Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Apr. 2016 - 2 StR 435/15
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 21. April 2016 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Miss1 brauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 40 Fällen, sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen und sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 40 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:- 2
- 1. Der Angeklagte lebte von 1992 bis Oktober 2000 zusammen mit der
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- Zeugin S. Sc. und ihren Kindern Sa. und M. Sc. , die aus einer früheren Beziehung der Zeugin stammten, sowie den gemeinsamen Kindern K. , R. und A. . Vor dem Hintergrund des Verdachts, dass der Angeklagte Sa. Sc. sexuell missbraucht habe, trennte sich die Zeugin S. Sc. von ihm. Es entstand ein heftiger Streit um das Sorgerecht für die Kinder K. und R. , der schließlich im Jahre 2001 zugunsten des Angeklagten entschieden wurde. Das gegen ihn geführte Strafverfahren wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil von Sa. Sc. wurde gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Danach beging der Angeklagte nach den Feststellungen des Landgerichts die abgeurteilten Taten: An zwei Tagen im Zeitraum zwischen dem 16. August 2003 und dem
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- 16. August 2004 missbrauchte der Angeklagte seine damals zehnjährige Tochter K. , indem er sein Geschlechtsteil mit Nutella bestrich und das Kind aufforderte, dieses mit der Zunge abzulecken. K. Sc. wollte dies nicht und benutzte ihre Finger, um die Schokoladencreme vom Penis des Angeklagten abzustreifen (Fälle II.1. und II.2. der Urteilsgründe). Im Zeitraum zwischen dem 16. August 2003 und dem 15. August 2007 vollzog der Angeklagte in 40 Fällen den vaginalen Geschlechtsverkehr mit K. (Fälle II.3. bis II.42. der Urteilsgründe) und nach deren 14. Geburtstag bis zum 30. Juni 2011 in weiteren 40 Fällen (Fälle II.43. bis II.82. der Urteilsgründe).
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- 2. K. Sc. äußerte erstmals im Jahr 2006 gegenüber ihrer Großmutter Mü. , dass der Angeklagte sie sexuell missbraucht habe. Ab Oktober 2011 hatte K. eine erste intime Beziehung mit einem Freund, einen Portugiesen namens P. . Diesem erzählte sie jedoch nichts von den vorangegangenen sexuellen Übergriffen ihres Vaters. Im Mai 2012 berichtete sie jedoch ihrer Freundin H. davon. Diese veranlasste K. Sc. dazu, den Kinder- und Jugendschutzdienst „ “ aufzusu- chen, bei dem sie durch die Psychologin L. beraten wurde. Am nächsten Tag rief H. im Beisein von K. Sc. deren Halbschwester Sa. an und fragte sie, ob die früher erhobenen Vorwürfe eines sexuellen Missbrauchs durch den Angeklagten zu ihrem Nachteil zutreffend seien. Sa. bejahte dies. Hierauf entschloss sich K. Sc. , eine Strafanzeige gegen ihren Vater zu erstatten. Am 4. und 10. Mai 2012 wurde sie polizeilich vernommen. Am 19. November 2012 erfolgte eine Vernehmung durch den Ermittlungsrichter, bei der ihr zunächst das Protokoll ihrer ersten polizeilichen Vernehmung vollständig vorgelesen wurde; das Protokoll der zweiten polizeilichen Vernehmung las sie anschließend selbst. Danach machte sie ergänzende Angaben. Das Landgericht beauftragte eine aussagepsychologische Sachverständige mit der Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben; diese führte am 20. Mai 2014 und am 1. Juli 2014 Explorationsgespräche durch. In der Hauptverhandlung machte K. Sc. Angaben, die in die Feststellungen eingeflossen sind. Bei dieser Vernehmung in der Hauptverhandlung wurde ihr das Protokoll der polizeilichen Vernehmung ihrer inzwischen verstorbenen Großmutter Mü. vorgehalten. 3. Der Angeklagte hat die Tatbegehung bestritten. Er hat behauptet,
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- dass K. Sc. ihn aus Rache zu Unrecht belaste, denn er habe ihr kein Geld für die Reise zu ihrem Freund P. gegeben, nachdem dieser nach Portugal zurückgekehrt war. Darauf sei sie zu ihrer Freundin H. gegangen , die eigene Missbrauchserfahrungen gehabt habe. Von dieser sei sie zur Strafanzeige gedrängt worden. Die früheren Vorwürfe eines sexuellen Missbrauchs zum Nachteil von Sa. Sc. seien auch zu Unrecht erhoben worden; daraus habe seine Tochter K. gelernt, dass man mit einer Missbrauchsbehauptung ohne weiteres „durchkomme“. Das sachverständig beratene Landgericht ist den Angaben der Zeugin
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- K. Sc. gefolgt. Für deren Richtigkeit spreche die Entstehungsge- schichte der Aussage. Zwar habe es „gewisse Widersprüche“ zwischen ihrer Aussage über die Umstände der ersten Offenbarung und den diesbezüglichen Angaben der Großmutter bei deren polizeilicher Vernehmung gegeben. Jedoch bestehe jedenfalls Übereinstimmung dahin, dass es damals ein Gespräch über sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten gegeben habe. Das Aussageverhalten von K. Sc. spreche ebenfalls für die Richtigkeit ihrer Angaben , die verschiedene Realkennzeichen aufwiesen. Ein Falschaussagemotiv sei hingegen nicht anzunehmen. Auch für eine suggestive Beeinflussung be- stünden keine Anhaltspunkte. Die Konstanz ihrer Angaben sei „hoch einzuschätzen“. Die Aussage der Zeugin Sa. He. (früher Sc. ) in der Hauptverhandlung , wonach sie selbst vom Angeklagten missbraucht worden sei, stelle ein weiteres Indiz für die Glaubhaftigkeit der Angaben von K. Sc. dar, auch wenn sie mit Zurückhaltung gewürdigt werden müsse, weil das diesbezügliche Strafverfahren gegen den Angeklagten eingestellt worden sei. Die Aussagen der Zeugin R. Sc. , die bekundet hatte, dass ihre Schwester K. „sich nur noch für Sex und Geld interessiert“ habe, seit sie den Freund P. gehabt habe, seien dagegen „für die Wahrheitsfindung wertlos.“
II.
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- Die Revision ist mit der Sachrüge begründet, sodass es auf die Verfahrensrüge des Angeklagten nicht ankommt, mit welcher er die fehlende Begründung seines Ausschlusses von der Anwesenheit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung seiner Tochter K. , das damalige Fehlen einer Verteidigung und die Einflussnahme auf das Erinnerungsvermögen der Zeugin durch die Art der Durchführung dieser Vernehmung beanstandet. Die Beweiserhebung des Landgerichts begegnet durchgreifenden recht9 lichen Bedenken. 1. Das Landgericht hat die Aussage der Zeugin Sa. He. (früher
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- Sc. ) über sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten zu ihrem Nachteil als belastendes Indiz gewertet. Es hat aber nicht erörtert, warum das diesbezügliche Strafverfahren eingestellt wurde und warum es - gemessen an den Einstellungsgründen - die nunmehr gemachte Aussage der Zeugin letztlich als zutreffend angesehen hat. Zwar könnte die Tatsache, dass der Angeklagte früher vergleichbare Ta11 ten begangen hatte, gegebenenfalls ein Indiz für die Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten sein. Eine Indiztatsache, die den Ausgangspunkt für eine Schlussfolgerung im Rahmen einer Beweiskette bildet, muss aber feststehen , wenn sie als belastender Umstand gewertet werden soll (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 1974 - 3 StR 303/73, NJW 1974, 654, 655; Urteil vom 31. Oktober 1989 - 1 StR 419/89, BGHSt 36, 286, 290; s.a.
BeckOK/Eschelbach, StPO, 24. Ed., § 261 Rn. 11.2; Liebhardt NStZ 2016, 134, 136; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 53. Aufl., § 261 Rn. 29; LR/Sander, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 114; Schäfer StV 1995, 147, 150; krit. KK/Ott, StPO, 7. Aufl., § 261 Rn. 54; zur Differenzierung nach Indizien in einer Beweiskette oder einem Beweisring etwa SK/Velten, StPO, 4. Aufl., § 261 Rn. 93). Um sich in rechtsfehlerfreier Weise eine sichere Überzeugung von der
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- Richtigkeit der Indiztatsache zu bilden, hätte das Landgericht deshalb die Bedenken , die zur Einstellung des Strafverfahrens wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil von Sa. He. geführt hatten, prüfen und ausräumen müssen. 2. Das Landgericht hat auch die Angaben der später verstorbenen
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- Großmutter der Nebenklägerin bei deren polizeilichen Vernehmung in rechtlich zu beanstandender Weise beurteilt. Die Angaben der Großmutter hat es nach den Urteilsgründen zwar zu Vorhalten gegenüber K. Sc. verwendet. Es hat damit jedoch den Inhalt der Aussage der Großmutter nicht in die Hauptverhandlung einführen können; denn ein Vorhalt ist für sich genommen keine Beweiserhebung im Strengbeweisverfahren (vgl. SK/Velten, StPO, § 261 Rn. 62). Kam den Angaben der Großmutter - sei es als Belastungsindiz oder Entlastungsindiz - eine Beweisbedeutung zu, wäre es geboten gewesen, diese prozessordnungsgemäß einzuführen und im Urteil näher zu erörtern. 3. Die Annahme einer hohen Aussagekonstanz der Angaben der Neben14 klägerin ist ebenfalls rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat nicht erkennbar berücksichtigt , dass durch Vorlesen des Protokolls über die erste polizeiliche Vernehmung und die eigene Lektüre des Protokolls über die zweite polizeiliche Vernehmung durch die Nebenklägerin beim Ermittlungsrichter Einfluss auf de- ren Erinnerung genommen wurde. Eine Erinnerung an selbst erlebtes Geschehen und die Erinnerung an den Inhalt einer Äußerung hierüber kann sich nach einer derartigen Konfrontation mit Vernehmungsprotokollen so vermischt haben , dass bei späteren Befragungen eine Unterscheidung erschwert oder unmöglich gemacht wurde. Praktisch jede Aktivierung des Gedächtnisinhalts führt schließlich auch zu dessen Konsolidierung (vgl. Köhnken in Widmaier/ Müller/Schlothauer, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl., § 61 Rn. 90). Deshalb hätte das Landgericht erläutern müssen, worin gegebenenfalls eine von der Protokollverlesung und Eigenlektüre unbeeinflusste Konstanz verschiedener Aussagen der Nebenklägerin gesehen wurde und welche Bedeutung ihrer Konfrontation mit dem Inhalt der früheren Angaben für die späteren Angaben bei der Exploration und der Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung zuzumessen ist. 4. Die Urteilsgründe lassen schließlich besorgen, dass das Landgericht
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- keine erschöpfende Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände vorgenommen hat, die bei einer problematischen Beweislage , wie sie hier vorliegt, stets geboten ist (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Juli 2014 - 2 StR 94/14, StV 2014, 720).
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- So sind Aspekte, die gegen die Richtigkeit der Missbrauchsvorwürfe sprechen können, wie die Einstellung des Strafverfahrens gegen den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil von Sa. Sc. , die Zuweisung des elterlichen Sorgerechts für die Kinder K. und R. an den Angeklagten trotz dieses Vorwurfs, die vom Landgericht angenommenen Widersprüche zwischen den Angaben der Nebenklägerin und denjenigen ihrer Großmutter, ferner die Behauptung der Schwester R. , K. Sc. sei seit Beginn der Freundschaft mit P. „nur noch an Sex und Geld interes- siert“ gewesen, und einzelne Abweichungen in den verschiedenen Aussagen der Nebenklägerin nicht in eine Gesamtschau eingestellt worden. Sie hätten angesichts der schrittweisen Entwicklung der Aussage unter Einschaltung verschiedener anderer Personen (vgl. zu dieser Problematik Kröber FPPK 2013, 240, 244 ff.; s.a. Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, in Venzlaff /Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl., S. 683, 700) jedoch auch insgesamt gegen die Glaubhaftigkeitskriterien, die für einen Erlebnisbezug der Aussagen sprechen, abgewogen werden müssen.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.
(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.