Bundesgerichtshof Urteil, 21. März 2019 - 3 StR 480/18

published on 21/03/2019 00:00
Bundesgerichtshof Urteil, 21. März 2019 - 3 StR 480/18
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 480/18
vom
21. März 2019
in dem Sicherungsverfahren
gegen
wegen Vergewaltigung
ECLI:DE:BGH:2019:210319U3STR480.18.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. März 2019, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schäfer,
Richter am Bundesgerichtshof Gericke, die Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Spaniol, Wimmer, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Tiemann als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgericht Kleve in Moers vom 21. März 2018 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2
Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung an einer leichten Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung , die seine soziale Interaktionsfähigkeit und sein Urteilsvermögen einschränkt, so dass er sich nur beschränkt an Regeln halten kann. Auch seine Impulskontrolle ist beeinträchtigt. Er steht deshalb unter umfassender Betreuung seiner Mutter.
3
Am Tattag übernachtete der Beschuldigte, der bei seinen Eltern wohnt, bei der Nebenklägerin, die er bei der gemeinsamen Arbeitsstelle in den Caritaswerkstätten kennengelernt hatte und mit der er seit einigen Tagen eine Beziehung führte. Seine Frage, ob sie mit ihm Sex haben wolle, verneinte die mit ihm das Bett teilende Nebenklägerin, was er akzeptierte. Als der Beschuldigte am nächsten Morgen erwachte, versuchte er, die Nebenklägerin, die krankheitsbedingt in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf versunken war, zu wecken. Er fühlte ihren Puls und führte eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch. Dann zog er der weiterhin Schlafenden die Boxershorts herunter und vollzog den vaginalen Geschlechtsverkehr, wobei er außerhalb der Scheide ejakulierte.
4
Das Landgericht hat das Verhalten des Beschuldigten als Vergewaltigung im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB gewertet. Es hat jedoch sachverständig beraten den Beschuldigten als schuldunfähig angesehen. Aufgrund des bei ihm diagnostizierten hirnorganischen Psychosyndroms , das als krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB zu werten sei, sei der Beschuldigte nicht in der Lage, soziale Zusammenhänge zu erkennen und zu interagieren. An Regeln könne er sich nur halten, wennman ihn - unter Androhung von Konsequenzen bei einem Verstoß - immer wieder darauf hinweise. Dies beeinträchtige seine Einsichtsfähigkeit. Er könne zwar verstehen , wenn eine Person ein von ihm formuliertes sexuelles Anliegen ablehne. In einer sexuell aufgeladenen Situation, in der - wie vorliegend - eine schlafende Person ihre Ablehnung nicht ausdrücken könne, sei die Einsichtsfähigkeit jedoch sicher erheblich eingeschränkt, wahrscheinlich sogar aufgehoben. Jedenfalls sei der Beschuldigte in der durch sexuelle Spannungen geprägten Situation nicht mehr in der Lage gewesen, sein Verhalten entsprechend einer möglicherweise verbliebenen Resteinsichtsfähigkeit zu steuern.
5
Von einer Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht abgesehen, weil die Voraussetzungen des § 63 StGB nicht vorlägen. Es bestehe keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades , dass von diesem künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Eine solche Allgemeingefahr werde noch nicht dadurch begründet, dass der Beschuldigte nach den Ausführungen des Sachverständigen in einer vergleichbaren Situation möglicherweise wieder so handeln werde. Dieser sei zwar - was im Bundeszentralregister inzwischen gelöscht sei - wegen (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern mit einer jugendrichterlichen Ermahnung vorgeahndet, weil er als Heranwachsender drei Geschädigte im Alter zwischen elf und 13 Jahren an der Scheide anfasste und in einem Fall auch mit einem Finger in die Scheide eindrang. Seit diesen 2008 begangenen Delikten sei es aber bis zu der vorliegenden Tat im November 2016 und nach Entlassung aus der vorläufigen Unterbringung im Oktober 2017 zu keinen weiteren Straftaten mehr gekommen, obgleich der Beschuldigte , der seit seiner Schulzeit in der Caritaswerkstatt arbeite, vielfältige Kontakte zu jungen Frauen habe. Dies sei - neben der altersbedingten Reifung - darauf zurück zu führen, dass der im familiären Umfeld eng begleitete und kontrollierte Beschuldigte sich an das nach der Verurteilung im Jahr 2010 ausgesprochene Gebot seiner Mutter gehalten habe, "Mädchen in Ruhe (zu) lassen". Auch vorliegend habe er zunächst die Ablehnung des Sexualverkehrs durch die Nebenklägerin akzeptiert. Die Tat habe er erst begangen, als sich sein sexuelles Verlangen über Stunden hin aufgebaut und die Nebenklägerin in einem ohnmachtsähnlichen Schlaf gelegen habe. Da er zu dieser zudem eine Beziehung gehabt habe, habe er sein Handeln darüber hinaus als weniger ver- werflich angesehen. Mit der Wiederholung einer solchen besonderen Situation sei nicht im Sinne einer höheren Wahrscheinlichkeit zu rechnen.

II.

6
1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat (en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Angeklagten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576).
7
2. Hieran gemessen hält die im tatgerichtlichen Urteil vorgenommene - negative - Gefährlichkeitsprognose revisionsgerichtlicher Prüfung stand. Das Landgericht hat eine hinreichende Gesamtbetrachtung vorgenommen. Revisionsrechtlich bedeutsame Rechtsfehler bei der Bewertung der eingestellten Risikofaktoren sind nicht ersichtlich. Soweit das Landgericht darauf abgestellt hat, dass es dem Beschuldigten gelungen sei, sich trotz seiner krankheitsbedingten Schwierigkeit, Regeln zu befolgen, unter anderem unter Kontrolle seines familiären Umfelds an Ge- und Verbote auch im Hinblick auf die Aufnahme sexueller Beziehungen zu halten, kommt es - entgegen dem Revisionsvorbrin- gen - zunächst entscheidend auf die tatsächliche Möglichkeit der Familie an, den Beschuldigten anzuleiten. Darüber hinaus verkennt die Revision, dass der Mutter als gesetzlicher Betreuerin je nach Umfang der angeordneten Betreuung auch rechtliche Möglichkeiten zur Einwirkung auf den Beschuldigten - gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Betreuungsgericht - zur Verfügung stehen (vgl. § 1896 Abs. 1, §§ 1901, 1906, 1906a BGB). Der Beschuldigte hat die Tat auch aus einer besonderen Situation heraus begangen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202, 203; vom 14. Dezember 2011 - 5 StR 488/11, NStZ-RR 2012, 39, 40). Das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte dafür, dass sich erneut eine solch besondere Gelegenheit ergeben könnte, hat das Landgericht nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad feststellen können und wird von der Revision auch nicht aufgezeigt (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306, 307). Sodann hat das Landgericht rechtsfehlerfrei in den Blick genommen, dass der Tat die besondere Beziehung zu der Nebenklägerin zugrunde lag (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306, 307 mwN).
8
Schließlich hat die Strafkammer auch nicht verkannt, dass der Beschuldigte bereits in der Vergangenheit mit Sexualdelikten aufgefallen ist. Dass sie diesem Umstand unter Hinweis auf den Zeitablauf seit der früheren Tat und das in dieser Hinsicht unauffällige Verhalten des Beschuldigten nach seiner Entlassung aus der vorläufigen Unterbringung kein durchschlagendes Gewicht beigemessen hat, stimmt mit der Rechtsprechung überein, wonach der Umstand, dass der Täter trotz (fort)bestehenden Defekts lange Zeit keine Straftaten (mehr) begangen hat, als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten zu werten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2005 - 4 StR 135/05, NStZ-RR 2005, 303; vom 13. Dezember 2011 - 5 StR 422/11, NStZ-RR 2012, 107, 108). Soweit die Revision bemängelt, dass das Landgericht auf die Darlegung der näheren Umstände und der konkreten Begehung der Vortaten verzichtet habe, ist eine Lücke in der tatrichterlichen Gesamtbetrachtung nicht ersichtlich. Die von der Revision in diesem Zusammenhang mitgeteilten "potentiellen Risikosachverhalte", mit denen sich das Landgericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose hätte auseinandersetzen müssen, ergeben sich aus den Urteilsgründen nicht. Eine Aufklärungsrüge ist nicht erhoben worden.
Schäfer Gericke Spaniol Wimmer Tiemann
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Annotations

(1) Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn

1.
der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
2.
der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
3.
der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
4.
der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
5.
der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.

(5) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet,
2.
dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder
3.
eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.

(6) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn

1.
der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder
2.
die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.

(7) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2.
sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3.
das Opfer in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.

(8) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder
2.
das Opfer
a)
bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder
b)
durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.

(9) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 4 und 5 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 7 und 8 ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.