Landesarbeitsgericht Düsseldorf Urteil, 05. Aug. 2015 - 4 Sa 299/15
Gericht
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wesel vom 04.02.2015 - 4 Ca 2387/14 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
1
T A T B E S T A N D :
2Die Parteien streiten über die Abgeltung tarifvertraglichen Mehrurlaubs.
3Der am 21.08.1951 geborene und schwerbehinderte Kläger war bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin langjährig als gewerblicher Mitarbeiter tätig. Das Arbeitsverhältnis endete durch den Renteneintritt des Klägers mit dem 31.08.2014.
4Auf das Arbeitsverhältnis fand der Manteltarifvertrag für die Chemische Industrie (im Folgenden: MTV-Chemie) kraft vertraglicher Vereinbarung Anwendung. § 12 MTV-Chemie enthält u.a. folgende Regelung:
5"I.
6Urlaubsanspruch
7[…]
85. Im Austrittsjahr hat der Arbeitnehmer für jeden angefangenen Beschäftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs. Scheidet der Arbeitnehmer wegen Bezugs einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder wegen voller Erwerbsminderung aus, so erhält er den vollen Jahresurlaub, es sei denn, dass das Arbeitsverhältnis im Eintrittsjahr endet. Der Anspruch entfällt, wenn der Arbeitnehmer vor seinem Ausscheiden mindestens 12 Monate lang nicht gearbeitet hat.
9[…]
1011. Der Urlaub ist spätestens bis zum 31. März des folgenden Kalenderjahres zu
11gewähren.
12Der Urlaub erlischt, wenn er nicht bis dahin geltend gemacht worden ist.
13II.
14Urlaubsdauer
151.Der Urlaub beträgt 30 Urlaubstage.
16[…]
17IV.
18Urlaubsabgeltung
191.Der Urlaub kann grundsätzlich nicht abgegolten werden.
202.Soweit jedoch bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Urlaubsanspruch noch nicht erfüllt ist, ist er abzugelten. Nicht erfüllbare Urlaubsansprüche sind nicht abzugelten.
213.Die Urlaubsabgeltung ist für das Urlaubsjahr zulässig, in dem der Arbeitnehmer wegen des Bezugs einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder wegen voller Erwerbsminderung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet.
224.Die Urlaubsabgeltung ist in Höhe des Urlaubsentgelts zuzüglich des Urlaubsgelds zu gewähren; das Urlaubsentgelt ist in diesem Falle nach dem Entgelt bzw. den Monatsbezügen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu berechnen.
235.Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ist nicht übertragbar."
24Im Jahr 2014 war der Kläger bis einschließlich 01.09.2014 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete an ihn Urlaubsabgeltung für den gesetzlichen Urlaubsanspruch von 20 Tagen sowie für den gesetzlichen Zusatzurlaub für Schwerbehinderte von 5 Tagen. Mit Schreiben vom 08.09.2014 machte der Kläger die Abgeltung des vollen tariflichen Jahresurlaubs aus 2014 und damit weiterer 10 Urlaubstage in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 1.628,40 € brutto geltend.
25Mit seiner am 16.10.2014 beim Gericht eingegangenen Klage verfolgt er sein Begehren weiter. Er hat die Auffassung vertreten, dass sein Urlaubsanspruch nicht unerfüllbar gewesen sei, da seine Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 01.09.2014 gedauert habe. Zudem habe sein Arbeitsverhältnis im Jahr des Renteneintritts geendet, so dass er schon aufgrund von § 12 Abschn. I Ziff. 5 i.V.m. Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie Anspruch auf Abgeltung des vollen tariflichen Urlaubs habe.
26Demgegenüber hat sich die Beklagte auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.11.2012 (9 AZR 64/11) berufen und geltend gemacht, dass der MTV-Chemie ein eigenständiges Urlaubsregime enthalte, wonach nicht erfüllbarer Urlaub nicht abzugelten sei (§ 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie). Der Urlaubsanspruch des Klägers sei in diesem Sinne nicht erfüllbar gewesen, da es insoweit auf den Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses ankomme und der Kläger bis dahin arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Soweit § 12 Abschn. IV Ziff. 3 die Urlaubsabgeltung bei Ausscheiden wegen des Bezugs einer Altersrente für "zulässig" erkläre, folge daraus kein Anspruch auf die Abgeltung.
27Mit Urteil vom 04.02.2015, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht antragsgemäß
28die Beklagte verurteilt, an den Kläger 1.628,40 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2014 zu zahlen.
29Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger nach § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie die Abgeltung des vollen tariflichen Urlaubs beanspruchen könne, da er wegen Bezugs einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sei. Die Systematik der Abgeltungsregelung in § 12 Abschn. IV MTV-Chemie folge einem Regel-Ausnahme-Prinzip. Wer gem. § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie wegen Bezugs einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder wegen voller Erwerbsminderung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheide, werde von der vorausgehenden Regelung in § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie, wonach nicht erfüllbare Urlaubsansprüche nicht abzugelten seien, ausgenommen. Bei einem anderen Verständnis bliebe die "Zulässig"-Erklärung in § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie ohne Anwendungsbereich. Ein "abgeltungsrechtliches Vakuum" wäre dann aber ohnehin durch die gesetzliche Regelung aus § 7 Abs. 4 BUrlG, die Abgeltungsansprüche vorsieht, zu schließen.
30Gegen das ihr am 25.02.2015 zugestellt Urteil hat die Beklagte mit einem am 13.03.2015 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Sie wendet sich gegen die Auslegung von § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie durch das Arbeitsgericht. Nach seinem Wortlaut und Zweck beabsichtige die Regelung lediglich, eine freiwillige - übertarifliche - Abgeltung von Urlaubsansprüchen in den dort genannten Fällen (Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis wegen Bezugs einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder wegen voller Erwerbsminderung) zuzulassen, die im Belieben des Arbeitgebers stehe. Die Regelung trage damit dem in der Chemiebranche verbreiteten Compliance-Gedanken Rechnung, also dem Grundsatz der Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien, indem sie die Ausnahme zu einer Regel statuiere. Anderenfalls hätte sie einen Anspruch eindeutig formuliert ("... ist abzugelten").
31Die Beklagte beantragt,
32das Urteil des Arbeitsgerichts Wesel vom 04.02.2015 - 4 Ca 2387/14 - "aufzuheben und die Klage zurückzuweisen".
33Der Kläger beantragt,
34die Berufung zurückzuweisen.
35Er verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil nach Maßgabe seines Schriftsatzes vom 08.04.2015.
36Wegen des weiteren Berufungsvorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der in zweiter Instanz gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst beigefügten Anlagen sowie ihre Protokollerklärungen Bezug genommen.
37E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
38Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Dem Kläger steht Abgeltung des restlichen tariflichen Urlaubs in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 1.628,40 € brutto nebst Zinsen zu. Anders als das Arbeitsgericht geht das Berufungsgericht dabei schon davon aus, dass der in § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie geregelte Fall der Nichterfüllbarkeit von Urlaubsansprüchen nicht gegeben ist. Es bleibt damit bei der Regel des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV-Chemie, wonach der Urlaubsanspruch abzugelten ist, soweit er bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erfüllt ist. Ungeachtet dessen folgt das Gericht dem Arbeitsgericht in der Auslegung von § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie dahin, dass die Vorschrift als Rückausnahme zur Regelung des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie anzusehen ist mit der Folge, dass es in den genannten Fällen bei der Rechtsfolge der Abgeltung gem. § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV-Chemie verbleibt.
39I.
40Der Anspruch auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs folgt zunächst nicht aus § 7 Abs. 4 BUrlG. Diese Regelung zur Abgeltung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs findet auf den den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden tariflichen Urlaubsanspruch aus § 12 MTV-Chemie keine entsprechende Anwendung. Denn die Tarifvertragsparteien haben in § 12 Abschn. IV MTV-Chemie eine von der gesetzlichen Abgeltungsregelung in § 7 Abs. 4 BUrlG abweichende eigenständige Regelung getroffen. Der dahingehenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 13.11.2012 - 9 AZR 64/11, NZA 213, 399 Rz. 11 - 19; a.A. LAG Köln 27.01.2012 - 4 Sa 1036/11 - Juris) schließt sich die Berufungskammer an. Durchgreifende Gründe für eine hiervon abweichende Betrachtung sind nicht ersichtlich, zumal die Tarifvertragsparteien auch nach Abkehr des Bundesarbeitsgerichts von seiner Auslegung des § 7 Abs. 4 BurlG in Bezug auf die Unerfüllbarkeit von Urlaubsansprüchen bei Krankheit (BAG 13.12.2011 - 9 AZR 399/10, Rz. 15, AP Nr. 93 zu § 7 BurlG Abgeltung) an ihrer abweichenden Regelung festgehalten haben (so der hier anwendbare MTV-Chemie i.d.F. vom 17.10.2013). Auch die Parteien gehen von diesem Ausgangspunkt aus.
41II.
42Der Anspruch auf Abgeltung des tariflichen Urlaubs folgt jedoch aus § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV-Chemie, jedenfalls aber aus der Sonderregelung des § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie.
43Von dem grundsätzlichen Abgeltungsverbot für Urlaub in § 12 Abschn. IV Ziff. 1 MTV-Chemie macht Ziff. 2 Satz 1 der Vorschrift eine Ausnahme, soweit der Urlaubsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erfüllt ist. Insoweit ist der Urlaubsanspruch abzugelten. Diese Voraussetzungen liegen, wie zwischen den Parteien unstreitig ist, in Bezug auf den hier geltend gemachten Anspruch auf Abgeltung von 10 Urlaubstagen vor.
44Die Rückausnahme des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie, wonach "nicht erfüllbare" Urlaubsansprüche nicht abzugelten sind, liegt demgegenüber nicht vor. Die restlichen Urlaubsansprüche des Klägers waren erfüllbar im Sinne des Tarifvertrages (dazu im Folgenden Ziff. 2). Jedenfalls aber folgt der Abgeltungsanspruch aus § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie. Diese Regelung ist mit dem Arbeitsgericht als eigenständige Anspruchsgrundlage zu verstehen und nicht lediglich als Erlaubnis für eine (einvernehmliche) Abweichung vom Abgeltungsverbot des § 12 Abschn. IV Ziff. 1 MTV-Chemie (dazu im Folgenden Ziff. 3). Dies ergibt die Auslegung der Tarifnormen.
451.Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., vgl. etwa BAG 26.03.2013 - 3 AZR 68/11, Juris, Rz. 25 mwN).
462.Danach hat der Kläger gem. § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV-Chemie Anspruch auf Abgeltung der unstreitig nicht erfüllten restlichen 10 Tarifurlaubstage. Es liegt kein Fall "nicht erfüllbarer" Urlaubsansprüche im Sinne von § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie vor. Nicht erfüllbar im Sinne dieser Tarifnorm sind Urlaubsansprüche nach Auffassung des Berufungsgerichts erst dann, wenn sie bis zum Ablauf des jährlichen Urlaubszeitraums gem. § 12 Abschn. I Ziff. 11 MTV-Chemie am 31. März des folgenden Kalenderjahres im Sinne der früheren Surrogats-Theorie des Bundesarbeitsgerichts nicht mehr hätten erfüllt werden können, hätte das Arbeitsverhältnis bis zu diesem Zeitpunkt fortbestanden. Das ist für die streitigen Urlaubsansprüche aus dem Jahr 2014 nicht der Fall, da der Kläger nur bis zum 01.09.2014 arbeitsunfähig erkrankt war.
47a.Der MTV-Chemie enthält zu der Frage, wann Urlaubsansprüche "nicht erfüllbar" im Sinne von § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV-Chemie sind, keine Regelung.
48Satz 2 der Norm bestimmt lediglich, dass nicht erfüllbare Urlaubsansprüche nicht abzugelten sind, ohne zur Frage der Nichterfüllbarkeit Näheres zu bestimmen. Auch aus Satz 1 der Norm, der mit Satz 2 nach seiner systematischen Stellung in Ziff. 2 des § 12 Abschn. IV MTV-Chemie eng verbunden ist, ergibt sich hierfür nichts (a. A. möglicherweise BAG 13.11.2012 - 9 AZR 64/11, NZA 2013, 399 Rz. 19). Zwar stellt Satz 1 für den dort geregelten Abgeltungsanspruch darauf ab, dass der Urlaubsanspruch "bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses" noch nicht erfüllt ist. Darin kann jedoch keine Regelung für die Frage erblickt werden, wann von einer "Nichterfüllbarkeit" des Urlaubsanspruchs auszugehen ist. Denn grundsätzlich ist jeder offene Urlaubsanspruch "bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses" nicht mehr erfüllbar, kann also nicht mehr in Natur gewährt werden. Diese Unerfüllbarkeit haben die Tarifvertragsparteien in Satz 2 der Norm nicht gemeint, anderenfalls hätte Satz 1 keinen Anwendungsbereich. Unter nicht erfüllbaren Urlaubsansprüchen im Sinne des Satzes 2 verstehen die Tarifvertragsparteien die Fälle, in denen die Urlaubsgewährung als Freistellung von der Arbeitspflicht deshalb nicht erfüllbar ist, weil keine Arbeitspflicht besteht, in erster Linie also den Fall der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Bei Anwendung dieses Hauptfalles zeigt sich, dass Satz 1 der Tarifregelung für die Frage der Nichterfüllbarkeit im Sinne des Satzes 2 keine sinnvolle zeitliche Anknüpfung bietet. "Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses" bezeichnet lediglich einen Zeitpunkt. Für die Nichterfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs kann es jedoch nicht darauf ankommen, ob ein Arbeitnehmer gerade in diesem Zeitpunkt etwa arbeitsunfähig ist, also z. B. am letzten Tag oder in der letzten Stunde des Arbeitsverhältnisses. Auch eine erweiternde Auslegung dahin, dass "bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses" die letzten Tage oder Wochen des Arbeitsverhältnisses meint, je nachdem, wie viel Urlaub noch offen ist, scheidet aus. Denn Satz 1 der Norm stellt gerade nicht auf einen solchen Zeitraum, sondern ausschließlich auf das wirkliche Ende des Arbeitsverhältnisses ab. Anderenfalls wäre der Urlaub gem. Satz 1 auch im noch bestehenden Arbeitsverhältnis abzugelten.
49b.Fehlen somit im Tarifvertrag Regelungen zu der Frage, wann Urlaubsansprüche "nicht erfüllbar" sind, kann hierfür nur die Regelung der früheren Surrogatstheorie des Bundesarbeitsgerichts herangezogen werden, wonach auf eine fiktive Betrachtung des Zeitraums bis zum Ablauf des Urlaubsjahres und des Übertragungszeitraums abzustellen ist (grundlegend BAG 23.06.1983 - 6 AZR 180/80, zu 3 der Gründe, BAGE 44, 75; sodann st. Rspr. bis BAG 27.05.2003 - IX AZR 366/02, zu I 1 der Gründe, EzA BOLG § 7 Abgeltung Nr. 9). Diese Auffassung wird auch in der Rechtsprechung geteilt (vgl. LAG Hamm 02.12.2010 - 16 Sa 1079/10, juris, Rz. 55, das auf den fiktiven Ablauf des Übertragungszeitraums abstellt; LAG Köln 27.01.2012 - 4 Sa 1036/11, das - weitergehend - insgesamt von einem Gleichlauf der Urlaubsregelungen des MTV-Chemie und des Bundesurlaubsgesetzes ausgeht).
50aa.Dieses Ergebnis folgt bereits aus der Regel, dass in Ermangelung tariflicher Regelungen davon auszugehen ist, dass die Tarifvertragsparteien an die gesetzliche Regelung anknüpfen. Haben die Tarifvertragsparteien - wie hier - eine eigenständige Regelung über die Frage, wann Urlaubsansprüche nicht erfüllbar sind, nicht getroffen, ist somit ohne weiteres die gesetzliche Regelung - hier in der von den Tarifvertragsparteien übernommenen Ausprägung der seinerzeitigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (a.a.O.) - heranzuziehen.
51bb.Für die vorgenannte Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte des MTV-Chemie. § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie gilt seit dem 24.06.1992. Er hat insoweit die damalige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Surrogatstheorie übernommen, ohne - wie gezeigt - in Bezug auf die Frage der Nichterfüllbarkeit eine eigenständige Regelung zu treffen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Tarifvertragsparteien von der ansonsten übernommenen Surrogatstheorie gerade in der Frage der Nichterfüllbarkeit von Urlaubsansprüchen hätten abweichen wollen. In Anbetracht der deutlichen Übernahme der Surrogatstheorie in § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie hätte eine solche Abweichung eines deutlichen Niederschlags im Tarifwortlaut bedurft. Daran fehlt es, insbesondere findet er sich - wie ausgeführt - nicht in Satz 1 der Bestimmung.
52cc.Insbesondere sprechen Sinn und Zweck der tariflichen Regelung für die hier vertretene Auslegung. Es gelten dieselben Erwägungen, die seinerzeit das Bundesarbeitsgericht zur Ausformung seiner Surrogatsrechtsprechung mit folgendem amtlichem Leitsatz bewogen haben: Endet nach Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis dessen Arbeitsunfähigkeit im Urlaubsjahr, für das der Urlaubsanspruch entstanden ist, bzw. im Übertragungszeitraum so rechtzeitig, dass bei bestehendem Arbeitsverhältnis der Urlaub hätte verwirklicht werden können, hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Gewährung der Urlaubsabgeltung (BAG 28.06.1984 - 6 AZR 521/81, BAGE 46, 224). Der an die Stelle des Urlaubsanspruchs tretende Abgeltungsanspruch solle den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, trotz Beendigung des Arbeitsverhältnisses dennoch Freizeit zur Erholung zu nehmen. Der Abgeltungsanspruch entspreche daher nicht lediglich dem im Urlaub zu zahlenden Entgelt, sondern sei als Surrogat des Freistellungsanspruchs von der Arbeitspflicht - abgesehen von der Besonderheit, dass die Arbeitspflicht wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr suspendiert werden kann - an die gleichen Voraussetzungen gebunden ist wie der Urlaubsanspruch selbst. Der Arbeitnehmer müsse in der Lage sein, Urlaub zu nehmen, also seinen Freizeitanspruch in anderer Weise zu verwirklichen (BAG, ebenda Rz. 11).
53Wollte man demgegenüber mit der Beklagten - ohne Anhaltspunkte im Wortlaut und abweichend von der im Übrigen tariflich übernommenen Surrogatstheorie - darauf abstellen, dass die Ansprüche innerhalb eines näher zu bestimmenden Zeitraums vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr erfüllbar sein müssten, bliebe zum einen offen, um welchen Zeitraum es sich handelte. Zum anderen würde gerade die mit der Surrogatstheorie bezweckte urlaubsmäßige Gleichstellung von ausgeschiedenen Arbeitnehmern verfehlt. Denn sie könnten im Gegensatz zu den weiterbeschäftigten Arbeitnehmern im Falle einer späteren Genesung nicht mehr in den Genuss des Urlaubssurrogats gelangen.
54dd.Letztlich sprechen auch systematische Gründe für die hier vertretene Auslegung. Scheidet etwa ein Arbeitnehmer zu Beginn eines Jahres wegen voller Erwerbsminderung aus, hat er gemäß § 12 Abschn. I Ziff. 5 Satz 2 MTV-Chemie grundsätzlich Anspruch auf den vollen Jahresurlaub. Hier stünden bis zu seinem Ausscheiden in dem Urlaubsjahr aber nicht einmal kalendermäßig genügend Tage zur Verfügung, an denen der Arbeitnehmer - gemäß der Rechtsansicht der Beklagten - eine seinem (vollen) Urlaubsanspruch entsprechende Arbeitsleistung geschuldet hätte. Es würde also dem Arbeitnehmer im Abschnitt I des § 12 MTV-Chemie etwas gewährt, was ihm im Abschnitt IV ohne weitere Voraussetzungen wieder genommen würde. Das stellt keine sinnvolle Regelung dar.
553.Jedenfalls folgt der Abgeltungsanspruch aus § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie, wie die Auslegung der Norm ergibt.
56Die Bestimmung statuiert eine Ausnahme von der Regel des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie, wonach nicht erfüllbare Urlaubsansprüche nicht abzugelten sind. Dies gilt ungeachtet der oben unter II. 2 erörterten Frage, unter welchen Voraussetzungen Urlaubsansprüche nicht erfüllbar sind. Mit der Ausnahme soll es bei der Regel des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV-Chemie verbleiben, wonach ein bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht erfüllter Urlaubsanspruch abzugelten ist. Insoweit wird auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts Bezug genommen. Anderenfalls hätte die Vorschrift allein den Inhalt, eine mangels Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs nicht geschuldete Abgeltung (§ 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV-Chemie) - übertariflich - zu gestatten. Das wäre in Anbetracht des Charakters von Tarifregelungen als Mindestarbeitsbedingungen banal.
57Entscheidend tritt hinzu, dass der Anspruchscharakter der Regelung insbesondere auch aus dem systematischen Zusammenhang mit weiteren Urlaubsregelungen des MTV-Chemie folgt. Insbesondere ergäbe sich ein nicht auflösbarer Widerspruch zur Regelung in § 12 Abschn. I Ziff. 5 Satz 2 MTV-Chemie, der dem Arbeitnehmer, der wegen Bezugs einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder wegen voller Erwerbsminderung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet, den vollen Jahresurlaub gewährt. Der Anspruch ist lediglich in den - hier nicht gegebenen - Fällen ausgeschlossen, dass das Arbeitsverhältnis bereits im Eintrittsjahr geendet hat oder der Arbeitnehmer vor seinem Ausscheiden mindestens zwölf Monate lang nicht gearbeitet hat. Scheidet aber ein Arbeitnehmer etwa wegen voller Erwerbsminderung aus dem Arbeitsverhältnis aus, wird er in aller Regel bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig sein und dies bis zum Ablauf des tariflichen Urlaubsjahres am 31. März des folgenden Kalenderjahres bleiben. Hier bildet es den Regelfall, dass der in § 12 Abschn. I Ziff. 5 Satz 2 gewährte Anspruch auf den vollen Jahresurlaub nicht erfüllbar ist. In der Auslegung der Beklagten würde auch seine Abgeltung ausscheiden bzw. lediglich eine übertarifliche Abgeltung ohne Rechtsanspruch für zulässig erklärt. Damit würde der in § 12 Abschn. I Ziff. 5 Satz 2 MTV-Chemie bei Ausscheiden wegen voller Erwerbsminderung gerade gewährte Anspruch auf den vollen Jahresurlaub, der - von seltenen Ausnahmefällen abgesehen - nur als Abgeltungsanspruch überhaupt realisierbar sein kann, wieder genommen und vom freien Einverständnis des Arbeitgebers abhängig gemacht. Dies widerspräche dem eindeutigen Anspruchscharakter des § 12 Abschn. I Ziff. 5 Satz 2 MTV-Chemie. § 12 Abschn. IV Ziff. 3 MTV-Chemie ist deshalb im systematischen Zusammenhang mit § 12 Abschn. I Ziff. 5 Satz 2 und § 12 Abschn. IV Ziff. 2 MTV-Chemie dahin zu verstehen, dass die Zulässig-erklärung der Abgeltung in den Fällen der Ziff. 3 den Abgeltungsanspruch aus § 12 Abschn. IV Ziff. 2 MTV-Chemie von dem Erfordernis der Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs entbindet.
58III.
59Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die Revision war gem. § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG zuzulassen.
60R E C H T S M I T T E L B E L E H R U N G :
61Gegen dieses Urteil kann von der Beklagten
62R E V I S I O N
63eingelegt werden.
64Für den Kläger ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
65Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim
66Bundesarbeitsgericht
67Hugo-Preuß-Platz 1
6899084 Erfurt
69Fax: 0361-2636 2000
70eingelegt werden.
71Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
72Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
731.Rechtsanwälte,
742.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
753.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
76In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
77Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
78Bezüglich der Möglichkeit elektronischer Einlegung der Revision wird auf die Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesarbeitsgericht vom 09.03.2006 (BGBl. I Seite 519) verwiesen.
79* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
80gez.: Queckegez.: Rißegez.: von Häfen
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Annotations
(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, daß ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluß an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.
(2) Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es sei denn, daß dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub aus diesen Gründen nicht zusammenhängend gewährt werden, und hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen, so muß einer der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfolgende Werktage umfassen.
(3) Der Urlaub muß im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muß der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.
(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.
(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.
(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.
(3) (weggefallen)