Bundesgerichtshof Beschluss, 23. März 2006 - IX ZB 56/05
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung des Klägers an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
- 1
- Das die Klage abweisende und der Widerklage stattgebende Urteil des Landgerichts Stralsund vom 3. September 2004 ist dem Kläger am 7. September 2004 zugestellt worden. Hiergegen hat der Kläger fristgerecht Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung des Rechtsmittels ist auf seinen Antrag bis zum 7. Dezember 2004 verlängert worden. Die Berufungsbegründung ist am 8. Dezember 2004 beim Oberlandesgericht Rostock, das seinen Sitz in der Wallstraße 3 hat, eingegangen. Am 22. Dezember 2004 hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen:
- 2
- Ein in seiner Kanzlei beschäftigter Praktikant habe den Berufungsbegründungsschriftsatz am 7. Dezember 2004 gegen 15.00 Uhr im Haus der Justiz in der August-Bebel-Straße einem Justizwachtmeister übergeben. Der Praktikant habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um einen fristgebundenen Schriftsatz für das Oberlandesgericht handele, und um sofortige Weiterleitung an den im Hause ansässigen 8. Zivilsenat gebeten. Der Justizwachtmeister habe den Schriftsatz ohne Einwendungen entgegengenommen. Diese - entgegen der üblichen Praxis gewählte - Form der Übermittlung habe der den Berufungsschriftsatz unterzeichnende Rechtsanwalt persönlich angeordnet.
- 3
- Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil dieser nicht ohne sein Verschulden verhindert gewesen sei, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Die Fristüberschreitung beruhe auf einer fehlerhaften Einzelweisung. Durch die Übergabe des Schriftsatzes an einen Mitarbeiter der Poststelle im Haus der Justiz sei der - zutreffend adressierte - Begründungsschriftsatz noch nicht beim zuständigen Oberlandesgericht eingegangen. Denn es handele sich nicht um eine gemeinsame Postannahmestelle auch des Oberlandesgerichts. Der Umstand, dass einige Senate des Oberlandesgerichts aus räumlichen Gründen im Haus der Justiz untergebracht seien, ändere daran nichts. Bei dem in der Postannahmestelle befindlichen Fach für an das Oberlandesgericht adressierte Schriftsätze handele es sich um eine interne Ablage. Der Irrtum des Prozessbevollmächtigten über die Existenz einer gemeinsamen Postannahmestelle beruhe auf Fahrlässigkeit , die sich der Kläger zurechnen lassen müsse. Ein mitwirkendes Verschulden der Justiz an der Fristversäumung sei nicht ersichtlich.
II.
- 4
- Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und zulässig (§ 574 Abs. 2, § 575 ZPO). Das Rechtsmittel ist auch begründet.
- 5
- 1. Der angefochtene Beschluss unterliegt nicht bereits deswegen der Aufhebung, weil das Berufungsgericht seiner rechtlichen Begründung keinen Sachverhalt vorangestellt hat (BGH, Beschl. v. 20. Juni 2002 - IX ZB 56/01, NJW 2002, 2648, 2649). Die tatsächlichen Grundlagen seiner Entscheidung lassen sich den Rechtsausführungen in einer für die rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht noch ausreichenden Weise entnehmen.
- 6
- 2. Dahinstehen kann, ob einzelne Wendungen der Rechtsbeschwerdebegründung dahin zu verstehen sind, im Haus der Justiz in Rostock befinde sich eine gemeinsame Postannahmestelle, an die auch das Oberlandesgericht angeschlossen sei. Träfe eine solche Behauptung zu, hätte der Kläger die Berufungsbegründungsfrist nicht versäumt. Die Rechtsbeschwerde macht jedoch nicht geltend, die Begründungsfrist sei gewahrt; erst recht legt sie insoweit keine durchgreifenden Zulässigkeitsgründe dar. Nach den Anträgen und den einleitenden Ausführungen der Begründungsschrift verfolgt der Kläger vielmehr seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand weiter.
- 7
- 3. Mit Recht wendet sich der Kläger gegen die Annahme des Berufungsgerichts , seinen Prozessbevollmächtigten treffe ein ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden an der Fristversäumung.
- 8
- Nach den besonderen Umständen des hier gegebenen Falles hat der Prozessbevollmächtigte die Berufungsbegründungsfrist nicht schuldhaft versäumt. Durch die eidesstattliche Versicherung des Praktikanten ist glaubhaft gemacht, dass dieser das Verhalten des Justizwachtmeisters dahin deuten durfte, die Berufungsbegründung werde noch am selben Tag beim zuständigen 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts, der im Hause der Justiz untergebracht war, eingehen. Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden, ein Rechtsanwalt dürfe von der Möglichkeit, eine Berufungsschrift bei der Annahmestelle im Gebäude des Landgerichts zur Weiterleitung an das Oberlandesgericht abzugeben , so lange Gebrauch machen, als er mit Sicherheit noch einen fristgerechten Zugang erwarten könne (BGH, Beschl. v. 12. Juli 1961 - I ZB 2/61, VersR 1961, 923, 924). Die Versicherung eines Beamten der Postannahmestelle , der Schriftsatz werde noch am selben Tag der zuständigen Stelle zugeleitet, schließt ein Verschulden des darauf vertrauenden Rechtsanwalts aus (BGH, aaO S. 923 f; Beschl. v. 10. Juni 1976 - VII ZB 5/76, VersR 1976, 1063, 1064). Hier muss wegen der örtlichen Gegebenheiten das Gleiche gelten. Der 8. Zivilsenat war im Haus der Justiz untergebracht. Dieser Spruchkörper war für das Berufungsverfahren zuständig und infolge der Berufungseinlegung bereits mit der Sache befasst. Dementsprechend wies die Berufungsbegründung das richtige Aktenzeichen dieses Senats aus, so dass der Schriftsatz ihm sofort zugeordnet werden konnte. Die offene Abgabe der Berufungsbegründung unterstrich zusätzlich, dass der Schriftsatz nicht im gewöhnlichen Postgang behandelt werden sollte. Bei einer Abgabe gegen 15:00 Uhr war es auch ohne weiteres möglich, dass die Begründungsschrift noch vor Dienstschluss der Ge- schäftsstelle vorgelegt wurde. Unter diesen Umständen konnte der Praktikant das Verhalten des Wachtmeisters nur so verstehen, dass der ihm übergebene Schriftsatz - aufgrund der allgemeinen Organisation des Postlaufs oder aufgrund einer besonderen Zuleitung - noch am Tage der Übergabe und damit rechtzeitig beim zuständigen 8. Zivilsenat eingehen werde.
- 9
- 4. Die Sache ist zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, das auch über die Kosten dieses Verfahrens zusammen mit der Hauptsache (vgl. BGH, Beschl. v. 24. Juli 2000 - II ZB 20/99, NJW 2000, 3284, 3286) zu befinden hat.
Kayser Cierniak
Vorinstanzen:
LG Stralsund, Entscheidung vom 03.09.2004 - 4 O 96/04 -
OLG Rostock, Entscheidung vom 28.01.2005 - 8 U 152/04 -
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(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken.
(2) Auf die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und auf die Anfechtung der Entscheidung sind die Vorschriften anzuwenden, die in diesen Beziehungen für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Der Partei, die den Antrag gestellt hat, steht jedoch der Einspruch nicht zu.
(3) Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar.
(4) Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.
(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.
(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass
- 1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, - 2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, - 3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und - 4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
(1) Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des Beschlusses durch Einreichen einer Beschwerdeschrift bei dem Rechtsbeschwerdegericht einzulegen. Die Rechtsbeschwerdeschrift muss enthalten:
- 1.
die Bezeichnung der Entscheidung, gegen die die Rechtsbeschwerde gerichtet wird und - 2.
die Erklärung, dass gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde eingelegt werde.
(2) Die Rechtsbeschwerde ist, sofern die Beschwerdeschrift keine Begründung enthält, binnen einer Frist von einem Monat zu begründen. Die Frist beginnt mit der Zustellung der angefochtenen Entscheidung. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend.
(3) Die Begründung der Rechtsbeschwerde muss enthalten:
- 1.
die Erklärung, inwieweit die Entscheidung des Beschwerdegerichts oder des Berufungsgerichts angefochten und deren Aufhebung beantragt werde (Rechtsbeschwerdeanträge), - 2.
in den Fällen des § 574 Abs. 1 Nr. 1 eine Darlegung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2, - 3.
die Angabe der Rechtsbeschwerdegründe, und zwar - a)
die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt; - b)
soweit die Rechtsbeschwerde darauf gestützt wird, dass das Gesetz in Bezug auf das Verfahren verletzt sei, die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben.
(4) Die allgemeinen Vorschriften über die vorbereitenden Schriftsätze sind auch auf die Beschwerde- und die Begründungsschrift anzuwenden. Die Beschwerde- und die Begründungsschrift sind der Gegenpartei zuzustellen.
(5) Die §§ 541 und 570 Abs. 1, 3 gelten entsprechend.
(1) Die von dem Bevollmächtigten vorgenommenen Prozesshandlungen sind für die Partei in gleicher Art verpflichtend, als wenn sie von der Partei selbst vorgenommen wären. Dies gilt von Geständnissen und anderen tatsächlichen Erklärungen, insoweit sie nicht von der miterschienenen Partei sofort widerrufen oder berichtigt werden.
(2) Das Verschulden des Bevollmächtigten steht dem Verschulden der Partei gleich.