Bundesgerichtshof Urteil, 19. Juni 2008 - 4 StR 105/08
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagte und - zu ihren Ungunsten - die Staatsanwaltschaft mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen; die Angeklagte erhebt darüber hinaus die nicht ausgeführte Verfahrensrüge. Während die Angeklagte mit ihrem Rechtsmittel insbesondere die Nichtannahme erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit beanstandet und eine niedrigere Strafe erstrebt, möchte die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes erreichen. Das Rechtsmittel der Angeklag- ten hat zum Strafausspruch Erfolg; dagegen bleibt der - vom Generalbundesanwalt vertretenen - Revision der Staatsanwaltschaft der Erfolg versagt.
I.
- 2
- Das Landgericht hat festgestellt:
- 3
- Die zur Tatzeit 27-jährige Angeklagte war von 2001 bis 2005 mit Enrico W. fest liiert. Aus dieser Beziehung stammt eine Tochter. Zwei weitere Schwangerschaften während ihrer Beziehung zu Enrico W. brach sie ab. Seit dem Sommer 2005 unterhielt sie eine Beziehung zu dem verheirateten Tino H. Als sie erstmals vom ihm schwanger wurde, ließ sie auch diese Schwangerschaft abbrechen. Die Beziehung zu Tino H. endete im Juli 2006. Im Dezember 2006 stellte die Angeklagte fest, dass sie von Tino H. erneut schwanger geworden war. Inzwischen hatte sie aber bereits die Verbindung zu Enrico W. wieder aufgenommen, der zwar zwischenzeitlich geheiratet hatte, aber von seiner Ehefrau getrennt lebte und bei dem es sich um den Mann handelte, den sie "immer wollte".
- 4
- Die Angeklagte verbarg ihre erneute Schwangerschaft erfolgreich vor anderen und traf auch keinerlei Vorbereitungen für die bevorstehende Geburt. Auch ihrer Mutter, die ihre wichtigste Bezugsperson ist, erzählte sie nichts, weil sie Vorwürfe bezüglich ihrer Lebensführung fürchtete. Ebenso setzte sie auch Tino H. von ihrer Schwangerschaft nicht in Kenntnis, da ihr aufgrund seines früheren Verhaltens klar war, dass er das Kind nicht würde haben wollen.
- 5
- Am Tattag, dem 28. Februar 2007, spürte die Angeklagte morgens Bauchschmerzen, dachte aber noch nicht an eine bevorstehende Geburt, mit der sie erst im April rechnete. Im Laufe des Vormittags fühlte sie jedoch, dass es sich bei den Bauchschmerzen um Geburtswehen handelte. Wenig später brachte sie im Bad problemfrei ein gesundes Mädchen zur Welt. Sie durchtrennte die Nabelschnur und säuberte das Kind. Dann reinigte sie das Bad. Während sie damit beschäftigt war und anschließend überlegte sie über einen Zeitraum von drei bis vier Stunden nach der Geburt unentschieden hin und her, ob sie das Kind umbringen oder behalten solle. Das Aufsuchen eines Krankenhauses oder die Abgabe des Kindes in eine so genannte Babyklappe zog sie nicht in Betracht, weil sie glaubte, dass hierbei sie als Mutter des Kindes und Tino H. als dessen Erzeuger bekannt würden. Das wollte sie aber wegen der befürchteten Vorwürfe ihrer Mutter, der Ablehnung von Tino H. sowie ihres eigenen Interesses an der wieder aufgenommenen Beziehung zu Enrico W. vermeiden. Sie verspürte Angst, Ratlosigkeit und Verzweiflung und war von der Geburt auch körperlich erschöpft. Als nunmehr das Kind zu schreien begann, nahm sie es auf den Arm und entschied sich dann, es zu töten. Sie drückte es mit Mund und Nase so gegen ihren Oberkörper, dass das Kind nicht mehr atmen konnte, legte es sodann auf dem Boden ab und überzeugte sich davon, dass es kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Anschließend steckte sie die Kindesleiche in einen Plastiksack, den sie zunächst in einem Schrank im Bad versteckte. In der folgenden Nacht brachte sie den Sack mit der Kinderleiche zu einem nahe gelegenen See.
II.
- 6
- Das Landgericht hat die geständige Angeklagte des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) für schuldig befunden. Mit dem gehörten psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. M. hat es eine Aufhebung (§ 20 StGB) oder auch nur erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB ver- neint. Zwar weise die Angeklagte eine selbstunsichere Persönlichkeit mit schizoiden und emotional instabilen Elementen auf. Gerade der mehrstündige Prozess des Hin- und Herüberlegens zeige aber, dass sie den Tatanreizen in ganz beträchtlichem Maße Widerstand entgegenzusetzen vermocht habe. Eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes hat das Schwurgericht abgelehnt, weil das allein in Betracht zu ziehende mordqualifizierende Merkmal der Tötung aus niedrigen Beweggründen nicht vorliege. Gegen eine solche Wertung sprächen die Angst der Angeklagten vor Vorwürfen ihrer Mutter, die sie dabei bewegenden Gefühle der Angst, Ratlosigkeit und Verzweiflung und auch ihre mögliche Sorge um den Bestand der Ehe des Erzeugers. Zudem spreche das mehrstündige Hin- und Herüberlegen vor der endgültigen Entscheidung zur Tötung gegen eine besondere Geringschätzung des fremden Lebens.
III.
- 7
- Revision der Staatsanwaltschaft
- 8
- Die Staatsanwaltschaft dringt mit ihrer Beanstandung, die Schwurgerichtskammer habe zu Unrecht das mordqualifizierende Merkmal der Tötung aus niedrigen Beweggründen verneint, nicht durch.
- 9
- Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe zur Tat "niedrig" sind und - in deutlich weiter reichendem Maße als ein Totschlag - verachtenswert erscheinen , hat aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters, und seiner Persönlichkeit zu erfolgen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 47, 128, 130; BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 47; jew. m.w.N.). Die Ablehnung niedriger Beweggründe im angefochtenen Urteil ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat alle wesentlichen für die Beurteilung maßgebenden Umstände in seine Abwägung mit einbezogen. Mit ihren Einwänden unternimmt die Beschwerdeführerin lediglich den Versuch, die in erster Linie dem Tatrichter vorbehaltene Wertung durch eine eigene Würdigung zu ersetzen. Damit kann sie angesichts des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes nicht gehört werden. Dass die Angeklagte bei ihren stundenlangen Überlegungen , ob sie das Kind leben lassen oder es töten solle, auch ihre Beziehung zu ihrer Mutter und zu Enrico W. und die Haltung des Kindesvaters Tino H. im Blick hatte, hat das Landgericht nicht verkannt. Die Verfolgung eigener Interessen und ein Missverhältnis zwischen Anlass und Tat sind der Regelfall der vorsätzlichen rechtswidrigen Tötung eines anderen. Dass die Tat der Angeklagten demgegenüber von besonders krasser Selbstsucht geprägt war, die allein die Qualifizierung der Tat als mit lebenslanger Freiheitsstrafe statt als mit zeitiger Freiheitsstrafe bedrohter Totschlag rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Jedenfalls liegt ein die Revision begründender Rechtsfehler nicht darin, dass das Landgericht der von Angst, Ratlosigkeit, Verzweiflung geprägten psychischen Verfassung der Angeklagten, zu der die körperliche Erschöpfung nach der Geburt hinzukam, ein solches Gewicht beigemessen hat, dass deswegen die Mordqualifikation zu verneinen war.
IV.
- 10
- Revision der Angeklagten
- 11
- Dagegen führt die Revision der Angeklagten auf die Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs.
- 12
- 1. Ohne Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin, dass das Landgericht eine erhebliche Verminderung ihrer Steuerungsfähigkeit im Tatzeitpunkt im Sinne von § 21 StGB verneint hat. Bei Kindstötungen wird selbst unter den engeren Voraussetzungen des früheren § 217 StGB (zu den Gründen der Aufhebung dieser Vorschrift durch das 6. StrRG vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 34 zu Nr. 26 und S. 81/82 zu Nr. 15) eine erhebliche Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit kaum in Betracht kommen, wenn bei der Täterin außer der Belastung durch die Geburt keine unabhängig hiervon bestehenden rechtlich relevanten körperlichen und geistig-seelischen Beeinträchtigungen vorliegen (vgl. BGH, Urt. vom 5. Juni 2003 - 3 StR 55/03). Dies gilt erst recht, wenn die Tat wie hier – anders als im früheren § 217 StGB vorausgesetzt – nicht „in oder gleich nach der Geburt“ erfolgt. Danach hat das Landgericht ungeachtet der Persönlichkeitsauffälligkeiten der Angeklagten zu Recht - darin den gehörten psychiatrischen Sachverständigen folgend - das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint.
- 13
- 2. Gleichwohl hat der Strafausspruch keinen Bestand.
- 14
- Ohne Rechtsfehler hat das Schwurgericht allerdings das Vorliegen eines minder schweren Falls des Totschlags gemäß § 213 StGB verneint und die Strafe dem Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB entnommen. Der Strafausspruch ist aber aufzuheben, weil nach den Feststellungen, die das Landgericht zur Schwere der Tat und zum Grad der persönlichen Schuld der Angeklagten getroffen hat, bei Abwägung der strafmildernden und der strafschärfenden Gesichtspunkte die verhängte Freiheitsstrafe unvertretbar hoch ist, das für vergleichbare Fälle übliche Maß erheblich überschreitet, damit den Anforderungen an einen gerechten Schuldausgleich nicht mehr entspricht und deshalb rechtsfehlerhaft ist (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen 9, 11, 12 m.w.N.). Nach den Erkenntnissen des Senats halten sich die in einschlägigen Fällen gegen die Kindesmütter verhängten Strafen deutlich unterhalb der hier erkannten Freiheitsstrafe. Dabei steht außer Frage, dass solche Taten objektiv schwerstes Unrecht darstellen. Angesichts einer sich in letzter Zeit ersichtlich häufenden Zahl einschlägiger Fälle dürfen bei der Findung des (noch) schuldangemessenen Strafmaßes auch generalpräventive Gesichtspunkte Berücksichtigung finden. In erster Linie hat sich die Strafe indes nach dem Maß der Tatschuld im Einzelfall auszurichten. Bei deren Gewichtung darf insbesondere die häufig verzweifelte Situation der Kindesmütter nicht außer Betracht bleiben. Zwar hätte die Mutter der Angeklagten ihre Unterstützung nicht versagt und standen schon deshalb für die Angeklagte – wie das auch sonst bei solcher Sachlage regelmäßig der Fall ist – objektiv Lösungsmöglichkeiten für die Versorgung des Kindes zur Verfügung. Dass die Angeklagte davon keinen Gebrauch gemacht und sich schließlich für die Tötung des Kindes entschieden hat, ist aber nicht zuletzt den Besonderheiten in ihrer Persönlichkeit zuzuschreiben. Zu Recht hat das Landgericht der Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne deshalb auch ihre "selbstunsichere Persönlichkeitsstörung" mit schizoiden und emotional instabilen Anteilen sowie ihre körperliche Erschöpfung durch die zuvor überstandene Entbindung zugute gehalten. Hinzu kommt, dass die psychische Verfassung der Angeklagten in der Tatsituation von Gefühlen der Angst, Ratlosigkeit und Verzweiflung geprägt war. Angesichts dieser schuldmildernden Umstände von Gewicht wird das hier im zweistelligen Bereich gefundene Strafmaß der Tatschuld der Angeklagten nicht mehr gerecht.
- 15
- 3. Der Senat hebt deshalb auf die Revision der Angeklagten das Urteil im Strafausspruch auf. Die zugehörigen Feststellungen sind von dem Aufhebungsgrund nicht betroffen und können deshalb bestehen bleiben. Zugleich macht der Senat von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO Gebrauch und verweist die Sache an ein anderes Landgericht zurück. Tepperwien Maatz Kuckein Athing Solin-Stojanović
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Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.
(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:
die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.
(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.