... eher Bürohilfstätigkeiten verrichtet hat, ändert das an der Einstellung als Bürokauffrau nichts. Angesichts der langjährigen Berufserfahrung der Klägerin kann auch nicht nur die Eingangsvergütung einer erstmals eingestellten Bürokauffrau zugrunde gelegt werden.
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Weiterhin ist auch der Senat - wie bereits das SG - der Auffassung, dass bei der Bestimmung des örtlichen Lohnniveaus die Grenze der Sittenwidrigkeit (§ 138 Abs. 2 BGB) nicht unterschritten werden darf. Auch insoweit kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die hierzu gemachten zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen werden.
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Der Sachverständige L... hat in den schriftlichen Zusammenfassungen seiner Stellungnahmen das Tarifgefüge für Bürokaufleute in Ba... im Jahre 2007 mit einer Spanne von etwa 1.600,00 EUR bis über 2.000,00 EUR überzeugend beschrieben. Hieraus hat der Sachverständige einen durchschnittlichen Stundenlohn für Bürokauffrauen in Ba... zwischen 14,63 EUR und 14,75 EUR errechnet; dieser Berechnung schließt sich der Senat an. Nach den Maßstäben des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die Herr L... in seinem ersten Gutachten (Seite 3, Ende des vorletzten Absatzes) zutreffend wiedergegeben hat, liegt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB vor, wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohns erreicht (Urteil vom 22. April 2009, 5 AZR 436/08, BAGE 130, 338-346; vgl. auch Urteil vom 27. Juni 2012, 5 AZR 496/11 [juris]). Im Vergleich des Stundenlohnes der Klägerin in Höhe von 6,34 EUR zu dem durchschnittlichen Stundenlohn im Jahr 2007 für ausgebildete Bürokauffrauen in Ba... (ohne Sonderzahlungen) zwischen 14,63 EUR und 14,75 EUR kommt Herr L... zu dem - zutreffenden - Ergebnis, dass der von der Klägerin vereinbarte Stundenlohn „deutlich weniger als die Hälfte“ des ortsüblichen Lohnes aufweist. Damit ist die vom BAG beschriebene 2/3-Grenze bei weitem unterschritten. Rechnerisch würde diese Grenze durch den Stundenlohn der Klägerin von 6,34 EUR bereits bei einem Tariflohn von mehr als 9,51 EUR unterschritten (9,52 EUR x 2/3 = 6,35 EUR). Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Vertiefung, ob die von dem Sachverständigen beschriebenen Tariflöhne überhöht sind, soweit jedenfalls ein Betrag von mehr als 9,51 EUR zugrunde gelegt wird. Dass dies geboten ist, ist zur Überzeugung des Senats nach dem Gesamtergebnis der von Herrn L... gemachten Ausführungen nicht zweifelhaft.
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Nach allem haben die Ausführungen des Sachverständigen L... den Senat überzeugt. Einer Befragung einzelner Betriebe zu den dort gezahlten Löhnen bedurfte es nicht; die von dem Sachverständigen herangezogenen Erkenntnisquellen hält der Senat für ausreichend.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG und orientiert sich am Ausgang des Rechtsstreits.
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Der Senat hat keinen Anlass gesehen, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen. Insbesondere misst er dem Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung bei, weil es sich letztlich um eine Einzelfallentscheidung handelt.
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Annotations
Soweit die Bundesregierung die Umsetzung des Bundesprogramms „Ausbildungsplätze sichern“ der Bundesagentur überträgt, erstattet der Bund der Bundesagentur abweichend von § 363 Absatz 1 Satz 2 die durch die Umsetzung entstehenden Verwaltungskosten.
(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.
(2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.