Bundesgerichtshof Urteil, 20. Dez. 2016 - X ZR 84/14

bei uns veröffentlicht am20.12.2016
vorgehend
Bundespatentgericht, 4 Ni 34/12, 08.04.2014

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 84/14 Verkündet am:
20. Dezember 2016
Hartmann
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
ECLI:DE:BGH:2016:201216UXZR84.14.0

Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. Dezember 2016 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richter Dr. Grabinski und Dr. Bacher sowie die Richterinnen Schuster und Dr. Kober-Dehm

für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 8. April 2014 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Patentgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Der Beklagte ist Inhaber des am 2. April 1998 unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 3. April 1997 angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 971 754 (Streitpatents), das eine Fettabsaugvorrichtung betrifft. Patentanspruch 1, auf den sich acht weitere Patentansprüche zurückbeziehen, lautet in der erteilten Fassung in der Verfahrenssprache: Appareil de lipo-aspiration comprenant une canule d'aspiration (3) agencée pour aspirer de la graisse sous-cutanée par un orifice (14) d'entrée, la canule ayant un axe longitudinal (16) et étant montée sur un organe d'entraînement mécanique (10, 11) logé dans un boîtier (2), ledit organe d'entraînement ayant une entrée pourvue pour y connecter une source d'énergie et agencée pour produire un mouvement et le transmettre à ladite canule et le mouvement de la canule comprenant un composant de translation suivant l'axe de la canule, caractérisé en ce que le mouvement de la canule est un mouvement de nutation comprenant un composant de vibration perpendiculaire à l'axe de la canule et le composant de translation suivant l'axe de la canule, le composant de translation ayant une amplitude entre 2 mm et 1 cm, et un espace (18) étant prévu entre la canule (3) et le boîtier (2), ledit espace étant suffisamment dimensionné de façon à permettre au composant de vibration de provoquer la dislocation de la graisse.
2
Die Klägerinnen haben geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei gegenüber den ursprünglich eingereichten Unterlagen unzulässig erweitert , er sei ferner weder ausführbar offenbart noch patentfähig.
3
Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt (BPatG, GRURRR 2014, 484). Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in der Fassung von fünf bereits in erster Instanz gestellten Hilfsanträgen verteidigt. Die Klägerinnen treten dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe:


4
Die zulässige Berufung hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Patentgericht.
5
I. Das Streitpatent betrifft eine Fettabsaugvorrichtung.
6
1. Nach der Patentbeschreibung ist die Technik der Fettabsaugung als solche bekannt. Eine Absaugkanüle werde, so wird erläutert, unter die Haut des Patienten eingeführt und bis zu der Zone hineingestoßen, wo das Fett mittels in der Kanüle erzeugten Unterdrucks abgesaugt werden solle. Die Fettabsaugung erfordere hierbei eine wiederholte Vor- und Zurückbewegung der Kanüle. Zur Unterstützung des Anwenders seien Vorrichtungen entworfen worden, die mit einem mechanischen Antriebselement versehen seien, um eine Bewegung zu erzeugen und an die Kanüle zu übertragen. In Vorrichtungen, die in den USamerikanischen Patentschriften 5 348 535 oder 5 352 194 (D2) beschrieben seien, werde eine Translationsbewegung genutzt. Zur Führung der Bewegung gleite bei der Vorrichtung nach jener Schrift die Absaugkanüle als innere Kanüle in einer als Führungskanüle dienenden äußeren Kanüle. Dies sei mit der Gefahr eines Abschneidens von Gefäßen und Nerven durch die Bewegung der inneren gegenüber der äußeren Kanüle ("Guillotineneffekt") verbunden. Bei der Vorrichtung nach der D2 wiederum werde eine Translationsbewegung der Kanüle mit einer Amplitude von mindestens 1 cm hervorgerufen. Der dadurch bewirkte Abschabeffekt sei gefährlich, weil der Chirurg Gefahr laufe, die Grenzen des abzusaugenden Gebiets zu überschreiten und somit den Patienten zuverletzen. Die in der französischen Patentanmeldung 2 691 624 gezeigte Fettabsaugvorrichtung , bei welcher das Antriebselement dazu eingerichtet sei, eine Vibrationsbewegung mit Ultraschallfrequenz zu erzeugen, habe sich demgegenüber als wenig wirkungsvoll erwiesen und könne zudem schwere Verbrennungen und Hautnekrosen verursachen.
7
2. Vor diesem Hintergrund betrifft das Streitpatent das technische Problem , eine Fettabsaugvorrichtung mit mechanischer Unterstützung bereitzustellen , die eine möglichst gewebeschonende wirkungsvolle Entfernung subkutanen Körperfetts ermöglicht.
8
3. Zur Lösung schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 eine Vorrichtung vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen (abweichende Gliederung des Patentgerichts in eckigen Klammern): 1. Die Fettabsaugvorrichtung umfasst [1]: 1.1 eine Saugkanüle mit einer Längsachse [1.2] zum Absaugen von subkutanem Fett durch eine Eingangsöffnung [1.1] und 1.2 ein mechanisches Antriebselement, 1.2.1 das sich in einem Gehäuse (2) befindet [1.3], 1.2.2 das eine Öffnung zum Anschluss einer Energiequelle aufweist [1.4], 1.2.3 auf dem die Kanüle angebracht ist (étant montée sur) [1.3] und 1.2.4 das geeignet ist, eine Bewegung hervorzurufen und diese auf die Kanüle zu übertragen [1.4]. 2. Die Bewegung der Kanüle ist eine Nutationsbewegung (mou- vement de nutation) [1.6], umfassend (comprenant) 2.1 einen Vibrationsanteil (composant de vibration) senkrecht zur Achse der Kanüle [1.7] und 2.2 einen Translationsanteil (composant de translation) entlang der Achse der Kanüle [1.5; 1.8] 2.2.1 wobei der Translationsanteil eine Amplitude zwischen 2 mm und 1 cm aufweist [1.8.1]. 3. Es ist ein Zwischenraum (18) zwischen der Kanüle und dem Gehäuse vorgesehen [1.9], der 3.1 groß genug ist, dass der Vibrationsanteil die Ablösung des Fetts auslösen kann [1.9.1].
9
4. Mit diesen Merkmalen stellt sich für den Fachmann, den das Patentgericht rechtsfehlerfrei als Ingenieur mit langjähriger Erfahrung in der Entwicklung von Fettabsaugvorrichtungen angesehen hat, der patentgemäße Gegenstand wie folgt dar:
10
a) Die patentgemäße Vorrichtung ermöglicht die Absaugung von subkutanem Fett. Eine Saugkanüle (Merkmal 1.1 [1.1]) ist geeignet, in das in der Unterhautschicht angeordnete Fettgewebe vorzudringen, dort bewegt zu werden und bei anliegendem Unterdruck einen Durchsatz des über die Eingangsöff- nung(en) eintretenden Fettes zu ermöglichen. Eine solche - an sich bekannte - Kanüle hat vorzugsweise eine Länge von 5 bis 35 cm (Sp. 6, Z. 11-12) und einen Durchmesser von 1,5 bis 6 mm (Sp. 4, Z. 43-46).
11
b) Um eine wirksame und zugleich schonende Fettabsaugung mittels der Kanüle sicherzustellen, ist die erfindungsgemäße Fettabsaugvorrichtung dazu ausgestaltet, mittels des mechanischen Antriebselements an der Saugkanüle eine Nutationsbewegung (Merkmal 2 [1.6]: "un mouvement de nutation") zu erzeugen.
12
aa) Wie das Patentgericht zutreffend erkannt hat, erfordert die "Nutationsbewegung" nicht notwendig eine Kreiselbewegung, sondern meint jede Bewegung der Kanüle, die einen Vibrationsanteil senkrecht zur Achse und einen Translationsanteil entlang der Achse der Kanüle im Sinne der Merkmale 2.1 [1.7] und 2.2 [1.5; 1.8] umfasst (Sp. 2, Z. 35-39; Sp. 5, Z. 56 - Sp. 6 Z. 2).
13
bb) Der Vibrationsanteil der Bewegung (Merkmal 2.1 [1.7]) erlaubt nach der Beschreibung des Streitpatents (Sp. 2, Z. 45-58; Sp. 3, Z. 5-6; Sp. 6, Z. 34-39; Sp. 6, Z. 49-52) am freien Ende der Kanüle in der Behandlungszone ein leichteres Eintreten des Fetts in die Kanüle und damit eine effektive Absaugung , weil die auf das subkutane Fett übertragene Vibration zu dessen Ablösung führen und zur Herstellung einer echten Emulsion des Fettgewebes beitragen soll.
14
(1) Zu der für eine hinlängliche Vibration im Fettgewebe notwendigen Schwingungsenergie sowie der am Kanülenende wirkenden Kraft des Vibrationsanteils verhält sich das Streitpatent nicht ausdrücklich. Entsprechend legt sich Patentanspruch 1 hinsichtlich des Vibrationsanteils auch nicht auf einen bestimmten Bereich der Amplitude fest. Allerdings entnimmt der Fachmann dem Anspruch 1 aus der Zusammenschau der Merkmale 2.1 [1.7] und 3.1 [1.9.1], bestätigt durch die Beschreibung (vgl. Sp. 2, Z. 42-43; Sp. 3, Z. 5-6; Sp. 6, Z. 34-39 und Sp. 6, Z. 49-52), dass der von der patentgemäßen Absaug- vorrichtung zu realisierende Vibrationsanteil der Nutationsbewegung nur ein solcher ist, der die Ablösung des Fetts bewirken kann. Eine hierzu untaugliche, lediglich minimale Vibrationsbewegung senkrecht zur Achse der Kanüle, die - hierauf weisen die Klägerinnen zutreffend hin - bei einer sich translatorisch bewegenden Kanüle ohnehin nicht vollständig vermeidbar ist, wird - entgegen der Auffassung des Patentgerichts, das in seinem Hinweis nach § 83 PatG gemeint hat, jede "minimale Querbewegung" genüge - vom Patentanspruch sonach nicht als Vibrationsanteil gemäß Merkmal 2.1 [1.7] erfasst.
15
(2) Die konkrete Bemessung des für eine Fettablösung hinreichenden Vibrationsanteils bei der Konstruktion einer patentgemäßen Fettabsaugvorrichtung stellt das Streitpatent ins fachmännische Können. In der Beschreibung einer bevorzugten Ausführungsform wird insoweit die Amplitude des Vibrationsanteils am Ende der Kanüle in einer Größenordnung von 1 cm oder darunter, beispielsweise von 3 bis 5 mm vorgeschlagen (Sp. 6, Z. 15; Sp. 6, Z. 23-25).
16
cc) Der Translationsanteil der Bewegung (Merkmal 2.2 [1.5; 1.8]) erfüllt nach der Patentbeschreibung zwei Funktionen. Einerseits bedingt und verstärkt er den Vibrationsanteil bei der Fettabsaugung selbst (vgl. Sp. 2, Z. 50-52; Sp. 5, Z. 55-56; Sp. 6, Z. 30-33; Sp. 9, Z. 2-8); die Frequenz des Translationsanteils wirkt so als Erregerfrequenz des Vibrationsanteils. Andererseits unterstützt der Translationsanteil die vom Chirurgen bei der Fettabsaugung angewendete Bewegung und erlaubt so ein leichtes und sanftes Eindringen und Vorschieben der Kanüle unter der Haut des Patienten (Sp. 2, Z. 52-55; Sp. 6, Z. 39-42).
17
dd) Damit das subkutane Fett leicht bis zur Grenze seiner Ausdehnung abgesaugt werden kann und gleichzeitig die Gefahr minimiert ist, die Behandlungszone zu überschreiten, wodurch Verletzungen der Gefäße und Nerven des Patienten maximal begrenzt werden können (Sp. 2, Z. 55 - Sp. 3, Z. 1; Sp. 6, Z. 2-4), gibt der Patentanspruch 1 eine Amplitude des Translationsanteils zwischen 2 mm und 1 cm vor (Merkmal 2.2.1 [1.8.1]).
18
c) Neben den beiden miteinander verbundenen und zusammenwirkenden Funktionsbestandteilen Saugkanüle (Merkmal 1.1 [1.1]) und mechanisches Antriebselement (Merkmal 1.2 [1.4]) gibt der Streitpatentanspruch 1 als weiteres notwendiges Bauteil der erfindungsgemäßen Vorrichtung ein Gehäuse vor, das gleichzeitig den Griff der Fettabsaugvorrichtung bilden kann. In seinem Inneren ist das Antriebselement angeordnet, auf dem wiederum die Kanüle angebracht ist (Merkmale 1.2.1 und 1.2.3 [1.3]; Sp. 2, Z. 33-34; Sp. 3, Z. 31-33; Sp. 4, Z. 39-42).
19
d) Zur räumlich-relativen Anordnung der Saugkanüle gegenüber dem Gehäuse trifft Patentanspruch 1 ausdrücklich nur in Merkmal 3 [1.9] insofern eine Aussage, als ein Zwischenraum zwischen Kanüle und Gehäuse vorzusehen ist. Das Streitpatent verdeutlicht diesen Zwischenraum bei einem Ausführungsbeispiel in Figur 4 als eine weite Durchgangsöffnung mit dem Bezugszeichen 18:
20
Nach Merkmal 3.1 [1.9.1] ist der Zwischenraum jedenfalls so vorzusehen , dass der Vibrationsanteil der Nutationsbewegung am freien Ende der Kanüle eine Ablösung des Fetts ermöglicht. Der hier hervorgehobene Beziehungszusammenhang zwischen der Anordnung der Saugkanüle gegenüber dem Gehäuse und der durch den Vibrationsanteil herbeizuführenden Wirkung bei der Fettabsaugung gibt dem Fachmann an, bei der Konstruktion einer patentgemäßen Fettabsaugvorrichtung eine wirkungsbeeinträchtigende Behinderung der Nutationsbewegung der Kanüle infolge einer Dämpfung des Vibrationsanteils durch das Gehäuse zu vermeiden. Insofern "erlaubt" der Zwischenraum zwischen Saugkanüle und Gehäuse den Vibrationsanteil nach Merkmal 2.1 [1.7] und damit die Nutationsbewegung als solche und deren fettablösende Wirkung (Sp. 2, Z. 39-43; Sp. 6, Z. 26-29; Sp. 9, Z. 8-10).
21
Wie ein für die Fettablösung hinreichender Vibrationsanteil (Merkmal 2.1 [1.7]) überhaupt erzielt werden kann, bestimmt sich demgegenüber nach der spezifischen Ausgestaltung der Funktionsbestandteile Saugkanüle und Antriebselement (Merkmale 1.1 [1.1; 1.2], 1.3 [1.3] und 1.2 [1.4]). Der Fachmann wird hierbei berücksichtigen, dass die Amplitude des Vibrationsanteils funktional abhängig ist von der Frequenz des vibrationserregenden Translationsanteils (vgl. Sp. 2, Z. 50-52) und sich proportional zur Länge der verwendeten Kanüle verhält (Sp. 6, Z. 8-11). Entsprechend benennt das Streitpatent für eine Vibrationsamplitude von ca. 1 cm eine Frequenz der Translationsbewegung von 15 Hz und eine Länge der Kanüle von 25 cm (Sp. 6, Z. 13-16).
22
II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
23
Der Gegenstand des Streitpatents sei gegenüber dem Inhalt der Anmeldung unzulässig erweitert. Nach Merkmal 3.1 [1.9.1] des erteilten Anspruchs 1 werde der Zwischenraum in einen Wirkzusammenhang mit dem Vibrationsanteil und der Ablösung des Fettes als Leistungserfolg gesetzt. Für einen solchen Wirkzusammenhang fehle in den Anmeldeunterlagen jeglicher Hinweis. Die Beschreibung der Anmeldung gehe ausschließlich ausführlich auf die Bedeutung des Translationsanteils und der zu wählenden Amplitude des Vibrationsanteils am Ende der Kanüle für eine wirksame und schonende Fettabsaugung ein. Nach der ursprünglichen Offenbarung könne der Zwischenraum für den Vibrationsanteil völlig unberücksichtigt bleiben. Der für die Nutationsbewegung maßgebliche Vibrationsanteil am Ende der Kanüle ergebe sich ohne Rücksicht auf den Zwischenraum ausschließlich oder im Wesentlichen aus den weiteren Bedingungen , wie Art und Länge der Kanüle.
24
Die unzulässige Erweiterung führe zwingend zur Nichtigerklärung nach Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜbkG. Insoweit könne dahinstehen, ob das Merkmal 3.1 [1.9.1] die ursprünglich offenbarte technische Lehre nur konkretisiere und damit einschränke, wofür vieles spreche, oder ob es einen anderen technischen Aspekt anspreche, welcher die ursprüngliche Lehre zu einer anderen technischen Lehre mache. Denn anders als beim nationalen Patent bestehe angesichts der Regelung des Art. 123 Abs. 2 und Abs. 3 EPÜ keine Möglichkeit zur einschränkenden Auslegung des Nichtigkeitsgrundes nach Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ i.V.m. Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜbkG unter Ausklammerung der "uneigentlichen Erweiterung".
25
III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren nicht stand. Auf die - nach Erlass des angefochtenen Urteils vom Senat bejahte (BGH, Urteil vom 17. Februar 2015 - X ZR 161/12, BGHZ 204, 199 - Wundbehandlungsvorrichtung ) - Möglichkeit, bei einer unzulässigen Erweiterung der vom Patentgericht angenommenen Art unter bestimmten Voraussetzungen von einer Nichtigerklärung abzusehen, kommt es nicht an, denn entgegen der Auffassung des Patentgerichts ist der Gegenstand des Streitpatents den ursprünglich eingereichten Unterlagen unmittelbar und eindeutig zu entnehmen.
26
1. Anders als die Klägerinnen meinen, lehren die ursprünglich eingereichten Unterlagen, dass der Vibrationsanteil nach der Erfindung nur ein solcher ist, der die Ablösung des Fetts in der subkutanen Gewebeschicht bewirken kann (Merkmal 2.1 [1.7] i.V.m. Merkmal 3.1 [1.9.1]).
27
Die Anmeldung weist - in Übereinstimmung mit der Beschreibung des Streitpatents - gerade als Kennzeichen der Erfindung die Nutationsbewegung der Kanüle aus, deren "Nutationskraft" (force de nutation) zur Ablösung des Fetts und Herstellung einer echten Emulsion beiträgt (Merkmal 2; S. 3, Z. 7-11 und Z. 24-27 der Veröffentlichung der Anmeldung [WO 98/44966]). In der ursprünglichen Beschreibung wird dem Fachmann dabei verdeutlicht, dass der Vibrationsanteil der Nutationsbewegung die zur Ablösung und zum Emulgieren erforderliche Vibration in das Fett hineinträgt (S. 3, Z. 13-17). Zum Ausführungsbeispiel , in welchem die Bewegung der Kanüle einen Vibrationsanteil mit einer Amplitude in der Größenordnung von 1 cm oder von 3 bis 5 mm aufweist (S. 8, Z. 20-23 und Z. 29-30), erläutert die Ursprungsanmeldung, dass die bei einem solchen Vibrationsanteil direkt auf das Fett übertragene Vibration jenes "auflöst, ablöst oder zerplatzt und sozusagen schaumig schlägt" (la fait dis- socier, disloquer ou éclater et la bat pour ainsi dire en mousse), wodurch das Fett leicht in die Kanülenöffnungen eintreten kann (S. 9, Z. 6-11). In der Zusammenschau hat der Fachmann keinerlei Anhaltspunkt, dass die namentlich im Ausführungsbeispiel der Anmeldung offenbarte Erfindung als Vibrationsanteil der Nutationsbewegung auch eine für die Fettablösung unzureichende Querbewegung der Kanüle zur Achse anspricht.
28
2. Entgegen der patentgerichtlichen Würdigung zeigt das Ausführungsbeispiel der Ursprungsanmeldung auch den Beziehungszusammenhang zwischen der Anordnung der Saugkanüle gegenüber dem Gehäuse und der durch den Vibrationsanteil herbeizuführenden Wirkung bei der Fettabsaugung gemäß Merkmal 3.1 [1.9.1] des Streitpatents.
29
Auch insoweit übereinstimmend mit der Streitpatentschrift (Sp. 6, Z. 26-29) wird beschrieben (S. 9, Z. 1-3), dass der in Figur 4 als weites Durchgangsloch mit dem Bezugszeichen 18 dargestellte freie Raum zwischen der Kanüle und dem als Griff ausgestalteten Gehäuse vorgesehen ist, "um die Nutationsbewegung zuzulassen" (pour permettre le mouvement de nutation). Aus dem Gesamtzusammenhang des Ausführungsbeispiels wird dem Fachmann unmittelbar deutlich, dass der gezeigte Zwischenraum dazu beiträgt, dass sich die durch das Antriebselement hervorgerufene Bewegung der Kanüle (Merkmal 1.2.2 [1.4]) ohne Behinderung durch das Gehäuse ausbreitet, so dass am freien Ende der Kanüle neben dem Translationsanteil auch der für die Ablösung des Fetts wesentliche Vibrationsanteil der Nutationsbewegung (Merkmal 2.1 [1.7]) auftritt. Damit wird offenbart, dass die Bedeutung des Zwischenraums für die Gewährleistung der Funktion des erfindungsgemäßen Vibrationsanteils darin liegt, eine vom Gehäuse herrührenden Schwingungsdämpfung zu vermeiden. Hierin erschöpft sich aber, wie ausgeführt, der technische Sinngehalt des Merkmals 3.1 [1.9.1].
30
IV. Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 119 Abs. 1 PatG). Die Lehre von Patentanspruch 1 ist so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Art. II § 6 Nr. 2 IntPatÜbkG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. b EPÜ).
31
1. Die Klägerinnen machen geltend, es sei nicht offenbart, wie eine zur Kanülenachse senkrechte Vibration erzeugt werde, wie stark die Vibration der Kanüle sein müsse, damit es zu einer Ablösung des Fetts komme, und wie festgestellt werden könne, wie der Zwischenraum gestaltet sein müsse, damit die Vibration die Ablösung des Fetts auslösen könne.
32
2. Diese Angriffe sind unbegründet.
33
a) Das Klagevorbringen rechtfertigt - wie auch das Patentgericht in seinem Hinweis angenommen hat - nicht die Annahme, es werde vom Streitpatent nicht hinreichend offenbart, wie eine zur Kanülenachse senkrechte Vibration erzeugt werden kann. Im ersten Ausführungsbeispiel gibt das Streitpatent für eine Vibrationsamplitude von ca. 1 cm vor, den Translationsanteil der Kanülenbewegung mit einer Frequenz von 15 Hz bereitzustellen (Merkmal 2.2 [1.5; 1.8] i.V.m. Merkmal 1.2.4 [1.4]) und eine Kanüle mit einer Länge von 25 cm zu verwenden (Merkmal 1.1 [1.1; 1.2]). Zur Erzeugung des Translationsanteils mit einer Frequenz von 15 Hz kann nach der Beschreibung dieses Beispiels (Sp. 5, Z. 14-56) das Antriebselement als Zylinder mit einem Druckluftkolben ausgeführt werden, wodurch an der mit diesem verbundenen Kanüle eine entsprechende Translationsbewegung erzielt wird, die ihrerseits am Ende der Kanüle eine Vibrationswelle hervorruft (Sp. 5, Z. 55 f.). Die verwendete Frequenz wird in Abhängigkeit des für den Kolben verwendeten Materials gewählt. Dabei be- einflussen die Resonanzeigenschaften des gewählten Materials die Vibrationswelle (Sp. 5, Z. 48-50). Dass der Fachmann mit diesen technischen Informationen nicht in der Lage wäre, einen hinreichenden Vibrationsanteil nach Merkmal 2.1 [1.7] i.V.m. Merkmal 3.1 [1.9.1] zu erzeugen, zeigen die Klägerinnen nicht konkret auf. Vielmehr gehen sie selbst davon aus, dass eine gewisse, durch die translatorische Bewegung ausgelöste Querkomponente ohnedies unvermeidlich ist. Dann war es dem Fachmann aber auch möglich, durch eine Reduzierung der Führung der Kanüle senkrecht zu ihrer Längsachse eine stärkere Querkomponente zu erlauben.
34
b) Entsprechendes gilt für die Kritik, das Streitpatent erkläre nicht, wie stark die Vibration der Kanüle sein müsse, damit es zu einer Ablösung des Fetts komme. Zum Vibrationsanteil nach Merkmal 2.1 [1.7] offenbart das Streitpatent im Ausführungsbeispiel ausdrücklich eine Amplitude am freien Ende der Kanüle, die in der Größenordnung von 1 cm liegt und vorzugsweise zwischen 3 und 5 mm beträgt. Mit diesen Angaben kann der Fachmann eine geeignete Stärke der Vibration durch übliche Orientierungsversuche ermitteln.
35
c) Soweit die Klägerinnen schließlich eine ausführbare Offenbarung des Zwischenraums nach Merkmal 3 [1.9] i.V.m. Merkmal 3.1 [1.9.1] in Abrede stellen, kann auch dem nicht beigetreten werden. Ausgehend von der im Streitpatent vorgeschlagenen und zu erzielenden Vibrationsamplitude sind - je nach der spezifischen Anbindung der Kanüle an das konkret im Gehäuse angeordnete Antriebselement - lediglich einfache trigonometrische Überlegungen erforderlich , um mit der Kanülenlänge und Kolbengeometrie den Zwischenraum so zu berechnen, dass vom Gehäuse keine wirkungsbeeinträchtigende Schwingungsdämpfung ausgeht, sondern dem Vibrationsanteil die Ablösung des Fetts erlaubt wird.
36
V. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 119 Abs. 5 Satz 2 PatG). Ohne weitere Sachaufklärung kann nicht festgestellt werden, ob der Gegenstand des Streitpatents patentfähig ist.
37
1. Die in das Verfahren eingeführten druckschriftlichen Entgegenhaltungen enthalten nach vorläufiger Einschätzung des Senats unter Berücksichtigung der Ausführungen des Patentgerichts in seinem gerichtlichen Hinweis nach § 83 PatG weder eine Anweisung noch eine Anregung zur Gestaltung einer Vorrichtung nach dem Streitpatent. Weder ist den Entgegenhaltungen das Erfordernis einer ausreichenden Nutationsbewegung zur Ablösung des Fettanteils zu entnehmen, noch ist feststellbar, dass eines der bekannten Geräte eine derartige Wirkung erzielt hat. Ebenso wenig ist aufgezeigt, aus welchen Elementen der Fachmann diesen Effekt hätte ableiten können. Bei der Bewertung des druckschriftlichen Standes der Technik (BGH, Urteil vom 7. Juli 2015 - X ZR 64/13, GRUR 2015, 1095 Rn. 39 -Bitratenreduktion) wird das Patentgericht deshalb nachfolgende Überlegungen zu berücksichtigen haben:
38
Der US-Patentschrift 4 735 604 (D1) mag der Fachmann entnehmen, dass eine minimale seitliche Bewegung des rohrförmigen Elements nicht ausgeschlossen werden kann. Gleichzeitig gibt die D1 aber vor, jegliche seitliche Vibration des axial vor- und zurückschwingenden Elements zu vermeiden (vgl. Sp. 4, Z. 23-25). Eine für die Fettablösung hinreichende Querbewegung des schneidenden Endes, die dem streitpatentgemäßen Vibrationsanteil entspräche , wird nicht beschrieben.
39
Bei der Liposuktionsvorrichtung nach der D2 überschreitet schon die Translationsbewegung der Kanüle die Amplitudenobergrenze von 1 cm (Merkmal 2.2.1 [1.8.1]); in der Schrift wird darüber hinaus die Bewegung der Kanüle als genau gesteuerte, axiale Vor- und Zurückbewegung und nicht als senkrechte Bewegung der Kanüle zu ihrer Achse beschrieben.
40
Ein gegenüber der D2 weitergehender Offenbarungsgehalt ergibt sich weder aus der französischen Patentanmeldung 2 744 369 (D5) noch aus der US-Patentschrift 5 112 302 (D6) und auch nicht aus der - nur für die Neuheitsprüfung in Betracht zu ziehenden - internationalen Patentanmeldung 98/40021 (D7). Die US-Patentschrift 4 634 420 (D4) und die veröffentlichte europäische Patentanmeldung 391 511 (D3) liefern ebenfalls keine Anregung zu einer Ausgestaltung der Vorrichtung, bei welcher die Kanülenbewegung neben dem Translationsanteil am freien Ende einen Vibrationsanteil umfasst, der eine Ablösung des Fetts bewirken kann.
41
2. Das Patentgericht wird sich daher mit der Frage der als neuheitsschädlich geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzung des Liposuktionsgeräts "VACUSON 60 LP" zu befassen haben. Die erstmalige Prüfung dieser Frage unter Aufklärung des Parteivortrags zur tatsächlichen Ausgestaltung und Wirkungsweise der Vorrichtung und der hierbei verwirklichten Merkmale des Streitpatents - namentlich Merkmal 2.1 [1.7] i.V.m. 3.1 [1.9.1] und Merkmal 3 i.V.m. 1.2.3 und 1.2.1 [1.3] -, die eine Beweisaufnahme durch Einvernahme der benannten Zeugen und gegebenenfalls - sachverständige Unterstützung erfordernde - Feststellungen zur Wirkungsweise der nach den Behauptungen der Klägerinnen mit der vorbenutzten übereinstimmenden, im Verletzungsprozess angegriffenen Vorrichtung in vivo notwendig machen wird, im Berufungsverfahren erscheint nicht sachdienlich (§ 119 Abs. 5 Satz 1 PatG).
Meier-Beck Grabinski Bacher
Schuster Kober-Dehm
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 08.04.2014 - 4 Ni 34/12 (EP) -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 20. Dez. 2016 - X ZR 84/14

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(1) Hat der Anmelder zu einer internationalen Anmeldung, für die das Deutsche Patent- und Markenamt Bestimmungsamt ist, beantragt, daß eine internationale vorläufige Prüfung der Anmeldung nach Kapitel II des Patentzusammenarbeitsvertrags durchgeführt

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(1) Ergibt die Begründung des angefochtenen Urteils zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Berufung zurückzuweisen. (2) Insoweit die Berufung für begründet erachtet wir
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Tenor Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 3. Juli 2012 aufgehoben.

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(1) In dem Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit des Patents oder des ergänzenden Schutzzertifikats weist das Patentgericht die Parteien so früh wie möglich auf Gesichtspunkte hin, die für die Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein werden oder der Konzentration der Verhandlung auf die für die Entscheidung wesentlichen Fragen dienlich sind. Dieser Hinweis soll innerhalb von sechs Monaten nach Zustellung der Klage erfolgen. Ist eine Patentstreitsache anhängig, soll der Hinweis auch dem anderen Gericht von Amts wegen übermittelt werden. Das Patentgericht kann den Parteien zur Vorbereitung des Hinweises nach Satz 1 eine Frist für eine abschließende schriftliche Stellungnahme setzen. Setzt das Patentgericht keine Frist, darf der Hinweis nicht vor Ablauf der Frist nach § 82 Absatz 3 Satz 2 und 3 erfolgen. Stellungnahmen der Parteien, die nach Fristablauf eingehen, muss das Patentgericht für den Hinweis nicht berücksichtigen. Eines Hinweises nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die zu erörternden Gesichtspunkte nach dem Vorbringen der Parteien offensichtlich erscheinen. § 139 der Zivilprozessordnung ist ergänzend anzuwenden.

(2) Das Patentgericht kann den Parteien eine Frist setzen, binnen welcher sie zu dem Hinweis nach Absatz 1 durch sachdienliche Anträge oder Ergänzungen ihres Vorbringens und auch im Übrigen abschließend Stellung nehmen können. Die Frist kann verlängert werden, wenn die betroffene Partei hierfür erhebliche Gründe darlegt. Diese sind glaubhaft zu machen.

(3) Die Befugnisse nach den Absätzen 1 und 2 können auch von dem Vorsitzenden oder einem von ihm zu bestimmenden Mitglied des Senats wahrgenommen werden.

(4) Das Patentgericht kann Angriffs- und Verteidigungsmittel einer Partei oder eine Klageänderung oder eine Verteidigung des Beklagten mit einer geänderten Fassung des Patents, die erst nach Ablauf einer hierfür nach Absatz 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
die Berücksichtigung des neuen Vortrags eine Vertagung des bereits anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung erforderlich machen würde und
2.
die betroffene Partei die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
die betroffene Partei über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist glaubhaft zu machen.

(1) Hat der Anmelder zu einer internationalen Anmeldung, für die das Deutsche Patent- und Markenamt Bestimmungsamt ist, beantragt, daß eine internationale vorläufige Prüfung der Anmeldung nach Kapitel II des Patentzusammenarbeitsvertrags durchgeführt wird, und hat er die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat angegeben, in dem er die Ergebnisse der internationalen vorläufigen Prüfung verwenden will ("ausgewählter Staat"), so ist das Deutsche Patent- und Markenamt ausgewähltes Amt.

(2) Ist die Auswahl der Bundesrepublik Deutschland vor Ablauf des 19. Monats seit dem Prioritätsdatum erfolgt, so ist § 4 Absatz 2 und 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des Artikels 23 Absatz 2 des Patentzusammenarbeitsvertrages Artikel 40 Absatz 2 des Patentzusammenarbeitsvertrages tritt.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 3. Juli 2012 aufgehoben.

Das europäische Patent 1 088 569 wird mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt, soweit sein Gegenstand über folgende Fassung der Patentansprüche hinausgeht:

"1. Vorrichtung zum Ausüben eines Unterdrucks auf eine Oberflächenwunde in einem Säuger, die umfasst: ein poröses Polster (102) aus offenem, eine Verbindung schaffendem, zellförmigen Weichschaum, eine Pumpe (6), eine Saugleitung (101) zum Verbinden des porösen Polsters mit der Pumpe (6), einem Verbinder zum Verbinden des Polsters mit der Saugleitung, eine chirurgische Abdeckung (701) zum Bilden einer luftdichten Abdichtung über der Wundstelle, über dem Polster und über dem Verbinder, wobei der Verbinder einen Ausguss (602) zum Verbinden des von der Pumpe (6) ferngelegenen Endes der Saugleitung (101) mit der Wundstelle aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass der Verbinder eine scheibenartige Schale (601) umfasst, deren untere Fläche mit dem porösen Polster in Kontakt steht, und wobei die Saugleitung (101) als innere Bohrung (606) in einer Multilumenleitung ausgebildet ist, die ferner Kanäle (607) umfasst, mittels deren ein Aufnehmer (108) den Druck an der Wundstelle misst.

2. Vorrichtung nach Anspruch 1, wobei das poröse Polster (102) einen Polyvinylalkoholschaum umfasst.

3. Vorrichtung nach Anspruch 1 oder 2, wobei die chirurgische Abdeckung (701) ein Loch (702) für den Ausguss (602) aufweist, durch das dieser sich hindurch erstreckt.

4. Vorrichtung nach Anspruch 3, wobei die chirurgische Abdeckung (701) eine Kunststofffolie (701) umfasst, die mit einem druckempfindlichen Klebstoff zum Befestigen des porösen Polsters (102) und des Verbinders an der Wunde beschichtet ist."

Im Übrigen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Patentgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 088 569 (Streitpatents), das aus einer am 8. Januar 2001 eingereichten Teilanmeldung hervorgegangen ist. Diese geht zurück auf eine als WO 97/18007 veröffentlichte internationale Patentanmeldung vom 14. November 1996 (Stammanmeldung), die beim Europäischen Patentamt als europäische Anmeldung 865 304 geführt wird. Das Streitpatent betrifft eine tragbare Wundbehandlungseinrichtung und umfasst fünf Patentansprüche. Patentanspruch 1, auf den die weiteren Ansprüche unmittelbar oder mittelbar rückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:

"Apparatus for applying negative pressure to a superficial wound in a mammal which comprises a porous pad (102) of open, intercommunicating cellular flexible foam, a pump (6), a suction tube (101) for connecting the porous pad to the pump (6), a connector for connecting the pad to the suction tube, a surgical drape (701) for forming an air-tight seal over the wound site, over the pad and over the connector, said connector having a spout (602) for connecting the end of the suction tube (101) remote from the pump (6) to the wound site, characterized in that the connector comprises a disc-like cup (601) having its lower face in contact with said porous pad."

2

Die Klägerin zu 1 hat das Streitpatent in vollem Umfang, die Klägerin zu 2 im Umfang der Patentansprüche 1 bis 4 angegriffen. Die Klägerinnen haben geltend gemacht, der Gegenstand von Patentanspruch 1 sei nicht patentfähig und beruhe auf einer unzulässigen Erweiterung. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und mit zuletzt sechs Hilfsanträgen verteidigt. Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt.

3

Gegen das Urteil des Patentgerichts wendet sich die Berufung der Beklagten, die in erster Linie weiterhin die Abweisung der Klagen begehrt und hilfsweise das Streitpatent in beschränkten Anspruchsfassungen verteidigt. Die Klägerinnen treten dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe

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I. Das Streitpatent betrifft eine tragbare Vorrichtung zur Wundbehandlung.

5

1. Nach der Schilderung der Streitpatentschrift waren im Stand der Technik, etwa aus der internationalen Anmeldung WO 96/05873, Vorrichtungen zur Behandlung von Wunden bekannt, bei denen der Wundheilungsprozess durch Anlegen von Unterdruck gefördert werde. Eine solche Vorrichtung umfasse ein poröses, für Flüssigkeiten durchlässiges Polster, das in die Wunde eingeführt werden könne, einen Verband, mit dem die Wunde abgedeckt und luftdicht abgedichtet werde, eine Abflussleitung, die das Polster mit einer Saugpumpe verbinde, so dass Unterdruck an die Wunde angelegt und Flüssigkeiten aus dieser abgesaugt werden könne, und schließlich einen Behälter, in dem die abgesaugte Flüssigkeit gesammelt werde.

6

Wie eine solche, im Stand der Technik bekannte Vorrichtung aussieht, zeigt beispielsweise die Figur 10 der erwähnten internationalen Anmeldung,

Abbildung

bei der Bezugszeichen 210 die Wunde, Bezugszeichen 36 ein poröses, flüssigkeitsdurchlässiges Schaumstoffpolster (foam pad), Bezugszeichen 37 den Schlauch und Bezugszeichen 43 die luftdichte Wundabdeckung bezeichnet.

7

Das technische Problem, welches das Streitpatent lösen soll, besteht darin, eine Vorrichtung bereitzustellen, die eine solche Wundbehandlung mit Unterdruck bequemer macht und ihre Anwendung insbesondere auch bei mobilen, also nicht bettlägerigen Patienten erlaubt.

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2. Zur Lösung dieses Problems schlägt die Streitpatentschrift eine Vorrichtung mit folgenden Merkmalen vor (Gliederungspunkte des Patentgerichts in eckigen Klammern):

Vorrichtung zum Ausüben eines Unterdrucks auf eine Oberflächenwunde in einem Säuger [1], umfassend

1. ein poröses Polster (102) aus offenem, eine Verbindung schaffendem, zellförmigen Weichschaum (a porous pad of open, intercommunicating cellular flexible foam); [1.1]

2. eine Pumpe (6); [1.2]

3. eine Saugleitung (101) zum Verbinden des porösen Polsters mit der Pumpe; [1.3]

4. einen Verbinder zur Verbindung des Polsters mit der Saugleitung [1.4], der

a) einen Ausguss (spout) (602) zum Verbinden des von der Pumpe ferngelegenen Endes der Saugleitung (101) mit der Wundstelle aufweist, [1.6]

b) eine scheibenartige Schale (a disc-like cup) (601) umfasst, deren untere Fläche (lower face) mit dem porösen Polster in Kontakt steht; [1.7a und 1.7b]

5. eine chirurgische Abdeckung (701) zum Bilden einer luftdichten Abdichtung über der Wundstelle, über dem Polster und über dem Verbinder. [1.5]

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3. Einige Merkmale bedürfen der Erläuterung:

10

a) Der Verbinder weist nach Merkmal 4a einen Ausguss (spout) auf, der dazu dient, das von der Pumpe entfernte Ende der Saugleitung mit der Wundstelle zu verbinden, während im Stand der Technik, wie etwa aus der oben wiedergegebenen Figur 10 ersichtlich, das Ende des Schlauchs in das Weichschaumstoffpolster eingeführt wurde. Nach der Beschreibung kann entweder der Ausguss das Ende des Schlauchs aufnehmen oder aber das Schlauchende in den Ausguss eingesetzt und zusätzlich in den Schaum gedrückt werden (Sp. 5, Z. 37 bis 39 und Z. 45 bis 47). Die Anordnung und Größe des Ausgusses überlässt das Streitpatent dem Fachmann, bei dem es sich hier, wie das Patentgericht unbeanstandet angenommen hat, um einen Diplom-Ingenieur der Medizintechnik handelt, der mit der Entwicklung von Unterdruck-Vorrichtungen zur Behandlung von Wunden vertraut ist und für die medizinischen Aspekte der Wundheilung einen entsprechend kundigen Arzt konsultiert.

11

b) Der Verbinder umfasst nach Merkmal 4b eine scheibenartige Schale (disc-like cup). Es handelt sich demnach um eine Vorrichtung, die einerseits die Form einer Schale aufweist, also nicht völlig eben ist, sondern an ihrem Rand aus dieser Ebene heraus gebogen ist, andererseits aber scheibenartig, also flach ausgestaltet ist. Unter einer scheibenartigen Schale versteht das Streitpatent mithin eine Schale, deren Höhe deutlich geringer ist als ihr Durchmesser. Ein solches Verständnis des Merkmals wird auch dadurch nahegelegt, dass die Wundheilungsvorrichtung am Körper getragen können werden soll (vgl. Figuren 3A und 3B), weshalb es vorteilhaft ist, sie möglichst flach zu halten. Hierfür spricht weiter, dass die Figuren 6B und 6C Schalen zeigen, die praktisch flach sind und nur einen minimal aufgebogenen Rand aufweisen.

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Für diese Auslegung spricht ergänzend, dass das Streitpatent in den Absätzen 6 und 7 die internationale Anmeldung WO 94/20041 (VP4 = D1) als nächstliegenden Stand der Technik bezeichnet, deren Inhalt der Oberbegriff von Patentanspruch 1 wiedergebe. Der Umstand, dass Patentanspruch 1 das Merkmal 4b als einziges kennzeichnendes Merkmal ausweist, legt den Schluss nahe, dass die in D1 in den dortigen Figuren 2 bis 5 mit den Bezugszeichen 29a, 29b, 29c und 29d gekennzeichneten Vorrichtungen nicht als scheibenartig anzusehen sein sollen. Die Auffassung der Klägerin zu 1, Absätze 6 und 7 des Streitpatents seien bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen, weil sie in der Stammanmeldung nicht enthalten waren, trifft nicht zu. Bei der Ermittlung der mit einem Patentanspruch gegebenen Lehre sind Beschreibung und Zeichnungen heranzuziehen, die die technische Lehre des Patentanspruchs erläutern und veranschaulichen und daher nach ständiger Rechtsprechung nicht nur für die Bestimmung des Schutzbereichs (Art. 69 Abs. 1 EPÜ, § 14 PatG), sondern ebenso für die Auslegung des Patentanspruchs heranzuziehen sind. Dabei darf der Patentanspruch weder nach Maßgabe dessen ausgelegt werden, was sich nach Prüfung des Standes der Technik als patentfähig erweist, noch nach Maßgabe des Sinngehalts der Ursprungsunterlagen. Grundlage der Auslegung ist vielmehr allein die Patentschrift (BGH, Urteil vom 17. Februar 2012 - X ZR 117/11, BGHZ 194, 107 Rn. 27 f. - Polymerschaum).

13

Merkmal 4b besagt weiter, dass die Unterseite der scheibenartigen Schale mit dem porösen Polster in Kontakt steht, was dahin zu verstehen ist, dass die konkave Seite der Schale mit dem Polster in einem flächigen Kontakt steht. Nach der Beschreibung des Streitpatents wird die Schale auf die poröse Abdeckung der Wunde gedrückt und durch eine chirurgische Abdeckung gesichert (Sp. 5 Z. 43 bis 45). Berücksichtigt man einerseits, dass die Schale scheibenartig, also flach ausgebildet ist, und andererseits, dass das poröse Polster aus Weichschaumstoff besteht, also nachgiebig ist, ergibt sich hieraus für den Fachmann, dass die Schale zwar nicht notwendigerweise vollflächig, aber auch nicht nur punktuell oder mit ihrem Rand, also entlang einer Linie auf dem Polster aufsitzt, sondern im Wesentlichen flächig auf diesem aufliegt. Aus fachlicher Sicht besagt dies, dass der Innenraum der Schale jedenfalls im Wesentlichen mit dem aus Weichschaum bestehenden Polster ausgefüllt ist, so dass keine größeren Freiräume bestehen bleiben. Dieses Verständnis des Merkmals ergibt sich für den Fachmann auch daraus, dass eine solche Gestaltung zu dem gewünschten, für eine tragbare Vorrichtung vorteilhaften flachen Aufbau beiträgt.

14

Angaben über die Größe der Schale, insbesondere dazu, ob sie so dimensioniert sein muss, dass sie das gesamte Weichschaumstoffpolster abdeckt, sind Patentanspruch 1 nicht zu entnehmen.

15

c) Nach Merkmal 5 umfasst die Vorrichtung eine chirurgische Abdeckung zur Herstellung einer luftdichten Abdichtung über Wundstelle, Polster und Verbinder. Daraus ergibt sich, dass nicht nur das Polster, sondern auch der Verbinder unter der chirurgischen Abdeckung liegen muss.

16

II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

17

Das Streitpatent sei vollen Umfangs für nichtig zu erklären, weil sein Gegenstand in sämtlichen verteidigten Fassungen über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Das Merkmal M1.7b, wonach die untere Fläche der vom Verbinder umfassten scheibenartigen Schale mit dem porösen Polster in Kontakt stehe, sei der Gesamtheit der ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend zu entnehmen. In der Stammanmeldung sei nicht offenbart, dass der Verbinder der beanspruchten Vorrichtung eine scheibenartige Schale umfasse, deren untere Fläche mit dem porösen Polster in Kontakt stehe. Den Figuren 6A bis 6D der Stammanmeldung sei solches nicht zu entnehmen. Auch aus der Gesamtoffenbarung der Stammanmeldung ergebe sich nicht, dass die Schale so ausgestaltet sein müsse, dass ihre untere Fläche mit dem porösen Polster in Kontakt stehe, ebenso bleibe offen, mit welchem Anteil bzw. in welchem Umfang die Unterseite der Schale mit dem Polster in Kontakt stehe.

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Die Einfügung des Merkmals M1.7b könne nicht als bloße Einschränkung des Gegenstands des Anspruchs 1 verstanden werden, sondern führe zu einer anderen Lehre (Aliud). Während der Fachmann den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen die Lehre entnehme, dass die scheibenförmige Schale so ausgebildet sei, dass sie mit dem Rand, jedenfalls aber nicht mit der unteren Fläche auf das poröse Polster aufgesetzt werde, setze das eingefügte Merkmal genau dies voraus. Da sämtliche Hilfsanträge dieses Merkmal aufwiesen, seien sie unzulässig. Ob der weitere Nichtigkeitsgrund fehlender Patentfähigkeit vorliege, könne damit dahinstehen.

19

III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsrechtszug nicht in vollem Umfang stand.

20

1. Im Ergebnis zu Recht hat das Patentgericht angenommen, dass der Gegenstand der erteilten Fassung von Patentanspruch 1 über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.

21

a) Nach Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜbkG ist ein europäisches Patent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären, wenn sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Der danach maßgebliche Inhalt der Anmeldung ist anhand der Gesamtheit der ursprünglich eingereichten Unterlagen zu ermitteln. Er ist nicht auf den Gegenstand der in der Anmeldung formulierten Patentansprüche beschränkt. Entscheidend ist vielmehr, was der mit durchschnittlichen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestattete Fachmann des betreffenden Gebiets der Technik den ursprünglichen Unterlagen als zur Erfindung gehörend entnehmen kann (BGHZ 194, 107 Rn. 45 - Polymerschaum).

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b) Eine unzulässige Erweiterung ist hier darin zu sehen, dass die erfindungsgemäße Vorrichtung zum Ausüben eines Unterdrucks auf eine Oberflächenwunde nur durch ein poröses Polster, eine Pumpe, eine Saugleitung, einen Verbinder mit scheibenartiger Schale und Ausguss zur Verbindung des Polsters mit der Saugleitung sowie eine chirurgische Abdeckung gekennzeichnet ist. In dieser allgemeinen Form ist die Vorrichtung in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen - das ist hier die Stammanmeldung - nicht als erfindungsgemäß offenbart.

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aa) Die Beschreibung der Stammanmeldung geht wie diejenige des Streitpatents von der internationalen Patentanmeldung WO 96/05873 aus. Die dort beschriebene Vorrichtung sei wirksam zur Behandlung einer Vielzahl von Wunden unterschiedlicher Art und Größe. Jedoch könne die Behandlung eine längere Zeit in Anspruch nehmen, was nicht bei einem bettlägerigen, wohl aber bei einem nicht an das Bett gebundenen Patienten ein Problem darstelle. Als Aufgabe der Erfindung wird es bezeichnet, eine Vorrichtung bereitzustellen, die in der Anwendung komfortabler ist, insbesondere bei in gewissem Umfang mobilen Patienten, und weitere aus der Beschreibung ersichtliche Vorteile aufweist. Hierzu wird zunächst eine tragbare Vorrichtung zur Stimulierung der Wundheilung vorgeschlagen, die ein Gehäuse mit einer Saugpumpe und einem Behälter zur Aufnahme abgesaugter Wundflüssigkeit enthält und Mittel zur Verbindung mit Verbandmaterial in der Wundregion sowie einen Tragegurt oder Gürtel zum Abstützen des Gehäuses umfasst, wobei die zweckmäßige Ausgestaltung des Gehäuses, der Saugpumpe und ihres Antriebs sowie des Behälters näher beschrieben wird.

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Sodann wird erörtert, dass es bei einer tragbaren Vorrichtung schwieriger sei als bei der im Stand der Technik beschriebenen statischen, den an der zu behandelnden Wundstelle herrschenden Druck zu bestimmen, da er teilweise von der hydrostatischen Höhe zwischen Pumpe und Wunde abhänge und diese sich in Abhängigkeit von den Bewegungen des Patienten verändere. Dieses Problem soll durch eine zusätzliche Leitung gelöst werden, die die Wundstelle mit vorzugsweise in dem Gehäuse untergebrachten Druckerfassungsmitteln verbindet. Diese könnten wiederum mit einem Mikroprozessor verbunden sein, der für die Einhaltung eines vorbestimmten Druckbereichs sorge. Eine solche Einrichtung lasse sich auch bei einer nicht-tragbaren Vorrichtung verwenden. Sie erlaube es auch, über die veränderten Druckverhältnisse einen vollständig mit Wundflüssigkeit gefüllten Behälter zu detektieren.

25

Diesen allgemeinen Ausführungen folgt die Beschreibung der in den Zeichnungen dargestellten Ausführungsformen. Dabei wird unter Bezugnahme auf Figur 1 u.a. ein als Saugleitung dienender Schlauch 101 und ein zweiter Schlauch 106 beschrieben, der die Wundstelle zur Messung oder Überwachung des Drucks mit einem Druckentlastungsventil 8 und einem Messfühler 108 verbindet. Die Schläuche 101 und 106 könnten in einem mehrlumigen Schlauch (multi-lumen tube) kombiniert werden. Dies wird als bevorzugt und in den Figuren 5A bis 5F und in modifizierter Form in 6E dargestellt bezeichnet. Sodann kommt die Beschreibung auf die Figuren 6A bis 6D zu sprechen, die verschiedene Ansichten eines Verbinders zum Anschließen des mehrlumigen Schlauchs an die Wundstelle zeigten. Nur an dieser Stelle wird der Verbinder dahin beschrieben, dass er eine scheibenförmige Schale umfasst, die einen Ausguss aufweist, der so bemessen ist, dass er das Ende des mehrlumigen Schlauchs aufnehmen kann (S. 8).

26

In Übereinstimmung mit diesen Ausführungen der Beschreibung ist Anspruch 1 der Anmeldung auf eine tragbare Vorrichtung mit Gehäuse, Saugpumpe, Behälter und Tragegurt gerichtet, der nebengeordnete Anspruch 3 auf eine Behandlungsvorrichtung u.a. mit Druckerfassungsmitteln und der ebenfalls nebengeordnete Anspruch 5 auf eine Behandlungsvorrichtung u.a. mit einer Saugleitung und einer zusätzlichen Leitung, die ein poröses Polster mit eine Überwachung des Drucks an der Wundstelle ermöglichenden Druckerfassungsmitteln verbindet.

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Die in der Stammanmeldung offenbarten Ausführungsformen der Erfindung werden damit zum einen durch die eine Tragbarkeit erlaubenden Mittel (Anspruch 1), zum anderen durch Mittel gekennzeichnet, die eine Druckerfassung ermöglichen (Ansprüche 3 und 5). Nur im Kontext der Druckerfassung und der hierzu neben der Saugleitung erforderlichen zweiten Leitung findet der Verbinder Erwähnung. Die Saugleitung und die Druckerfassungsleitung können in einer unterteilten Schlauchleitung (multi-partitioned tube) zusammengefasst werden (Stammanmeldung S. 5 unten), und der Ausguss des Verbinders kann diesen mehrlumigen Schlauch aufnehmen.

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bb) Dem ist nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, dass als zum Patentschutz angemeldete Erfindung auch eine Vorrichtung zum Ausüben eines Unterdrucks auf eine Oberflächenwunde beschrieben wird, die weder Mittel aufweist, die ihre Tragbarkeit sicherstellen, noch Mittel, die es ermöglichen, den Druck an der Wundstelle zu erfassen, sondern lediglich aus einem porösen Polster, einer chirurgischen Abdeckung, einer Pumpe, einer Saugleitung und einem Polster und Saugleitung verbindenden Verbinder bestehen, der einen die Saugleitung aufnehmenden Ausguss und eine scheibenartige Schale umfasst.

29

Allerdings ist eine Fassung des Patentanspruchs, die gegenüber den ursprünglichen Anmeldeunterlagen eine Verallgemeinerung enthält, nicht unter allen Umständen ausgeschlossen. In Bezug auf die Frage, ob die Priorität einer Voranmeldung zu Recht in Anspruch genommen wird, hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass dies unter der Voraussetzung zulässig ist, dass sich die in der Voranmeldung anhand eines Ausführungsbeispiels oder in sonstiger Weise beschriebenen Anweisungen für den Fachmann als Ausgestaltung der in der Nachanmeldung umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellen und diese Lehre in der in der Nachanmeldung offenbarten Allgemeinheit bereits der Voranmeldung als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist (BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12, BGHZ 200, 63 Rn. 25 - Kommunikationskanal). Die gleichen Maßgaben gelten für die Frage danach, ob der erteilte Patentanspruch gegenüber den ursprünglichen Anmeldeunterlagen eine unzulässige Erweiterung aufweist.

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Nach dieser Maßgabe beruht Patentanspruch 1 auf einer unzulässigen Erweiterung. Der Fachmann vermag den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht ohne weiteres die allgemeine technische Lehre zu entnehmen, Polster und zur Pumpe führende Saugleitung einer Unterdruckvorrichtung durch eine Einrichtung zu verbinden, die einen Ausguss zur Aufnahme der Saugleitung und eine scheibenartige Schale zur Aufnahme des Polsters umfasst.

31

Der Verbinder ist in der Stammanmeldung vielmehr nur als Element einer Vorrichtung offenbart, in der er den konkret beschriebenen Zweck erfüllt, die Anbindung eines mehrlumigen Schlauchs an die Wundstelle zu gewährleisten. Er steht mithin in untrennbarem Zusammenhang mit einer Wundbehandlungsvorrichtung, die auch ein Druckerfassungsmittel aufweist, wobei die hierfür erforderliche weitere Leitung mit der ohnehin erforderlichen Saugleitung vorzugsweise in einem mehrlumigen Schlauch zusammengefasst ist, der von dem Ausguss des Verbinders aufgenommen wird. Weder Beschreibung noch Ansprüche der Stammanmeldung bieten einen Anhalt für die Annahme, der Fachmann entnehme ihr, dass ihm mit der Ausgestaltung des Verbinders als mit einem Ausguss oder einer Tülle versehener flacher Schale eine Ausführungsform der Vorrichtung zum Ausüben eines Unterdrucks vorgestellt wird, für die unabhängig von den Ausführungsformen, die sich mit der tragbaren Ausgestaltung oder den Mitteln zur Druckerfassung beschäftigen, Patentschutz angestrebt wird und die mithin - für sich betrachtet - als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart wird.

32

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Stammanmeldung kurz vor der oben genannten Passage der Beschreibung des Ausführungsbeispiels auch eine Leitung erwähnt, die nur eine Bohrung aufweist (single bore tube, S. 7 unten). Der betreffenden Passage ist lediglich zu entnehmen, dass die ansonsten vorgesehene geteilte Leitung (partitioned tube) nicht bis zur Wundstelle reichen muss, sondern an ihrem Ende ein kurzes Stück einer einlumigen Leitung aufweisen kann. Dem entspricht es, dass - etwas später (S. 8 Mitte) - ausgeführt wird, dass, sofern dies gewünscht wird, das Ende der Leitung auch durch den Ausguss führen und bis in den Weichschaum reichen kann. Dies ändert nichts daran, dass an den genannten Stellen im Grundsatz weiterhin ein mehrlumiger Schlauch gemeint ist, und vermag den sich aus dem Gesamtinhalt der Beschreibung ergebenden Zusammenhang der Offenbarung der Ausgestaltung des Verbinders mit einer Vorrichtung zum Ausüben und Überwachen eines Unterdrucks nicht in Frage zu stellen.

33

c) Danach hat das Patentgericht im Ergebnis zutreffend angenommen, dass Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung auf einer unzulässigen Erweiterung beruht und daher keinen Bestand haben kann. Eine andere Beurteilung ist auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass das Streitpatent aus einer Teilanmeldung hervorgegangen ist. Die Anforderungen an die Ursprungsoffenbarung sind in einem solchen Fall nicht geringer.

34

2. Dagegen hält das angefochtene Urteil der Nachprüfung nicht stand, soweit das Patentgericht angenommen hat, der ehemalige Hilfsantrag 6 neu, den die Beklagte nunmehr als Hilfsantrag I stellt, beruhe auf einer unzulässigen Erweiterung.

35

Nach Hilfsantrag I wird Patentanspruch 1 um ein weiteres Merkmal ergänzt, wonach die Saugleitung (101) als innere Bohrung (606) in einer Multilumenleitung ausgebildet ist, die ferner Kanäle (607) umfasst, mittels deren ein Aufnehmer (108) den Druck an der Wundstelle misst (Merkmal 6).

36

Die beschränkte Verteidigung der Beklagten mit diesem Hilfsantrag ist - entgegen der Auffassung des Patentgerichts - zulässig.

37

a) Das zusätzliche Merkmal 6 gewährleistet, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 nicht aus den dargelegten Gründen über den Inhalt der Stammanmeldung hinausgeht. Die Verallgemeinerung, die nach den Ausführungen oben (unter III 1) eine unzulässige Erweiterung begründete, ist dadurch rückgängig gemacht worden, dass der Aufnehmer 108 als Druckerfassungsmittel und die durch die Kanäle 607 einer Multilumenleitung ausgebildete zweite Leitung zur Verbindung zwischen Polster und Pumpe in den Patentanspruch aufgenommen worden sind und die Ausgestaltung des Verbinders in diesen Kontext gestellt worden ist, weil die vom Ausguss aufgenommene Saugleitung die innere Bohrung 606 der Multilumenleitung bildet.

38

b) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 beruht zwar insoweit auf einer unzulässigen Erweiterung, als in Merkmal 4b über die scheibenartige Schale ausgesagt ist, dass sie mit ihrer unteren Fläche mit dem porösen Polster in Kontakt steht. Dies führt jedoch nicht zur Unzulässigkeit der beschränkten Verteidigung des Streitpatents nach Hilfsantrag I.

39

aa) Nach Merkmal 4b steht die scheibenartige Schale mit ihrer unteren Fläche mit dem porösen Polster in Kontakt. Wie oben ausgeführt, versteht der Fachmann dieses Merkmal dahin, dass die konkave Seite der Schale mit dem Polster in einem flächigen Kontakt steht.

40

Ein solcher flächiger Kontakt zwischen der konkaven Seite der Schale und dem Polster ist in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbart. Die Stammanmeldung zeigt in den Figuren 6B und 6C sehr flache Schalen. Ferner kann ihr, insbesondere durch den Verweis auf die internationale Anmeldung WO 96/05873, aus der die oben wiedergegebene Figur 10 stammt, entnommen werden, wie ein Polster, mit dem die Wunde abgedeckt wird, gestaltet sein kann. Aus der Stammanmeldung ist jedoch nicht ersichtlich, wie die scheibenartige Schale auf das Polster aufgesetzt wird. Es wird dort lediglich erläutert, die Schale werde auf die poröse Wundabdeckung gedrückt und durch eine chirurgische Abdeckung gesichert (the cup (601) is pressed onto the porous dressing and secured by a surgical drape, Stammanmeldung S. 8). Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um ein Polster aus Weichschaumstoff handelt, ergibt sich aus diesen Angaben für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig, dass die scheibenartige Schale mit ihrer unteren Fläche mit dem porösen Polster in flächigem Kontakt steht. Denn ob bei Befolgen dieser Anweisung ein flächiger Kontakt entsteht, hängt aus fachlicher Sicht von mehreren Umständen ab, insbesondere von der Höhe der Schale, vom Verhältnis der Größen von Schale einerseits und Polster andererseits, von der Festigkeit oder Nachgiebigkeit des Polsters und vom Maß des Drucks, mit dem die Schale auf das Polster gepresst wird. Zu allen diesen Umständen enthält die Stammanmeldung keine näheren Angaben.

41

bb) Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Verteidigung der Beklagten mit Hilfsantrag I unzulässig ist.

42

(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu deutschen Patenten und Gebrauchsmustern müssen solche Schutzrechte, wenn ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, nicht für nichtig erklärt oder gelöscht werden, sofern die Änderung in der Einfügung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbarten Merkmals besteht, die zu einer bloßen Einschränkung des angemeldeten Gegenstands führt. Dagegen ist die Nichtigerklärung oder Löschung nicht zu vermeiden, wenn die Änderung dazu führt, dass der Gegenstand der Anmeldung gegenüber dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen zu einem Aliud abgewandelt wird (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2000 - X ZR 184/98, GRUR 2001, 140 - Zeittelegramm; Beschluss vom 21. Oktober 2010 - Xa ZB 14/09, GRUR 2011, 40 - Winkelmesseinrichtung; Urteil vom 21. Juni 2011 - X ZR 43/09, GRUR 2011, 1003 - Integrationselement; Beschluss vom 6. August 2013 - X ZB 2/12, GRUR 2013, 1135 - Tintenstrahl-drucker). Die Frage, ob diese Rechtsprechung auch auf europäische Patente Anwendung findet, hat der Bundesgerichtshof bislang offen gelassen (BGH, GRUR 2011, 40 Rn. 19 - Winkelmesseinrichtung). Sie ist - entgegen der Auffassung des Bundespatentgerichts (Urteil vom 8. April 2014, Mitt. 2014, 436 - Fettabsaugevorrichtung) - zu bejahen.

43

(2) Der angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt die Überlegung zugrunde, dass die unzulässige Änderung des Gegenstands des Patents gegenüber dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen dessen Widerruf oder Nichtigerklärung nicht erfordert, wenn den berechtigten Interessen Dritter, insbesondere der Wettbewerber des Patentinhabers, und der Öffentlichkeit durch weniger schwerwiegende Maßnahmen Rechnung getragen werden kann.

44

Danach ist der Widerruf oder die Nichtigerklärung des Patents nicht geboten, wenn der Gegenstand des Patents gegenüber dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen in unzulässiger Weise verallgemeinert worden ist. In diesem Fall kann die unzulässige Erweiterung dadurch behoben werden, dass die unzulässige Verallgemeinerung aus dem Patentanspruch gestrichen wird (BGH, GRUR 2011, 40 Rn. 14 - Winkelmesseinrichtung; BGH, GRUR 2011, 1003 Rn. 19 - Integrationselement; ebenso EPA, Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 2. Februar 1994 - G 1/93, GRUR Int. 1994, 842 Rn. 11 - beschränkendes Merkmal/Advanced Semiconductor Pro-ducts).

45

Der Widerruf oder die Nichtigerklärung des Patents ist andererseits unumgänglich, wenn die Hinzufügung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbarten Merkmals dazu führt, dass der Patentanspruch des erteilten Patents eine andere Erfindung zum Gegenstand hat als die ursprüngliche Anmeldung, wenn das Patent also etwas schützt, das gegenüber dem der Fachwelt durch die ursprünglichen Unterlagen Offenbarten ein "Aliud" darstellt (BGH, GRUR 2001, 140, 141 - Zeittelegramm; BGH, GRUR 2011, 40 Rn. 21 - Winkelmesseinrichtung; BGH, GRUR 2011, 1003 Rn. 27 - Integrationselement; BGH, GRUR 2013, 1135 Rn. 16 - Tintenstrahldrucker). Die Aufrechterhaltung eines solchermaßen geänderten Anspruchs gefährdete die Rechtssicherheit für Dritte, die darauf vertrauen dürfen, dass aus der Patentanmeldung kein Patent hervorgeht, das einen weiteren oder anderen Gegenstand hat als denjenigen, der in der Anmeldung offenbart worden ist. Die Aufrechterhaltung eines mit dem Einspruch oder der Nichtigkeitsklage angegriffenen Patents mit der Maßgabe, dass das in Rede stehende Merkmal im Patentanspruch verbleibt, der Patentinhaber daraus aber keine Rechte herleiten kann, scheidet in einem solchen Fall aus, weil sie dazu führen würde, dass das Patent in der Fassung nach dem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren einen anderen Gegenstand hätte als ursprungsoffenbart (BGH, GRUR 2011, 40 Rn. 23 - Winkelmesseinrichtung).

46

Der Widerruf oder die Nichtigerklärung eines Patents ist dagegen nicht erforderlich, wenn die Einfügung eines Merkmals, das in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbart ist, zu einer bloßen Einschränkung des angemeldeten Gegenstands führt. In einem solchen Fall wird den berechtigten Interessen der Öffentlichkeit dadurch Rechnung getragen, dass das einschränkende Merkmal im Patentanspruch verbleibt und zugleich dafür gesorgt wird, dass im Übrigen aus der Änderung Rechte nicht hergeleitet werden können, insbesondere das nicht offenbarte Merkmal bei der Prüfung der Patentfähigkeit insoweit außer Betracht zu lassen ist, als es nicht zur Stützung der Patentfähigkeit herangezogen werden darf (BGH, GRUR 2001, 140, 142 f. - Zeittelegramm; BGH, GRUR 2011, 40 Rn. 16 - Winkelmesseinrichtung; BGH, GRUR 2011, 1003 Rn. 24 - Integrationselement; BGH, GRUR 2013, 1135 Rn. 16 - Tintenstrahldrucker).

47

(3) Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht nicht in Widerspruch zu den Regelungen des Europäischen Patentübereinkommens.

48

Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts führt die Aufnahme eines einschränkenden, in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbarten Merkmals in den Patentanspruch regelmäßig zum Widerruf des Patents nach Art. 123 Abs. 2, 100 Buchstabe c EPÜ. Falle ein solches Merkmal unter Art. 123 Abs. 2 EPÜ, könne es weder im Patent beibehalten noch ohne Verstoß gegen Art. 123 Abs. 3 EPÜ aus den Ansprüchen gestrichen werden. Das Patent könne nur dann - ausnahmsweise - aufrechterhalten werden, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage dafür biete, dass die einschränkenden Merkmale ohne Verstoß gegen Art. 123 Abs. 3 EPÜ durch andere ersetzt werden könnten (Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 2. Februar  1994 - G 1/93, GRUR Int. 1994, 842 Rn. 12 f. - beschränkendes Merkmal/Advanced Semiconductor Products).

49

Bundespatentgericht und Bundesgerichtshof wenden bei der Entscheidung über die Nichtigerklärung eines europäischen Patents, das mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilt worden ist, nicht Art. 123 Abs. 2 und 3 EPÜ an, sondern entscheiden auf der Grundlage von Art. II § 6 IntPatÜbkG. Mit der Schaffung dieser Norm hat der nationale Gesetzgeber von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Gründe für die Nichtigerklärung eines europäischen Patents für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe von Art. 138 EPÜ aufzuführen. Nach Art. 138 EPÜ kann ein europäisches Patent - vorbehaltlich des Art. 139 EPÜ - nur aus den dort abschließend aufgeführten Gründen für nichtig erklärt werden. Die Norm steht damit zwar einer Entscheidung des nationalen Gerichts entgegen, durch die ein europäisches Patent auch dann für nichtig erklärt wird, wenn keiner der in Art. 138 EPÜ aufgeführten Gründe vorliegt. Sie eröffnet aber die Möglichkeit, dass das nationale Gericht auch bei Vorliegen eines solchen Grundes von der Nichtigerklärung des Patents absieht, ohne sich damit in Widerspruch zu Art. 123 EPÜ zu setzen, wie er von der Großen Beschwerdekammer verstanden wird.

50

(4) Ein solches Absehen von der Nichtigerklärung ist auch bei einem europäischen Patent angezeigt, wenn die Einfügung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht oder nicht als zur Erfindung gehörend offenbarten Merkmals zu einer bloßen Einschränkung des angemeldeten Gegenstands führt.

51

Die Große Beschwerdekammer hat eingeräumt, dass die von ihr vertretene Auffassung zu harten Folgen für den Patentinhaber führt (EPA, GRUR Int. 1994, 842 Rn. 13 - beschränkendes Merkmal/Advanced Semiconductor Products), weil er Gefahr läuft, nach einer Änderung seiner Anmeldung selbst dann in einer "unentrinnbaren Falle" zu sitzen und alles zu verlieren, wenn die Änderung den Schutzbereich des Patents einschränkt. Die oben wiedergegebene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ermöglicht es demgegenüber, auf eine vollständige Nichtigerklärung des Patents zu verzichten, ohne dass Abstriche an der Wahrung der berechtigten Interessen Dritter und der Öffentlichkeit gemacht werden müssen. Sie trägt damit zugleich dem verfassungsrechtlichen Schutz des Eigentums (Art. 14 GG) Rechnung, der auch das Recht am Patent umfasst und den Patentinhaber vor hoheitlichen Eingriffen schützt, soweit diese nicht erforderlich sind. Das rechtfertigt es, diese Rechtsprechung auch auf europäische Patente anzuwenden.

52

(5) Soweit Patentanspruch 1 das Merkmal enthält, dass die untere Fläche der scheibenartigen Schale mit dem porösen Polster in Kontakt steht, liegt darin eine bloße Konkretisierung einer Anweisung zum technischen Handeln, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart ist.

53

(a) Ob es sich bei der Einfügung eines in den ursprünglichen Unterlagen nicht offenbarten Merkmals um eine bloße Einschränkung des angemeldeten Gegenstands handelt oder um ein Aliud, bestimmt sich danach, ob damit lediglich eine Anweisung zum technischen Handeln konkretisiert wird, die in diesen Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart ist, oder ob damit ein technischer Aspekt angesprochen wird, der daraus weder in seiner konkreten Ausgestaltung noch auch nur in abstrakter Form als zur Erfindung gehörend zu entnehmen ist (BGH, GRUR 2011, 40 Rn. 22 - Winkelmesseinrichtung; BGH, GRUR 2011, 1003 Rn. 29 - Integrationselement; BGH, GRUR 2013, 1135 Rn. 26 f. - Tintenstrahldrucker).

54

(b) Danach ist Merkmal 4b - entgegen der Auffassung des Patentgerichts - nicht als Aliud einzuordnen. Soweit dieses Merkmal vorsieht, dass die scheibenartige Schale mit ihrer unteren Fläche mit dem porösen Polster in Kontakt steht, wird damit kein neuer technischer Aspekt eingeführt. Vielmehr handelt es sich um eine bloße Beschränkung im vorstehend ausgeführten Sinn, durch die dem Fachmann vermittelt wird, die scheibenartige Schale so flach auszugestalten, dass ein im Wesentlichen flächiger Kontakt zwischen ihrer unteren Fläche und dem porösen Polster hergestellt wird, wenn die Scheibe auf das Polster gedrückt und mittels der chirurgischen Abdeckung gesichert wird.

55

(6) Der Zulässigkeit der beschränkten Verteidigung steht auch nicht entgegen, dass es nicht zulässig ist, den Patentanspruch durch ein nicht-ursprungsoffenbartes Merkmal zu beschränken. Denn Merkmal 4b ist bereits im erteilten Patentanspruch 1 enthalten. Dass es Bestandteil des im Übrigen unbedenklichen Hilfsantrags I ist, kann daher dessen Zulässigkeit nicht in Frage stellen.

56

3. Die Beurteilung des Patentgerichts, wonach Patentanspruch 1 nicht zulässigerweise in der Fassung des Hilfsantrags I (früherer Hilfsantrag 6 neu) verteidigt werden kann, hält mithin der Prüfung im Berufungsverfahren nicht stand.

57

Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Patentgericht (§ 119 Abs. 2, 3 PatG). Eine eigene Entscheidung des Senats in der Sache ist nicht angezeigt (§ 119 Abs. 5 Satz 1 PatG). Das Patentgericht hat die Patentfähigkeit des Gegenstands von Patentanspruch 1 in der Fassung dieses Hilfsantrags bislang nicht geprüft. Bei dieser nunmehr erforderlichen Prüfung wird das Patentgericht das nicht-ursprungsoffenbarte Merkmal außer Betracht zu lassen haben.

Meier-Beck                           Hoffmann                       Deichfuß

                   Kober-Dehm                        Feddersen

(1) Ergibt die Begründung des angefochtenen Urteils zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Berufung zurückzuweisen.

(2) Insoweit die Berufung für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Wird das Urteil wegen eines Mangels des Verfahrens aufgehoben, so ist zugleich das Verfahren insoweit aufzuheben, als es durch den Mangel betroffen wird.

(3) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Patentgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Nichtigkeitssenat erfolgen.

(4) Das Patentgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(5) Der Bundesgerichtshof kann in der Sache selbst entscheiden, wenn dies sachdienlich ist. Er hat selbst zu entscheiden, wenn die Sache zur Endentscheidung reif ist.

(1) Hat der Anmelder zu einer internationalen Anmeldung, für die das Deutsche Patent- und Markenamt Bestimmungsamt ist, beantragt, daß eine internationale vorläufige Prüfung der Anmeldung nach Kapitel II des Patentzusammenarbeitsvertrags durchgeführt wird, und hat er die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat angegeben, in dem er die Ergebnisse der internationalen vorläufigen Prüfung verwenden will ("ausgewählter Staat"), so ist das Deutsche Patent- und Markenamt ausgewähltes Amt.

(2) Ist die Auswahl der Bundesrepublik Deutschland vor Ablauf des 19. Monats seit dem Prioritätsdatum erfolgt, so ist § 4 Absatz 2 und 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des Artikels 23 Absatz 2 des Patentzusammenarbeitsvertrages Artikel 40 Absatz 2 des Patentzusammenarbeitsvertrages tritt.

(1) Ergibt die Begründung des angefochtenen Urteils zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Berufung zurückzuweisen.

(2) Insoweit die Berufung für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Wird das Urteil wegen eines Mangels des Verfahrens aufgehoben, so ist zugleich das Verfahren insoweit aufzuheben, als es durch den Mangel betroffen wird.

(3) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Patentgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Nichtigkeitssenat erfolgen.

(4) Das Patentgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(5) Der Bundesgerichtshof kann in der Sache selbst entscheiden, wenn dies sachdienlich ist. Er hat selbst zu entscheiden, wenn die Sache zur Endentscheidung reif ist.

(1) In dem Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit des Patents oder des ergänzenden Schutzzertifikats weist das Patentgericht die Parteien so früh wie möglich auf Gesichtspunkte hin, die für die Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein werden oder der Konzentration der Verhandlung auf die für die Entscheidung wesentlichen Fragen dienlich sind. Dieser Hinweis soll innerhalb von sechs Monaten nach Zustellung der Klage erfolgen. Ist eine Patentstreitsache anhängig, soll der Hinweis auch dem anderen Gericht von Amts wegen übermittelt werden. Das Patentgericht kann den Parteien zur Vorbereitung des Hinweises nach Satz 1 eine Frist für eine abschließende schriftliche Stellungnahme setzen. Setzt das Patentgericht keine Frist, darf der Hinweis nicht vor Ablauf der Frist nach § 82 Absatz 3 Satz 2 und 3 erfolgen. Stellungnahmen der Parteien, die nach Fristablauf eingehen, muss das Patentgericht für den Hinweis nicht berücksichtigen. Eines Hinweises nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die zu erörternden Gesichtspunkte nach dem Vorbringen der Parteien offensichtlich erscheinen. § 139 der Zivilprozessordnung ist ergänzend anzuwenden.

(2) Das Patentgericht kann den Parteien eine Frist setzen, binnen welcher sie zu dem Hinweis nach Absatz 1 durch sachdienliche Anträge oder Ergänzungen ihres Vorbringens und auch im Übrigen abschließend Stellung nehmen können. Die Frist kann verlängert werden, wenn die betroffene Partei hierfür erhebliche Gründe darlegt. Diese sind glaubhaft zu machen.

(3) Die Befugnisse nach den Absätzen 1 und 2 können auch von dem Vorsitzenden oder einem von ihm zu bestimmenden Mitglied des Senats wahrgenommen werden.

(4) Das Patentgericht kann Angriffs- und Verteidigungsmittel einer Partei oder eine Klageänderung oder eine Verteidigung des Beklagten mit einer geänderten Fassung des Patents, die erst nach Ablauf einer hierfür nach Absatz 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
die Berücksichtigung des neuen Vortrags eine Vertagung des bereits anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung erforderlich machen würde und
2.
die betroffene Partei die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
die betroffene Partei über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist glaubhaft zu machen.

39
Ein Grundgedanke des reformierten Patentnichtigkeitsverfahrens ist es, dass die Patentfähigkeit zunächst durch das auch mit technisch sachkundigen Richtern besetzte Patentgericht bewertet wird und diese Bewertung durch den Bundesgerichtshof überprüft wird. Eine Endentscheidung durch den Bundesgerichtshof (§ 119 Abs. 5 PatG) ist daher regelmäßig nicht sachgerecht, wenn die Erstbewertung des Standes der Technik durch das Patentgericht unterblieben ist (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2012 - X ZR 117/11, BGHZ 194, 107 Rn. 60-62 - Polymerschaum I). Dafür, dass im Streitfall etwas anderes gälte, ist nichts erkennbar und wird auch von den Parteien nichts geltend gemacht.

(1) Ergibt die Begründung des angefochtenen Urteils zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Berufung zurückzuweisen.

(2) Insoweit die Berufung für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Wird das Urteil wegen eines Mangels des Verfahrens aufgehoben, so ist zugleich das Verfahren insoweit aufzuheben, als es durch den Mangel betroffen wird.

(3) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Patentgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Nichtigkeitssenat erfolgen.

(4) Das Patentgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(5) Der Bundesgerichtshof kann in der Sache selbst entscheiden, wenn dies sachdienlich ist. Er hat selbst zu entscheiden, wenn die Sache zur Endentscheidung reif ist.