Bundessozialgericht Beschluss, 31. Juli 2013 - B 5 R 53/13 B

bei uns veröffentlicht am31.07.2013

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Juni 2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

2

Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren waren erfolglos (Bescheid vom 28.3.2006; Widerspruchsbescheid vom 22.11.2006; Urteil des SG Berlin vom 12.1.2009). Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger mehrfach auf die bei ihm bestehenden, sich verschlimmernden psychischen Störungen - zB Angstneurose, massive Schlafstörungen, Depressionen - hingewiesen und die Einholung eines neuro-psychiatrischen Gutachtens gefordert (ua Schreiben vom 23.6.2011, 14.9.2011, 21.9.2011, "31".9.2011 und 17.2.2012). Mit Schreiben vom 5.10.2011 hat der Kläger die im Verfahren S 40 SB 741/10 (SG Berlin) von dem dortigen Beklagten überreichte psychiatrische Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie B. vom 14.9.2011 - Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - vorgelegt. Dieser ist unter Auseinandersetzung mit dem Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie Dr. W. vom 9.8.2011 und der Beurteilung der psychologischen Psychotherapeutin Ba. sowie der Diplom-Psychologin Z. vom 23.8.2011 zu dem Ergebnis gelangt, dass aus den vorliegenden Befunden keine wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit hervorgingen, dies aber nach Aktenlage auch nicht auszuschließen sei und sich bei einer Begutachtung herausstellen könnte.

3

In der mündlichen Verhandlung vom 15.6.2012 hat der Kläger ausgeführt, er frage sich nach wie vor, warum kein neuro-psychiatrisches Gutachten eingeholt worden sei.

4

Mit Urteil vom 15.6.2012 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Für die Einholung eines Gutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehe kein Anlass. Die psychischen Leiden des Klägers seien vielmehr aufgrund des Sachverständigengutachtens Dr. Wo. vom 19.9.2006 und des Gutachtens des Neurologen und Psychiaters N. vom 14.9.2004 geklärt. Anhaltspunkte für eine Verschlimmerung des psychischen Leidens des Klägers lägen nicht vor. Der Kläger habe erstmals im Laufe des Berufungsverfahrens eine neuro-psychiatrische Begutachtung verlangt, ohne vorzutragen, worin genau sein psychisches Leiden bestehen bzw inwieweit sich ein solches verschlimmert haben könnte. Auch ließen die von den Sachverständigen Dr. S. sowie Prof. Dr. Sp. Ärzte für Orthopädie und Rheumatologie - erhobenen Anamnesen anlässlich der am 2.10.2007 bzw 16.5.2011 durchgeführten ambulanten Untersuchungen keine Rückschlüsse auf psychisch-neurologisch bedingte Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund sozialer Zurückgezogenheit und Kontaktarmut zu. Ebenso wenig ergäben sich aus den im Schwerbehindertenverfahren S 40 SB 741/10 eingeholten Befundberichten Anhaltspunkte für eine rentenberechtigende Verschlimmerung des psychischen Leidens.

5

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er beruft sich auf eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht iS von § 103 SGG und einen Verstoß gegen seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG.

6

II. Die zulässige Beschwerde ist begründet.

7

Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das LSG hat § 103 SGG verletzt, weil es einem Beweisantrag des Klägers ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

8

Der Kläger hat einen ordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt und diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG aufrechterhalten.

9

War der Beschwerdeführer in der Berufungsinstanz - wie hier - durch keinen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten, sind an Form, Inhalt, Formulierung und Präzisierung eines Beweisantrags verminderte Anforderungen zu stellen (BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5; BSG Beschluss vom 1.3.2006 - B 2 U 403/05 B - Juris RdNr 5; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11; BVerfG SozR 3-1500 § 160 Nr 6 S 14; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 733). Ein unvertretener Beteiligter muss einen konkreten Beweisantrag nur sinngemäß gestellt haben, dh angeben, welche konkreten Punkte er am Ende des Verfahrens noch für aufklärungsbedürftig gehalten hat und auf welche Beweismittel das Gericht hätte zurückgreifen sollen, um diese weiter aufzuklären (BSG Beschlüsse vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4 und vom 22.7.2010 - B 13 R 585/09 B - Juris RdNr 11).

10

Diesen Anforderungen hat der Kläger genügt.

11

Er hat mehrfach schriftlich darauf hingewiesen, dass er unter psychischen Störungen - zB Angstneurose, Schlafstörungen, Depressionen - leide und die Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens gefordert (vgl ua Schreiben vom 23.6.2011, 14.9.2011, 21.9.2011, "31".9.2011 und 17.2.2012). Mit seiner in der mündlichen Verhandlung vom 15.6.2012 abgegebenen Erklärung "Ich frage mich nach wie vor, warum kein neuro-psychiatrisches Gutachten eingeholt worden ist." hat der Kläger der Tatsacheninstanz auch unmittelbar vor der Entscheidung vor Augen geführt, dass er die Sachaufklärungspflicht des Gerichts noch nicht als erfüllt ansieht. Unter Berücksichtigung seiner schriftlich dargelegten Gesundheitsstörungen auf psychischem Fachgebiet hat der nicht rechtskundig vertretene Kläger zudem hinreichend deutlich gemacht, welche konkreten Tatsachen aufzuklären sind.

12

Das LSG ist diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.

13

Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Berufungsgericht objektiv im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu weiterer Sachaufklärung gehalten war, wenn es sich also von seinem Rechtsstandpunkt aus zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (zB BSG Beschlüsse vom 2.3.2010 - B 5 R 208/09 B - Juris RdNr 5 und vom 7.4.2011 - B 9 VG 16/10 B - Juris RdNr 14, jeweils mwN).

14

Dies ist zu bejahen.

15

Für das LSG war das Ausmaß der Gesundheitsstörungen des Klägers und die hierdurch bedingte Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit entscheidungserheblich. Ausgehend von diesem Rechtsstandpunkt durfte es das psychische Leiden des Klägers nicht aufgrund von neurologisch-psychiatrischen Gutachten aus den Jahren 2006 (Dr. Wo.) und 2004 (N.) als geklärt ansehen, nach denen der Kläger damals unter einer Anpassungsstörung bei sozialer Belastungssituation, Mischkopfschmerz bei Migräne und Spannungskopfschmerz, einem Wurzelreizsyndrom S1 rechts, einer Persönlichkeitsakzentuierung und allenfalls einer leichten Herzphobie (Dr. Wo.) bzw lediglich Durchschlafstörungen und Kopfschmerzen (N.) litt. Demgegenüber beschreibt die Fachärztin für Psychiatrie Dr. W. in dem im Schwerbehindertenverfahren S 40 SB 741/10 (SG Berlin) eingeholten Befundbericht vom 9.8.2011 eine rezidivierende Depression des Klägers, die sie in der Ausprägung als somatoforme Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einschätzt. Zwar vermag nach Auffassung des LSG ua der Befundbericht der Ärztin Dr. W. die abweichenden Diagnosen des Sachverständigen Dr. Wo. nicht zu entkräften, weil er keine konkret erhobenen Befunde angebe, die den Schluss auf ein bestimmtes Leiden rechtfertigten, und sich dem Bericht zudem Äußerungen zu rentenrechtlich bedeutsamen Funktionsbeeinträchtigungen nicht entnehmen ließen. Dass der Befundbericht vom 9.8.2011 keine konkret erhobenen Befunde und keine Funktionsbeeinträchtigungen beschreibt, bedeutet indes nicht, dass solche nicht vorhanden sind. Schon deshalb vermag die Schlussfolgerung des LSG, es bestünde kein Anlass zu weiteren Ermittlungen, nicht zu überzeugen. Dies gilt umso mehr, als der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie B. in seiner Stellungnahme vom 14.9.2011 unter Auswertung der Befundberichte Dr. W. sowie der psychologischen Psychotherapeutin Ba. und der Diplom-Psychologin Z. ausgeführt hat, nach Aktenlage seien wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nicht auszuschließen und könnten sich bei Begutachtung herausstellen. Angesichts dieser fachkundigen Einschätzung lassen auch die Anamneseerhebungen der Orthopäden und Rheumatologen Dr. S. und Dr. Sp., die nach Auffassung des LSG keine Anhaltspunkte für psychiatrisch-neurologische Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers enthalten, die Klärungsbedürftigkeit seines psychischen Leidens nicht entfallen, zumal das LSG nicht darstellt, woraus es seine Fachkunde bezieht.

16

Die angefochtene Entscheidung kann auf der unterlassenen Beweisaufnahme beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Begutachtung des Klägers auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet ergibt, dass dieser an einem psychischen Leiden erkrankt ist, das seine Erwerbsfähigkeit in einem rentenberechtigenden Ausmaß einschränkt.

17

Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob das LSG auch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

18

Zur Vermeidung einer zeitlichen Verzögerung hat der Senat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (§ 160a Abs 5 SGG).

19

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

Urteilsbesprechung zu Bundessozialgericht Beschluss, 31. Juli 2013 - B 5 R 53/13 B

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Referenzen - Gesetze

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 103


Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.
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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 62


Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

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Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Gründe

1

Das LSG Berlin-Brandenburg hat im Urteil vom 5.11.2009 einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung oder wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab Dezember 2006 verneint.

2

Der Kläger macht mit seiner beim BSG erhobenen Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Urteil Verfahrensmängel geltend.

3

Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Beschwerdebegründung vom 26.2.2010 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, denn er hat einen Verfahrensmangel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

4

Wird die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels begehrt, muss in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die bundesrechtliche Verfahrensnorm, die das Berufungsgericht verletzt haben soll, hinreichend genau bezeichnet sein. Zudem müssen die tatsächlichen Umstände, welche den Verstoß begründen sollen, substantiiert dargetan und darüber hinaus muss dargestellt werden, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4, Nr 21 RdNr 4 - jeweils mwN; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kapitel IX RdNr 202 ff). Dabei ist zu beachten, dass ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann(§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG)und dass die Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG nur statthaft ist, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist(§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG). Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers nicht gerecht.

5

1. Dieser rügt zunächst, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt, weil es auf seine Schreiben vom 3.9.2009 und vom 15.9.2009 nur mit der Anfrage reagiert habe, ob ohne mündliche Verhandlung entschieden werden könne, womit er sich einverstanden erklärt habe. Aufgrund seiner Mitteilung im Schriftsatz vom 3.9.2009, dass er die Auffassung des LSG nicht teile und an seinen Berufungsanträgen festhalte, sei das Berufungsgericht verpflichtet gewesen, ihm noch einmal darzulegen, dass keine Änderung der Rechtsauffassung herbeigeführt wurde, damit er noch einmal hätte Stellung nehmen können.

6

Mit diesem Vorbringen ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG)nicht substantiiert dargetan. Hierfür bedarf es einer in sich schlüssigen Darstellung, dass unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des BVerfG konkretisierten Grenzen dieses Prozessgrundrechts (vgl BVerfG Beschlüsse vom 25.3.2010 - 1 BvR 2446/09 - Juris RdNr 11; vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - Juris RdNr 11 mwN ; vom 4.4.2007 - 1 BvR 2941/06 - BVerfGK 11, 9, 11; vom 7.12.2006 - 2 BvR 722/06 - BVerfGK 10, 41, 45 f; vom 31.3.2006 - 1 BvR 2444/04 - BVerfGK 7, 485, 488) eine Verletzung des rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise vorliegt (vgl BSG Beschluss vom 11.9.2009 - B 6 KA 1/09 C - Juris RdNr 7). Das ist hier nicht der Fall. Denn der Kläger trägt nicht vor, er habe sich nicht zu den der Entscheidung des LSG zugrunde gelegten Tatsachen und Beweisergebnisse äußern können (vgl § 128 Abs 2 SGG); sein Vorhalt geht vielmehr dahin, dass das Berufungsgericht ihm vor seiner Urteilsfindung nicht ausdrücklich mitgeteilt habe, es werde die Beweise nicht in dem von ihm für richtig erachteten Sinne würdigen. Eine solche Pflicht zur Information über die Rechtsauffassung des Gerichts bereits vor der Entscheidung gebietet Art 103 Abs 1 GG jedoch grundsätzlich nicht (stRspr, vgl BVerfG vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - Juris RdNr 26; vom 24.10.2007 - 1 BvR 1086/07 - BVerfGK 12, 346, 353; vom 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 - BVerfGK 10, 330, 334; BSG vom 23.4.2009 - B 13 R 15/09 B - Juris RdNr 7 mwN; s aber BSG vom 13.11.2008 - B 13 RS 72/08 B - Juris RdNr 7, 9 - für den Fall der Änderung einer zuvor den Beteiligten mitgeteilten Rechtsmeinung des Gerichts). Dass besondere Umstände vorgelegen haben, die zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung ausnahmsweise einen vorherigen Hinweis des Gerichts auf seine Rechtsauffassung geboten hätten, ist der Beschwerdebegründung des Klägers nicht zu entnehmen. Außerdem fehlen Ausführungen dazu, was er im Falle des von ihm vermissten weiteren Hinweises des LSG zusätzlich vorgetragen hätte und inwiefern die Entscheidung des LSG auf einem Übergehen dieses Vortrags beruhen kann.

7

2. Eine weitere Gehörsverletzung sieht der Kläger darin begründet, dass das LSG ihn unzureichend auf sein Antragsrecht nach § 109 SGG hingewiesen habe. Ein solcher Hinweis sei zwar im gerichtlichen Schreiben vom 1.9.2009 enthalten gewesen, in dem das Gericht auch ausgeführt habe, dass nach den vorliegenden Befunden eine Erwerbsminderung nicht im Ansatz erkennbar sei und deshalb Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt seien. Er habe jedoch in seinen nachfolgenden Schreiben vom 3.9.2009 und vom 15.9.2009 zu erkennen gegeben, dass er diese Ansicht nicht teile und die Notwendigkeit zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen sehe. Unter diesen Umständen sei das Berufungsgericht verpflichtet gewesen, ihn umfassend und eindringlich darauf hinzuweisen, "dass diese Beantragung insoweit von Bedeutung ist, dass er ansonsten das Rechtsmittel verlustig sein wird", denn sein - des Klägers - Vorgehen zeige, dass er sich der Auswirkungen und auch des Verfahrensstandes überhaupt nicht bewusst gewesen sei.

8

Auch hiermit ist ein Verfahrensmangel nicht in zulässiger Weise bezeichnet. Der Kläger trägt nämlich im Kern vor, das LSG habe seine Hinweispflicht nach § 106 Abs 1 SGG verletzt, weil es ihn nicht eindringlich genug auf sein Recht auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes gemäß § 109 SGG hingewiesen habe; dies enthalte zugleich einen Gehörsverstoß. Mit diesem Vorbringen kann - ungeachtet des Umstands, dass keine Verpflichtung des Gerichts besteht, auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 109 SGG hinzuweisen(vgl BSG vom 21.11.1957 - 8 RV 611/56 - SozR Nr 12 zu § 109 SGG) - eine Verfahrensrüge schon deshalb nicht in zulässiger Weise begründet werden, weil § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG die Berufung auf eine Verletzung des § 109 SGG im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ausschließt. Der Ausschluss einer Rüge der fehlerhaften Anwendung des § 109 SGG gilt umfassend und unabhängig davon, worauf der Verfahrensmangel im Einzelnen beruht(BSG vom 31.1.1979 - 11 BA 129/78 - SozR 1500 § 160 Nr 34 S 31; BSG vom 21.4.1995 - 2 BU 35/95 - Juris RdNr 7; BSG vom 15.12.2005 - B 9a V 14/05 B - Juris RdNr 9; BSG vom 30.5.2006 - B 2 U 86/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 9 RdNr 4; ebenso BVerfG vom 12.4.1989 - 1 BvR 1425/88 - SozR 1500 § 160 Nr 69 S 76).

9

3. Schließlich macht der Kläger eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG)geltend, weil das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Er habe bereits im Schriftsatz vom 19.8.2008 gegenüber dem Sozialgericht zum Ausdruck gebracht, dass das Gutachten des Dr. B. keine Aussage zum gesamtheitlichen Belastungszustand unter Berücksichtigung der Beschwerden aufgrund der Arthrose, der Hypertonie und der Gichtanfälle enthalte und dass sich die vorgetragenen Beschwerden seines Erachtens nicht auf absehbare Zeit beheben ließen. Dies stelle "einen Beweisantrag hinsichtlich der Anregung der Erstellung eines weiteren Gutachtens dar", der das LSG hätte dazu veranlassen müssen, ein weiteres internistisches Gutachten einzuholen, zumal er in seiner Berufungsbegründung vom 18.6.2009 "erneut auf diese Umstände hingewiesen und insoweit die (den) in diese Formulierung hinein zu interpretierenden Beweisantrag aufrechterhalten" habe. Zudem habe er darauf hingewiesen, dass die inzwischen beidseitigen Beschwerden an den Kniegelenken nicht begutachtet wurden; auch dies stelle "eine Anregung zu einem neuen Gutachten dar". Das LSG habe ihm jedoch daraufhin mit Schreiben vom 1.9.2009 lediglich geantwortet, dass auch ein von ihm zudem eingereichter Arztbericht vom 6.6.2009 eine Erwerbsminderung nicht im Ansatz erkennen lasse; Ermittlungen von Amts wegen seien bei dieser Befundlage nicht beabsichtigt. Darauf habe er mitgeteilt, er könne die Auffassung zum Gesundheitszustand nicht teilen, da die vorliegende Aktenlage etwas anderes beschreibe; mithin habe er die Einwendungen und auch die Behauptungen hinsichtlich seiner umfangreichen Erkrankungen als Beweisantrag aufrechterhalten. Weil das LSG materiell-rechtlich davon ausgegangen sei, dass der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Erwerbsminderungsrente vom Umfang seines gesundheitlichen Leistungsvermögens abhänge, hätte es sich gedrängt fühlen müssen, sowohl ein internistisches als auch ein orthopädisches Gutachten einzuholen; diese hätten ein entscheidungserhebliches weiteres Absinken seiner Leistungsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf unter drei Stunden täglich ergeben.

10

Dieses Vorbringen erfüllt ebenfalls nicht die Anforderungen an die ordnungsgemäße Bezeichnung eines Verfahrensmangels. Denn für den Vorhalt, das Gericht habe seine Verpflichtung zur Amtsermittlung gemäß § 103 SGG verletzt (sog Sachaufklärungsrüge), bestehen nach § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG spezifische Darlegungserfordernisse. Insoweit muss die Beschwerdebegründung (1) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zuletzt aufrechterhaltenen oder im Urteil wiedergegebenen Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) die von dem Beweisantrag betroffenen tatsächlichen Umstände aufzeigen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (5) erläutern, weshalb die Entscheidung des LSG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann (stRspr, vgl zB BSG vom 29.3.2007 - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11; BSG vom 19.11.2007 - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 5; BSG vom 14.4.2009 - SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 8).

11

Diese Anforderungen gelten uneingeschränkt allerdings nur, wenn der Beschwerdeführer bereits in der Berufungsinstanz durch einen rechtskundigen und berufsmäßigen Prozessbevollmächtigten vertreten war (BSG vom 18.9.2003 - B 9 SB 11/03 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 mwN). War dies - wie hier - nicht der Fall, so kommen zum einen weniger strenge Anforderungen an Form und Inhalt eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags zur Anwendung (BSG vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4; BSG vom 1.3.2006 - B 2 U 403/05 B - Juris RdNr 5). Zum anderen wird dann aus dem Fehlen eines in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich zu Protokoll - bzw in der Zustimmung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung schriftsätzlich - aufrechterhaltenen Beweisantrags nicht stets der Schluss gezogen, dass dieser Beweisantrag bewusst nicht weiterverfolgt werden sollte (BSG vom 18.9.2003 - B 9 SB 11/03 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 mwN; anders bei zwischenzeitlichen Ermittlungen des Gerichts: BSG vom 4.6.2007 - B 9a BL 2/07 B - Juris RdNr 7). Der Umstand, dass ein Kläger im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten war, führt jedoch nicht dazu, dass die in § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG normierten Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge insgesamt unbeachtlich wären. Deshalb kann auch bei einem solchen Beteiligten nicht darauf verzichtet werden, dass er darlegt, einen konkreten Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt zu haben; dazu gehört die Angabe, welche konkreten Punkte am Ende des Verfahrens noch für aufklärungsbedürftig gehalten wurden und welcher Beweismittel sich das Gericht bedienen solle, um die begehrte weitere Aufklärung herbeizuführen (BSG vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4).

12

Das Vorbringen des Klägers erfüllt die vorstehend genannten Erfordernisse nicht in hinreichendem Umfang. Denn er stellt nicht schlüssig dar, dass er einen Beweisantrag wenigstens sinngemäß auch noch dann aufrechterhalten habe, als ihm das LSG mit Schreiben vom 1.9.2009 mitgeteilt hatte, dass aufgrund der vorhandenen Unterlagen die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Erwerbsminderung nicht im Ansatz erkennbar seien und deshalb Ermittlungen von Amts wegen nicht durchgeführt würden. Aus der von ihm wiedergegebenen Antwort, er könne die Auffassung des Gerichts zu seinem Gesundheitszustand nicht teilen, da die vorliegende Aktenlage etwas anderes beschreibe, lässt sich keinesfalls der Schluss ziehen, er habe damit das Begehren nach weiterer Sachaufklärung zu konkret benannten Punkten wenigstens sinngemäß erneut geltend gemacht. Insbesondere der Hinweis auf den nach seiner Auffassung gegenüber der Einschätzung des LSG abweichenden Aussagegehalt der bereits bei den Akten befindlichen medizinischen Unterlagen ("vorliegende Aktenlage") macht deutlich, dass der Kläger hiermit keine weiteren Aktivitäten des Gerichts zur Sachaufklärung eingefordert, sondern vielmehr seiner Ansicht Ausdruck verliehen hat, dass die vorhandenen Unterlagen für eine ihm günstige Entscheidung ausreichen.

13

4. Auch mit der - beiläufigen - Bemerkung, das LSG habe mit seiner Weigerung, Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen, in unzulässiger Weise eine Beweisführungspflicht für ihn selbst angenommen (Beschwerdebegründung S 15 - Mitte), ist ein Verfahrensmangel nicht ausrei-chend bezeichnet. Es wird schon nicht verdeutlicht, welche Verfahrensvorschrift dadurch verletzt sein könnte. Soweit aufgrund des angegebenen Rechtsprechungszitats (BSG SozR 1500 § 103 Nr 27 S 22) damit eine Verletzung des § 103 SGG gerügt werden soll, ist hierzu auf die Ausführungen unter 3. zu verweisen.

14

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen einer Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 SGG).

15

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbs 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 9. April 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Klägerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Dr. J. W., beigeordnet.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Bewilligung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

2

Die 1954 geborene Klägerin ist in der Zeit von April 1970 bis Juni 1972 als Textilverkäuferin ausgebildet worden. Nach einer Kindererziehungszeit bis Juli 1973 war sie von Februar 1974 bis Juli 1975 als Bandarbeiterin beschäftigt. Nach einer sich anschließenden Zeit der Arbeitslosigkeit, Krankheit und weiteren Kindererziehung war die Klägerin seit dem 1.10.2000 als Küchenkraft tätig.

3

Den Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte nach Auswertung medizinischer Unterlagen und Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. T. mit Bescheid vom 27.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.8.2003 ab. Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Oldenburg (SG) die Verwaltungsakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie beigezogen, weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen und den Orthopäden Dr. S. zum Sachverständigen ernannt. Auf dieser Grundlage hat das SG die Klage mit Urteil vom 3.7.2006 abgewiesen. Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und geltend gemacht, sie sei aufgrund der erheblichen Schmerzen im Wirbelsäulen- und Schulterbereich sowie in den Händen nicht mehr erwerbsfähig. Zwischenzeitlich sei sie auch in neurologisch-psychiatrischer Behandlung, sodass sich auch in dieser Hinsicht eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit ergebe. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Befunde beigezogen, eine Auskunft des letzten Arbeitgebers der Klägerin eingeholt und die Orthopädin Dr. P. als Sachverständige gehört und die Berufung mit Beschluss vom 9.4.2009 zurückgewiesen.

4

II. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG ist begründet.

5

Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Revision gegen eine Entscheidung des LSG ua zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Wird der Verfahrensmangel - wie vorliegend - auf eine Verletzung von § 103 SGG gestützt, muss er sich auf einen Beweisantrag beziehen, dem das LSG "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt ist. Die Beschwerdebegründung muss hierzu jeweils folgende Punkte enthalten (BSG, Beschlüsse vom 12.12.2003, B 13 RJ 179/03 B, SozR 4-1500 § 160a Nr 3 und vom 22.10.2008, B 5 KN 1/06 B, juris): (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund deren bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 35, 45 und § 160a Nr 24, 34). Der von der Klägerin in diesem Sinne formgerecht gerügte Verfahrensfehler liegt vor. Das LSG hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) verletzt, indem es zur Frage des Vorliegens einer die Erwerbsfähigkeit mindernden Gesundheitsstörung nicht, wie von der Klägerin beantragt, einen weiteren Sachverständigen auf psychiatrischem Gebiet gehört hat. Auf diesem Mangel kann die angegriffene Entscheidung auch beruhen.

6

           

Die Klägerin hat mit Schriftsatz an das Berufungsgericht vom 8.10.2008 unter anderem darauf hingewiesen, dass durch die bisherige Sachaufklärung ein bei ihr vorliegendes "Schmerzsyndrom" nicht abgeklärt sei und beantragt,

        

"dieser vorliegenden chronischen Schmerzsymptomatik im Zusammenhang mit einer depressiven Erkrankung der Klägerin durch ein einzuholendes psychiatrisches/nervenfachärztliches Zusatzgutachten nachzugehen."

7

           

Sie hat außerdem nach Zustellung des Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses vom 11.2.2009 mit weiterem Schriftsatz vom 10.3.2009 unter Vorlage einer Bescheinigung des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. vom 23.2.2009 beantragt:

        

"Die Klage nicht durch Beschluss zurückzuweisen, sondern - wie beantragt - zur Abklärung der sich aus der ärztlichen Stellungnahme des Dr. med. R. W. ergebenden Möglichkeit einer rentenrelevanten psychischen Erkrankung ein psychiatrisch-nervenfachärztliches Zusatzgutachten einzuholen."

8

           

Die Klägerin hat damit jedenfalls beantragt, zu der von Dr. W. bescheinigten "depressiven Episode als Belastungsstörung …" mit "… Auswirkungen auf alle Lebensbereiche …, natürlich auch auf die berufliche Leistungsfähigkeit" und deren rentenrechtlich relevanten Auswirkungen auf ihre Leistungsfähigkeit Beweis zu erheben durch Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen auf psychiatrischem Fachgebiet. Sie hat dem Berufungsgericht so unmittelbar vor dessen angekündigter Entscheidung durch Beschluss vor Augen geführt, dass sie die gerichtliche Aufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt angesehen hat (sog Warnfunktion, vgl Beschluss des Senats vom 12.2.2009, B 5 R 48/08 B juris RdNr 7 mwN) und hat in der Beschwerdebegründung hinreichend deutlich ausgeführt, dass sie ihren Beweisantrag auch noch am Schluss des Verfahrens aufrechterhalten hat. Zu einer erneuten Wiederholung ihres Beweisantrages nach dem Schreiben des LSG vom 11.3.2009, in dem dieses den Schriftsatz vom 10.3.2009 lediglich zum Anlass genommen hatte, nochmals auf seine frühere Ankündigung einer Entscheidung durch "Beschluss gemäß § 155 Abs 4 SGG" hinzuweisen, war die Klägerin ohnehin nicht verpflichtet(BSG vom 6.2.2007, B 8 KN 16/05 B, SozR 4-1500 § 160 Nr 12). Das LSG hätte sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung aus objektiver Sicht gedrängt fühlen müssen, diesem Antrag zu folgen. Das Berufungsgericht hat dem zeitlichen Umfang des beruflichen Leistungsvermögens prozessentscheidende Bedeutung für die streitige Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beigemessen und seine Überzeugung vom Vorliegen eines noch "wenigstens sechs Stunden täglich körperlich leichte Arbeiten bei Einhaltung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen" umfassenden Restleistungsvermögens im Wesentlichen auf die in erster Instanz durchgeführte "medizinische Beweisaufnahme" und das von ihm selbst veranlasste "Sachverständigengutachten der Orthopädin Dr. P. vom 26. Mai 2008" gestützt. Zum weiteren Vortrag der Klägerin hat das Berufungsgericht ausgeführt:

        

"… Soweit die Klägerin geltend macht, das Ausmaß ihrer Schmerzerkrankung bzw. der sich zwischenzeitlich eingestellten Depressionen stünde der Ausübung einer körperlich leichten Tätigkeit entgegen, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Der von den medizinischen Sachverständigen erhobene klinische Befund, sowie die noch im Januar 2009 durch Dr. W. mitgeteilte soziale Partizipation (die Klägerin versuche mit ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Kontakt zu halten, sie gehe schwimmen, um sich körperlich zu stärken) ergeben nicht das Bild eines Menschen, der in einem solchen Ausmaß von Schmerzen gepeinigt ist, dass ihm die regelmäßige, täglich wenigstens sechsstündige Verrichtung körperlich leichter Arbeiten nicht mehr möglich wäre.

        

Zu weiteren Ermittlungen auf medizinischem Gebiet, insbesondere in Form der Einholung eines neurologischen bzw psychiatrischen Sachverständigengutachtens, besteht aus der Sicht des erkennenden Senats kein Anlass. Aus den vorliegenden Sachverständigengutachten ergibt sich kein Anhalt für ein neurologisches Defizit bzw eine psychische Erkrankung von rentenrelevantem Ausmaß.

        

Das weitere Vorbringen der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 10. März 2009 gibt weder Anlass zu einer anderen Bewertung ihres beruflichen Leistungsvermögens, noch macht es weitere Sachermittlungen auf medizinischem Gebiet erforderlich. Soweit die Klägerin geltend macht, ihr Leistungsvermögen sei durch eine psychische Erkrankung in erheblichem Ausmaß eingeschränkt und in diesem Zusammenhang rügt, dass im bisherigen Verfahren lediglich orthopädische Gutachten eingeholt worden seien, ist auf Folgendes hinzuweisen: Von der Klägerin wurde im bisherigen Rechtsstreit keine psychische Erkrankung als Ursache für ihre Leistungsminderung geltend gemacht; sowohl im Verwaltungs- als auch im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren hat die Klägerin ausschließlich unter Hinweis auf orthopädische Beschwerden den Rentenanspruch verfolgt. Ebenso findet sich kein Hinweis in der Berufungsbegründung darauf, dass eine bei der Klägerin etwaige vorliegende psychische Erkrankung bisher nicht berücksichtigt worden wäre. Hier ist lediglich darauf hingewiesen worden, dass sich die Klägerin zwischenzeitlich in neurologisch-psychiatrischer Behandlung bei Dr. W. befinde. Der von Dr. W. vom Senat eingeholte Befundbericht vom 16. September 2006 hat eine von der Wirbelsäule ausgehende Schmerzerkrankung beschrieben. Eine psychische Erkrankung ist dem Bericht nicht zu entnehmen. Auch keinem der vielzählig zu den Akten gelangten anderen Befundberichte, Gutachten und ärztlichen Unterlagen ist ein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass die Klägerin aufgrund einer psychischen Erkrankung erwerbsgemindert sein könnte. Erstmals mit Schriftsatz vom 27.1.2009 hat die Klägerin einen ärztlichen Bericht des Dr. W. vom 19. Januar 2009 vorgelegt, aus dem die Diagnose einer "lang anhaltenden" depressiven Episode hervorgeht. Daraus folgt zum einen, dass der von der Klägerin seit Januar 2003 geltend gemachte Rentenanspruch nur schwerlich auf eine erstmals im Januar 2009 beschriebene psychische Erkrankung gestützt werden kann. Zum anderen sind aber auch Anhaltspunkte für eine seit Januar 2009 bestehende rentenrelevante Leistungsminderung auf psychiatrischem Fachgebiet der Bescheinigung des Dr. W. nicht zu entnehmen. Insoweit wird auf die bereits im Beschluss des Senats vom 11. Februar 2009 gemachten Ausführungen verwiesen. Zu ergänzen ist, dass der Senat mangels vorhandener entsprechender älterer ärztlicher Berichte davon ausgeht, dass es sich bei der nunmehr bescheinigten depressiven Episode um eine Akuterkrankung der Klägerin handelt. Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass Dr. W. die Diagnose einer "lang anhaltenden" depressiven Episode gestellt hat, denn den von ihm mitgeteilten Befunden ist keinerlei Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, auf welchen konkreten Zeitraum sich "lang anhaltend" beziehen soll. Daran ändert auch die nunmehr von der Klägerin vorgelegte Bescheinigung von Dr. W. vom 23. Februar 2009 nichts. Denn auch dieser ist nicht zu entnehmen, dass es sich bei der psychischen Erkrankung bereits um einen über Monate bestehenden Zustand handelt. Eine bei der Klägerin etwa bestehende Akuterkrankung ist damit für die Annahme einer dauerhaften Erwerbsminderung nicht ausreichend …"

9

Diese Ausführungen genügen nicht, die fehlende Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen auf psychiatrischem Gebiet zu rechtfertigen. Zwar gilt für die Zuziehung eines weiteren Sachverständigen nicht der Grundsatz, dass auch neue Beweismittel bis zur Grenze der Zumutbarkeit heranzuziehen sind (vgl hierzu BVerwG vom 26.8.1983, 8 C 76/80, Buchholz 310 § 86 Abs 1 VwGO Nr 147 S 9), und steht die Entscheidung darüber, ob ein weiterer Sachverständiger gehört werden soll, im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts, das sich insbesondere auf die Ernennung eines einzigen Sachverständigen beschränken kann (§§ 118 Abs 1 Satz 1 iVm § 404 Abs 1 Satz 1 und 2 Zivilprozessordnung). Das Gericht überschreitet die Grenzen seiner Entscheidungskompetenz aber, wenn es von der Zuziehung eines weiteren Sachverständigen absieht, obwohl sich ihm dies - wie hier - hätte aufdrängen müssen.

10

Die Klägerin weist zutreffend darauf hin, dass dem Berufungsgericht Äußerungen medizinischer Sachverständiger allein auf orthopädischem Gebiet zur Verfügung standen, die sich zudem mit dem Vorliegen von Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet nicht auseinandersetzen. Unter diesen Umständen hätte sich das LSG nicht darauf beschränken dürfen, die von Dr. W. bestätigte "lang anhaltende" Depression (vgl hierzu im Übrigen ua auch das sozialmedizinische Gutachten des Dr. L. für die AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen vom 12.3.2008, S 325 ff, 328 der Berufungsakte: "… weitere Diagnose(n) 000 Verdacht auf zunehmend depressiv gefärbte Stimmungslage …") trotz fehlender eigener Sachkunde lediglich als "Akuterkrankung" zu bewerten und ihr einen rentenrechtlich relevanten Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit abzusprechen. Das Berufungsgericht hat weder dargetan, warum es im Blick unter anderem auf die "soziale Partizipation" der Klägerin selbst in der Lage sein sollte die gestellte Diagnose überhaupt in Frage zu stellen noch, welche eigenen Erkenntnismittel ihm zur Verfügung stehen, deren Dauer und Auswirkungen zu beurteilen. Es hätte vielmehr davon ausgehen müssen, dass schon logisch der Zeitpunkt der erstmaligen Diagnosestellung hinsichtlich des Vorliegens eines die Bezeichnung aus psychiatrischer Sicht rechtfertigenden Zustandes allenfalls begrenzt aussagefähig sein kann, und daher von der Zuziehung eines weiteren ärztlichen Sachverständigen auf psychiatrischem Fachgebiet nicht absehen dürfen. Gilt dies nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung schon dann, wenn sich ein bereits gehörter "nervenärztlicher" Sachverständiger mit Einwänden nur pauschal auseinandergesetzt hat (vgl BSG, Urteil vom 17.2.1994, 13 RJ 45/93, SozR 3-2200 § 1246 Nr 44), so ist von einer entsprechenden Sachaufklärungspflicht des Tatsachengerichts erst recht dann auszugehen, wenn es erstmals um die fachliche Würdigung eines möglicherweise einschlägigen Krankheitsbildes geht.

11

Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Klägerin auch nicht auszuschließen, dass die beantragte Zuziehung eines weiteren medizinischen Sachverständigen auf psychiatrischem Gebiet weitere Gesundheitsstörungen erbracht hätte, die im Zusammenwirken mit den bereits festgestellten Leiden das Leistungsvermögen in einem rentenrechtlich relevanten Umfang mindern könnten.

12

Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.

13

Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat gleichzeitig iS von § 73a Abs 1 SGG iVm § 114 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Klägerin ist daher Prozesskostenhilfe zu gewähren.

14

Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. Juli 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Zuerkennung verschiedener Versorgungsleistungen an die Kläger nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz.

2

Die Kläger sind die Eltern des am 23.9.1991 geborenen und am 19.2.1997 unter bisher nicht vollständig aufgeklärten Umständen in dem Fluss N. ertrunkenen F. Insbesondere ist nicht vollständig geklärt, wie F. in den Hochwasser führenden Fluss geraten ist. Die Kläger machen geltend, er sei von dem am 23.8.1992 geborenen Y. in den Fluss gestoßen worden.

3

Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurden von verschiedenen Beamten mehrere Kinder vernommen, die Y. und F. auf bzw in der Nähe einer Brücke über die N. gesehen hatten. Ferner wurden der Bruder sowie die Mutter von Y. über dessen Äußerungen nach dem Vorfall befragt.

4

Die im Juni 1998 von den Klägern gestellten Versorgungsanträge lehnte das beklagte Land mit Bescheiden vom 20.3.2000 und 31.3.2000 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 29.8.2000 und 6.9.2000 ab, weil ein vorsätzlich tätlicher Angriff auf F. nicht feststellbar nachgewiesen sei. Es sei nicht bewiesen, dass Y. den F. gewaltsam und in feindlicher Absicht in den Fluss geschubst habe.

5

Das von den Klägern angerufene Sozialgericht Hildesheim (SG) hat durch Urteil vom 10.6.2004 (S 7 VG 31/00) und Gerichtsbescheid vom 23.3.2005 (S 7 VG 29/00) die Klagen abgewiesen. Mit Urteilen vom 19.7.2006 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) die Berufungen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Ansprüche scheiterten daran, dass es sich bei dem Ereignis vom 19.2.1997 nach allen drei denkbaren Sachverhaltsvarianten nicht um einen vorsätzlichen tätlichen Angriff gehandelt habe. Selbst wenn Y. den F. in den Fluss geschubst haben sollte, fehle es an einem tätlichen Angriff oder zumindest am Vorsatz. In diesem Fall liege nach Auffassung der gehörten Sachverständigen aus entwicklungspsychologischer Sicht keine willentliche Handlung des Y. vor.

6

Auf die dagegen eingelegten Revisionen der Kläger hat das Bundessozialgericht (BSG) mit zwei Urteilen vom 8.11.2007 (- B 9/9a VG 2/06 R - und - B 9/9a VG 3/06 R - = SozR 4-3800 § 1 Nr 11) die Urteile des LSG aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen: Entgegen der Auffassung des LSG lasse sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff des Y. auf F. nach dem Stand der Sachverhaltsaufklärung nicht aus Rechtsgründen ausschließen. Mit natürlichem Vorsatz vermöge auch zu handeln, wer weder seine Tat moralisch bewerten noch seine Impulse kontrollieren könne. Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, betreffe die Schuldfähigkeit des Täters, auf die es nach § 1 OEG nicht ankomme. Dass es sich bei dem Vorfall am 19.2.1997 lediglich um eine unter Kindern übliche Rangelei oder Schubserei gehandelt habe, sei bisher nicht festgestellt. Danach komme es entscheidend auf den äußeren Ablauf des Geschehens an, den das LSG, allein gestützt auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle von Zeugen - nicht aber des Y.-, noch nicht hinreichend aufgeklärt und auch mit den von ihm angenommenen Sachverhaltsvarianten nicht erschöpfend beschrieben habe.

7

           

Das LSG hat danach die beiden Rechtsstreite zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Sodann hat es in der mündlichen Verhandlung vom 22.4.2010 die Zeugen Y. und G. sowie C. vernommen. Durch seine Berichterstatterin hat es im Termin am 27.5.2010 die Zeugen M. (vormals W.) und S. gehört. In der mündlichen Verhandlung des LSG vom 22.7.2010 haben die Kläger neben ihren Sachanträgen hilfsweise beantragt,

die damals aufnehmenden Polizeibeamten KHM G., POK B. und PKH S. sowie den Polizisten namens K., wie im Schriftsatz vom 14.6.2010 benannt, zeugenschaftlich zu vernehmen zu dem Beweisthema, dass ihr Sohn zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw Opfer eines tätlichen Angriffs war.

8

Durch Urteil vom 22.7.2010 hat das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Nach Ausschöpfung sämtlicher Beweismittel habe der Ablauf des Geschehens am 19.2.1997 nicht mehr aufgeklärt werden können. Bedeutende Beweismittel seien die polizeilichen Vernehmungsprotokolle, die im unmittelbaren bzw zeitnahen Anschluss an das Geschehen aufgrund der Aussagen der Kinder C., G. und M. angefertigt worden und im vorliegenden Rechtsstreit urkundsbeweislich heranzuziehen seien. Aus diesen zeitnahen polizeilichen Vernehmungsprotokollen lasse sich nicht eindeutig auf einen bestimmten Geschehensablauf schließen. Auch die Vernehmung der Zeugen durch den Senat habe keine weitere Aufklärung des Geschehenshergangs erbringen können. Die Vernehmung weiterer Zeugen erachte der Senat nicht für erforderlich. Insbesondere sei die von den Klägern hilfsweise beantragte Vernehmung der namentlich genannten Polizeibeamten nicht geboten. Denn insoweit könne der Senat unterstellen, dass die Aussagen der Kinder von diesen Beamten richtig und vollständig in den Protokollen niedergelegt worden seien. Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeibeamten selbst Zeugen des Geschehens am 19.2.1997 gewesen seien, lägen nicht vor. Dies sei auch von den Klägern nicht behauptet worden.

9

Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger als Verfahrensmangel die Verletzung des § 103 SGG geltend. Das LSG sei ohne hinreichende Begründung ihrem mit Schriftsatz vom 14.6.2010 und erneut in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auf Vernehmung der Polizeibeamten nicht gefolgt, die im Februar 1997 die Kinder vernommen hätten. Diese hätten als Zeugen auch Angaben über das Verhalten der Kinder während der Vernehmungen machen können. Dies gelte insbesondere für KHM G., der den Augenzeugen C. vernommen habe. Zudem habe das LSG die vorliegenden Beweismittel unzutreffend gewürdigt.

10

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 22.7.2010 ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) ergangen. Dieser Verfahrensmangel ist von den Klägern schlüssig gerügt worden. Er führt, anders als die gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossene Rüge unzutreffender Beweiswürdigung(§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

11

Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es entgegen dem von den Klägern in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag, die im Februar 1997 im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen tätig gewesenen Polizeibeamten nicht als Zeugen ua dazu befragt hat, wie sich die Kinder während ihrer damaligen Vernehmungen verhalten haben.

12

Zwar ist das im Rahmen des Hilfsantrags aufgeführte Beweisthema, dass F."zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw Opfer eines tätlichen Angriffs war", einerseits zu allgemein formuliert und andererseits nicht allein auf die Aufklärung von Tatsachen gerichtet ("tätlicher Angriff" ist ein Rechtsbegriff). Die Kläger hatten jedoch mit Schriftsatz vom 14.6.2010, auf den sie in ihrem Beweisantrag ausdrücklich verwiesen haben, hinreichend deutlich gemacht, dass insbesondere KHM G. zu seinen Erinnerungen an die Aussagen der Kinder befragt werden sollte. Danach ging es nicht um die Frage, ob die Aussagen der Kinder seinerzeit vollständig und richtig protokolliert worden sind und/oder ob die Polizeibeamten etwa selbst Augenzeugen des Vorfalls gewesen sind, sondern um die näheren Umstände der Vernehmungen, insbesondere das dabei von den Kindern gezeigte Verhalten.

13

Soweit das LSG die Befragung der Polizeibeamten für nicht geboten erachtet hat, weil es unterstelle, dass die protokollierten Aussagen richtig und vollständig niedergelegt worden seien, und Anhaltspunkte dafür nicht vorlägen, dass die Beamten selbst Augenzeugen des Geschehens am 19.2.1997 gewesen seien, hat es das mit dem Beweisantrag erkennbar verfolgte Anliegen der Kläger nicht hinreichend berücksichtigt. Etwaige Zweifel betreffend das genaue Beweisthema hätte es ausräumen müssen (vgl § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 SGG). Das LSG ist damit dem Beweisantrag schon ohne hinreichende "Begründung" nicht gefolgt.

14

Überdies bestand auch in der Sache kein hinreichender Grund, den Beweisantrag abzulehnen. Ohne hinreichende Begründung iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG bedeutet, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben(BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 49). Es bestand hier zwingende Veranlassung, dem Beweisantrag zu folgen. Das LSG hat entgegen seiner Pflicht aus § 103 SGG eine Beweislastentscheidung zu Lasten der Kläger getroffen, ohne alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft zu haben. Dem Verhalten der Kinder während ihrer polizeilichen Vernehmung könnten durchaus Anhaltspunkte zur Beurteilung ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit und zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen entnommen werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf den von KHM G. befragten Augenzeugen C. Insoweit hat das LSG noch nicht alle geeigneten Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts genutzt.

15

Auf diesem Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Zeugenvernehmungen der Rechtsstreit einer anderen, für die Kläger günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.

16

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.