Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Aug. 2019 - VI ZR 114/18
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. August 2019 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterin von Pentz, den Richter Offenloch, die Richterin Müller und den Richter Dr. Allgayer
beschlossen:
a) die Berufung des Klägers gegen die Abweisung der Klage hinsichtlich seines Antrags auf Zahlung eines 70.000 € übersteigenden weiteren Schmerzensgeldes nebst Zinsen im Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bochum vom 4. August 2016 zurückgewiesen worden ist,
b) auf die Berufung der Beklagten das vorgenannte Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bochum in Bezug auf das Schmerzensgeld abgeändert und die Klage insoweit hinsicht- lich eines 10.000 € übersteigenden weiteren Schmerzensgel- des nebst Zinsen abgewiesen worden ist,
c) auf die Berufung der Beklagten das vorgenannte Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bochum in Bezug auf die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten abgeändert und die Klage hinsichtlich 2.217,45 € übersteigender vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten abgewiesen worden ist.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens , an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm zurückgewiesen. Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfah- ren wird auf bis zu 125.000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
- 1
- Der Kläger nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.
- 2
- Im Februar 2007 verunglückte der Kläger mit seinem Motorrad bei einem Verkehrsunfall, für den die Beklagte zu 1 als Fahrerin und die Beklagte zu 2 als Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Pkws voll einstandspflichtig sind. Der Kläger erlitt bei dem Unfall erhebliche Verletzungen, unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma III. Grades mit ausgedehnten Gesichtsweichteilverletzungen , Frakturen im Bereich des Gesichtsschädels, frontale Kontusionsblutungen und multiple oberflächliche Hautabschürfungen im Bereich der Extremitäten. Im Rahmen der schließlich durchgeführten stationären Rehabilitation wurden ein unfallbedingtes Hirnödem, postkontusionelle kognitive Defizite, eine rechtsbetonte Paraspastik der unteren Extremitäten mit rechtsbetontem neuro- pathischem Schmerz, eine Anosmie, eine diskrete periphere Läsion des Nervus peroneus rechts und eine Liquorfistel an der Schädelbasis diagnostiziert. Der Kläger ist in Folge des Verkehrsunfalls zu 50% in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Die Beklagte zu 2 leistete vorprozessual insgesamt rund 70.000 € an den Kläger, wovon 60.000 € auf den Schmerzensgeldanspruch des Klägers zu verrechnen waren.
- 3
- Unter anderem mit der Behauptung, er leide infolge des Unfalls unter anderem an Gang- und Gleichgewichtsstörungen, Schwindel und gravierenden Dauerschmerzen, die er nur mit starken Schmerzmitteln auszuhalten vermöge, und infolge der Medikamenteneinnahme bestehe die latente Gefahr, davon abhängig zu werden und hierdurch gravierende gesundheitliche Schädigungen zu erleiden, nimmt der Kläger die Beklagten - soweit im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren noch von Bedeutung - auf ein weiteres Schmer- zensgeld in Höhe von mindestens 80.000 € sowie Ersatz seines Haushaltsfüh- rungsschadens in Höhe von 40.113 € (I. Instanz) bzw. 52.173 € (II. Instanz) und außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten, jeweils nebst Zinsen, in Anspruch.
- 4
- Das Landgericht hat dem Kläger - soweit für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren von Bedeutung - unter Abweisung des weitergehenden Schmerzensgeldantrags ein weiteres Schmerzensgeld von 70.000 €, einen Anspruch auf Ersatz seines Haushaltsführungsschadens in Höhe von 40.113 € sowie außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 2.480,44 €, je- weils nebst Zinsen, zuerkannt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil dahingehend abgeändert, dass es dem Kläger unter Abweisung der weitergehenden Anträge ein weiteres Schmer- zensgeld von lediglich 10.000 € nebst Zinsen sowie außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten von nur 2.217,45 €zugesprochen hat; hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Haushaltsführungsschadens hat es die Klage abge- wiesen. Die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Gegen die unterbliebene Zulassung der Revision wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
- 5
- Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat teilweise Erfolg. Sie führt insoweit gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
- 6
- 1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren noch von Interesse - im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe gegen die Beklagten gemäß § 11 Satz 2 StVG bzw. § 253 BGB einen Anspruch auf ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 70.000 €, von denen nach Zahlung von 60.000 € ein Betrag von 10.000 € noch nicht getilgt sei, sowie einen Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten aus einem Gegenstandswert von bis zu 95.000 €. Ein Anspruch auf Ausgleich des von ihm geltend gemachten Haushaltsführungsschadens stehe dem Kläger hingegen nicht zu. Die Bemessung des Schmerzensgeldes hat das Berufungsgericht unter anderem auf die Erwägung gestützt, die Schmerzmedikation habe von 300 auf 100 mg Tramadol reduziert werden können, weshalb der Kläger ein geringes Risiko habe, medikamentenabhängig zu werden.
- 7
- 2. Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Bemessung des Schmerzensgeldes verletzen den Kläger in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
- 8
- a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. nur Senatsbeschluss vom 21. Mai 2019 - VI ZR 54/18 Rn. 6, juris). Das angefochtene Urteil genügt diesen Anforderungen in Bezug auf die Bemessung des Schmerzensgeldes nicht.
- 9
- b) Die Annahme des Berufungsgerichts, die Schmerzmedikation habe von 300 auf 100 mg Tramadol reduziert werden können, weshalb der Kläger ein geringes Risiko habe, medikamentenabhängig zu werden, stützt sich auf das bereits erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten des Dr. F. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht vom 8. August 2017 hat der Kläger allerdings ausgeführt, sein Gesundheitszustand habe sich seit den Begutachtungen verschlechtert. Er habe zweimal in der Woche so starke Kopfschmerzen, dass er handlungsunfähig sei. Er befinde sich ungefähr alle acht Wochen wegen Schmerzen in ärztlicher Behandlung. Die Dosis der Schmerzmedikation sei derzeit auf Novalgin 500 und Tramal 100 + 50 hochgesetzt worden. Außerdem nehme er wegen der Nervenschmerzen zweimal täglich Lyrica (300 mg). Warum das Berufungsgericht seiner Würdigung diese neuen Behauptungen des Klägers nicht zugrunde gelegt hat, lässt sich dem Berufungsurteil nicht entnehmen. Die im Widerspruch zu den Angaben des Klägers stehenden Annahmen des Berufungsgerichts zur Medikamenteneinnahme lassen damit den hinreichend sicheren Schluss darauf zu, dass das Berufungsgericht den neuen Vortrag des Klägers nicht in Erwägung gezogen hat. Dass das Berufungsgericht im Berufungsurteil - worauf die Beschwerdeerwiderung hinweist - auf den Berichterstattervermerk über die Anhörung des Klägers, in dem dessen neuer Vortrag enthalten ist, (pauschal) Bezug nimmt, ändert daran nichts.
- 10
- c) Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des neuen Vortrags und gegebenenfalls ergänzender Anhörung des Sachverständigen zum Ergebnis gelangt wäre, dass sich die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers, etwa hinsichtlich einer möglichen Medikamentenabhängigkeit, möglicher Spätschäden oder sonstiger Nebenwirkungen der Medikation, erheblich gravierender als bisher angenommen darstellen, und es deshalb zu einem höheren Schmerzensgeld gelangt wäre.
- 11
- 3. Das Berufungsgericht hat die Höhe der ersatzfähigen vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten - zutreffend (vgl. nur Senatsurteil vom 5. Dezember 2017 - VI ZR 24/17, NJW 2018, 935 Rn. 7, mwN) - nach dem Gegenstandswert berechnet, der der berechtigten Schadensersatzforderung in der Hauptsache entspricht. Der dargestellte Gehörsverstoß ist damit auch insoweit entschei- dungserheblich, als das Berufungsgericht einen 2.217,45 € übersteigenden An- spruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Anwaltsgebühren verneint hat.
- 12
- 4. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts auch insoweit erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Müller Allgayer
Vorinstanzen:
LG Bochum, Entscheidung vom 04.08.2016 - I-2 O 143/14 -
OLG Hamm, Entscheidung vom 09.02.2018 - I-7 U 68/16 -
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(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).
(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn
- 1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder - 2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.
(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.
(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.
(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.
(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.
(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.
(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.
(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.
Im Fall der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit ist der Schadensersatz durch Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, dass infolge der Verletzung zeitweise oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten ist. Wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann auch eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.
(1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.
(2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.