Bundesgerichtshof Beschluss, 18. Jan. 2011 - VIII ZB 45/10
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Die Klägerin begehrt Schadensersatz aus einem beendeten Mietverhältnis. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil des Amtsgerichts ist der Klägerin, die sich als Rechtsanwältin selbst vertritt, am 8. Februar 2010 zugestellt worden. Die Klägerin hat am 9. Februar 2010 Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 1. April 2010 hat sie beantragt, die am 8. April 2010 ablaufende Berufungsbegründungsfrist wegen Arbeitsbelastung um einen Monat zu verlängern. Nach dem gerichtlichen Eingangsstempel ist der Verlängerungsantrag erst am 9. April 2010 beim Berufungsgericht eingegangen.
- 2
- Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe den Verlängerungsantrag am 8. April 2010 zwischen 10.30 Uhr und 11 Uhr im Beisein eines Mandanten, mit dem sie zuvor einen Gerichtstermin in einem anderen Gebäude des Berufungsgerichts wahrgenommen habe, in den Briefkasten des Berufungsgerichts im Neubau am Mathildenplatz eingeworfen. Sie hat eine eidesstattliche Versicherung ihres Mandanten vorgelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Die Berufungsbegründung ist am 10. Mai 2010 (Montag) beim Berufungsgericht eingegangen.
- 3
- Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
- 4
- Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
- 5
- 1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).
- 6
- 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet, denn die angegriffene Entscheidung verletzt den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Klägerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten In- stanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 227; vom 18. November 2003 - XI ZB 18/03, juris Rn. 7; jeweils mwN). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht missachtet, weil es ohne die erforderlichen Nachforschungen davon ausgegangen ist, dass der (erstmalige) Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung entsprechend dem gerichtlichen Eingangsstempel erst am 9. April und somit verspätet eingegangen ist.
- 7
- a) Die rechtzeitige Vornahme einer Prozesshandlung - hier der Einreichung eines Fristverlängerungsantrags - wird im Regelfall durch den Eingangsstempel des angegangenen Gerichts auf dem entsprechenden Schriftstück nachgewiesen (§ 418 Abs. 1 ZPO). Der Beweis des Gegenteils, der die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang erfordert, ist aber zulässig. Die Klägerin hatte sich hier ausdrücklich darauf berufen, dass sie den Schriftsatz - entgegen dem gerichtlichen Stempelaufdruck - bereits am 8. April 2010 und damit rechtzeitig in den Gerichtsbriefkasten eingeworfen habe. Angesichts der Beweisnot der betroffenen Partei dürfen die Anforderungen an den Gegenbeweis nicht überspannt werden, denn der Außenstehende hat in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des Nachtbriefkastens und die Abläufe bei dessen Leerung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es deshalb zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und dienstliche Äußerungen der für die Leerung des Briefkastens zuständigen Beamten über seine Funktionstüchtigkeit im fraglichen Zeitpunkt herbeizuführen (BGH, Urteil vom 30. März 2000 - IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872 unter II 1 b; Beschluss vom 3. Juli 2008 - IX ZB 169/07, NJW 2008, 3501 Rn. 11). Dies hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft unterlassen.
- 8
- b) Das Berufungsgericht hat ferner der von der Klägerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherung ihres Mandanten B. und ihrem Vorbringen zu den Abläufen am 8. April 2010 unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht keine Bedeutung beigemessen. Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe am fraglichen Tag in einem anderen Gebäude des Berufungsgerichts einen Gerichtstermin im Beisein ihres Mandanten wahrgenommen; anschließend sei sie mit ihm noch zum Gerichtsbriefkasten am Mathildenplatz gefahren und habe dort den Verlängerungsantrag eingeworfen. Diesen Vortrag hat die Klägerin durch Vorlage ihrer Ladung als Prozessbevollmächtigte zum dem auf diesen Tag anberaumten Termin in dem Rechtsstreit ihres Mandanten, des gerichtlichen Sitzungsprotokolls vom 8. April 2010 in jener Sache sowie der eidesstattlichen Versicherung ihres Mandanten belegt. Dieser hat bestätigt, dass er am fraglichen Tag mit der Klägerin nach einem Gerichtstermin in eigener Sache noch zu einem anderen Gerichtsbriefkasten in D. gefahren sei, in den die Klägerin ein von ihr als fristgebunden bezeichnetes Schriftstück eingeworfen habe.
- 9
- Damit spricht einiges dafür, dass die Klägerin den Fristverlängerungsantrag tatsächlich am 8. April 2010 und somit rechtzeitig in den Gerichtsbriefkasten eingeworfen hat. Soweit das Berufungsgericht an der Richtigkeit der Angaben in der eidesstattlichen Versicherung zweifelte, hätte es den Mandanten der Klägerin als Zeugen vernehmen müssen; in der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ist regelmäßig der Antrag zu sehen, denjenigen, der die eidesstattlichen Versicherung abgegeben hat, als Zeugen zu vernehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2009 - XII ZB 174/08, NJW-RR 2010, 217 Rn. 9 mwN). Soweit das Berufungsgericht an der Darstellung der Klägerin deshalb Zweifel hegte, weil es sich bei dem nach der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung am 8. April 2010 in den Briefkasten des Berufungsgerichts eingeworfenen Schriftstück nicht um den Verlängerungsantrag in der vorliegenden Sache, sondern um ein anderes Schriftstück gehandelt haben könnte, wäre es erforderlich gewesen, die Klägerin hierauf hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, noch bestehende Zweifel zumindest im Rahmen einer Anhörung nach § 141 ZPO auszuräumen. Ball Dr. Milger Dr. Hessel Dr. Fetzer Dr. Bünger
AG Offenbach am Main, Entscheidung vom 14.01.2010 - 350 C 63/09 -
LG Darmstadt, Entscheidung vom 14.05.2010 - 6 S 27/10 -
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Annotations
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.
(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass
- 1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, - 2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, - 3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und - 4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.
(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken.
(2) Auf die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und auf die Anfechtung der Entscheidung sind die Vorschriften anzuwenden, die in diesen Beziehungen für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Der Partei, die den Antrag gestellt hat, steht jedoch der Einspruch nicht zu.
(3) Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar.
(4) Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
(1) Öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 bezeichneten Inhalt haben, begründen vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen.
(2) Der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen ist zulässig, sofern nicht die Landesgesetze diesen Beweis ausschließen oder beschränken.
(3) Beruht das Zeugnis nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson, so ist die Vorschrift des ersten Absatzes nur dann anzuwenden, wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist.
(1) Das Gericht soll das persönliche Erscheinen beider Parteien anordnen, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint. Ist einer Partei wegen großer Entfernung oder aus sonstigem wichtigen Grund die persönliche Wahrnehmung des Termins nicht zuzumuten, so sieht das Gericht von der Anordnung ihres Erscheinens ab.
(2) Wird das Erscheinen angeordnet, so ist die Partei von Amts wegen zu laden. Die Ladung ist der Partei selbst mitzuteilen, auch wenn sie einen Prozessbevollmächtigten bestellt hat; der Zustellung bedarf die Ladung nicht.
(3) Bleibt die Partei im Termin aus, so kann gegen sie Ordnungsgeld wie gegen einen im Vernehmungstermin nicht erschienenen Zeugen festgesetzt werden. Dies gilt nicht, wenn die Partei zur Verhandlung einen Vertreter entsendet, der zur Aufklärung des Tatbestandes in der Lage und zur Abgabe der gebotenen Erklärungen, insbesondere zu einem Vergleichsabschluss, ermächtigt ist. Die Partei ist auf die Folgen ihres Ausbleibens in der Ladung hinzuweisen.