Bundesfinanzhof Urteil, 03. Nov. 2010 - VII R 21/10

bei uns veröffentlicht am03.11.2010

Tatbestand

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I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist im Jahr 1995 durch Verschmelzung Rechtsnachfolgerin der X GmbH geworden. Mit Beitreibungsersuchen vom 14. Dezember 2004 bat die italienische Zollverwaltung den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Hauptzollamt --HZA--) um Vollstreckung einer Forderung aus einer im Oktober 1995 der X GmbH an ihrem Sitz in Deutschland zugestellten Zahlungsaufforderung eines Zollamts (ZA) in Italien vom 26. Mai 1995. In dem Beitreibungsersuchen war ein Urteil eines italienischen Oberlandesgerichts vom November 2000 als neuer vollstreckbarer Titel bezeichnet, das in beglaubigter Kopie mit einer Übersetzung ins Deutsche beigefügt war. Das italienische Oberlandesgericht bestätigte das Urteil eines italienischen Gerichts erster Instanz, mit dem die Klage der Klägerin gegen die Zahlungsaufforderung des italienischen ZA aufgrund verspäteter Einlegung eines Rechtsbehelfs abgewiesen worden ist. In dem Beitreibungsersuchen waren u.a. der geschuldete Betrag sowie Zinsen und Kosten, der Zeitpunkt der Vollstreckbarkeit und das Bekanntgabedatum des Vollstreckungstitels benannt. Zudem wurde bestätigt, dass die in Art. 7 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 76/308/EWG (RL 76/308/EWG) des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen --Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABlEG) Nr. L 73/18-- (inzwischen ersetzt durch die Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen, Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 150/28) genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

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Das HZA forderte die Klägerin zur Zahlung des von den italienischen Behörden angeforderten Betrags auf und kündigte mit Schreiben vom 7. April 2005 die Vollstreckung an. Nachdem das HZA aufgrund der Hinterlegung einer Bürgschaftsurkunde die bereits eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen mit Bescheid vom 25. Mai 2005 einstweilen ausgesetzt und Vollstreckungsaufschub gewährt hatte, und nachdem die italienische Zollverwaltung der Bundesfinanzdirektion Mitte mitgeteilt hatte, dass die von der Klägerin bei der obersten Dienststelle des ZA eingelegte Verwaltungsbeschwerde abgewiesen worden sei, erging mit Schreiben vom 26. März 2008 eine weitere Zahlungsaufforderung mit dem Hinweis an die Klägerin, dass die zur Sicherheit hinterlegte Bürgschaftsurkunde verwertet werde, wenn bis zum 15. April 2008 keine Zahlung erfolgt sei.

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Einspruch und Klage gegen die Androhung der Bürgschaftsverwertung hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass das HZA die Verwertung zu Recht angekündigt habe (vgl. Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 2010, Beilage 3, 33). Sämtliche Voraussetzungen für eine Vollstreckung nach dem Gesetz zur Durchführung der EG-Beitreibungsrichtlinie seien im Streitfall erfüllt. Es liege ein vollstreckbarer Titel vor, der sich aus dem Urteil des italienischen Oberlandesgerichts ergebe, das die Rechtmäßigkeit der an die Klägerin gerichteten Zahlungsaufforderung bestätigt habe. Ferner habe die ersuchende Behörde bestätigt, dass die in Art. 7 Abs. 2 Buchst. a und b RL 76/308/EWG genannten Voraussetzungen erfüllt seien. Unstreitig sei zwischen den Beteiligten, dass der Rechtsweg in Italien erschöpft sei. Es könne dahinstehen, ob die Klägerin einen Steuerbescheid erhalten habe. Denn das Urteil des italienischen Oberlandesgerichts trete an die Stelle des erforderlichen vollziehbaren Verwaltungsakts i.S. des § 251 Abs. 1 der Abgabenordnung. Ebenso wenig sei entscheidungserheblich, ob die Zahlungsaufforderung rechtmäßig zustande gekommen oder von den italienischen Gerichten zu Recht bestätigt worden sei. Der Hilfsantrag der Klägerin, der auf die Feststellung der Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des italienischen Oberlandesgerichts gerichtet sei, sei zwar zulässig, jedoch könne er der Klage deshalb nicht zum Erfolg verhelfen, weil die Zwangsvollstreckung auf der Grundlage des Urteils dieses Gerichts zulässig sei.

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Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen sowie die Feststellung, dass die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des italienischen Oberlandesgerichts unzulässig ist. Zur Begründung trägt sie vor, dass die Entscheidung des italienischen Oberlandesgerichts ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) verletze. Die Zahlungsaufforderung sei ohne Begründung und ohne Rechtsmittelbelehrung in italienischer Sprache ergangen. Deshalb habe der an sich gebotene Rechtsbehelf innerhalb von 15 Tagen nicht fristgemäß eingelegt werden können. Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 14. Januar 2010 C-233/08 (Europäische Zeitschrift für Wirtschaft --EuZW-- 2010, 146) sei dem Empfänger eines Vollstreckungstitels dieser Titel in einer Amtssprache des Mitgliedstaats zuzustellen, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz habe. Zu Unrecht sei die Klage von den italienischen Gerichten allein aufgrund der Verfristung als unzulässig abgewiesen worden. Das Urteil des italienischen Oberlandesgerichts trage den rechtswidrigen Verwaltungsakt in sich. Somit verstoße die Vollstreckung aus diesem Urteil gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung. Daraufhin sei das Urteil des italienischen Oberlandesgerichts auch von einem deutschen Gericht überprüfbar. Einen Steuerbescheid (sog. Iscrizione a Ruolo) habe die italienische Zollverwaltung nie erlassen. Gegenstand der gerichtlichen Verfahren in Italien sei lediglich eine Zahlungsaufforderung gewesen (sog. Ingiunzione di Pagamento). Selbst nach italienischem Recht setze die Vollstreckung einen nicht angefochtenen oder einen für vollstreckbar erklärten Steuerbescheid voraus.

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Das HZA schließt sich der Auffassung des FG an. Bei der Prüfung, ob ein ausländisches Urteil oder ein ausländischer Vollstreckungstitel der öffentlichen Ordnung widerspreche, sei nicht auf den nationalen ordre public, sondern auf den großzügigeren ordre public international abzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs --BGH-- (Urteil vom 21. April 1998 XI ZR 377/97, BGHZ 138, 331) sei maßgeblich, ob das Ergebnis ausländischen Rechts im konkreten Fall zu den Grundgedanken der deutschen Regelung und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehe, dass es nach deutscher Vorstellung untragbar erscheine. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH zur ordre public Klausel in Art. 27 Nr. 1 des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Übereinkommen 72/454/EWG) vom 27. September 1968 (ABlEG 1972, Nr. L 299/32) komme die Anwendung dieser Klausel nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Staat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stünde. Das Gericht des Vollstreckungsstaats habe grundsätzlich davon auszugehen, dass das in jedem Vertragsstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem den Rechtsbürgern eine ausreichende Garantie biete. Im Streitfall sei der Gehörsanspruch der Klägerin nicht verletzt worden, so dass ein Verstoß gegen den ordre public nicht vorliege. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin als Spedition Erfahrungen im internationalen Verkehr habe. Sie hätte das ihr von der deutschen Zollverwaltung zugestellte Schriftstück umgehend übersetzen und dessen Bedeutung rechtzeitig erkennen müssen. Die relativ kurze Rechtsbehelfsfrist von 14 Tagen sei für jemanden, der am geschäftlichen Verkehr teilnehme, nicht unzumutbar.

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Ob die italienische Zahlungsaufforderung eine Rechtsbehelfsbelehrung hätte enthalten müssen, sei allein nach italienischem Recht zu beantworten. Die Zustellung sei im Rahmen der internationalen Amtshilfe erfolgt, nämlich nach dem Übereinkommen vom 7. September 1967 zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden über gegenseitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen (BGBl II 1969, 66). Aus Art. 17 dieses Übereinkommens lasse sich nicht entnehmen, dass der italienischen Zahlungsaufforderung eine Übersetzung in die deutsche Sprache hätte beigefügt werden müssen. Schließlich habe die Klägerin in Italien den Rechtsweg beschritten. Für die Überprüfung des Vollstreckungstitels einschließlich seiner Zustellung seien weiterhin ausschließlich die italienischen Behörden zuständig. Es könne sein, dass durch die in Italien durchgeführten Gerichtsverfahren ein etwaiger Mangel aufgrund der fehlenden Übersetzung geheilt worden sei.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision der Klägerin ist begründet und führt zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Zurückverweisung der Sache an dieses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO). Das FG hat verkannt, dass die Bestimmungen der RL 76/308/EWG einer im Streitfall gebotenen Prüfung auf einen Verstoß gegen den ordre public nicht entgegenstehen.

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1. Gemäß der in Art. 12 RL 76/308/EWG festgelegten Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten ist ein Rechtsbehelf gegen die Forderung oder den Vollstreckungstitel in dem Mitgliedstaat einzulegen, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat; dagegen sind Rechtsbehelfe gegen Vollstreckungsmaßnahmen der ersuchten Behörde in dem Mitgliedstaat einzulegen, in dem sich die ersuchte Behörde befindet. Die Zuweisung der Zuständigkeiten trägt dem Umstand Rechnung, dass der Steuerbescheid und der Vollstreckungstitel nach den Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaats erlassen bzw. erwirkt worden sind, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat. Auf den nationalen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, der um die Vollstreckung ersucht wird, beruhen die von diesem durchzuführenden Vollstreckungsmaßnahmen. Wie der EuGH entschieden hat, erlaubt es diese Zuständigkeitsverteilung der ersuchten Behörde grundsätzlich nicht, die Wirksamkeit und die Vollstreckbarkeit der Handlung oder der Entscheidung, um deren Zustellung von der ersuchenden Behörde ersucht wird, in Frage zu stellen (EuGH-Urteil in EuZW 2010, 146).

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Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht ausnahmslos. Der EuGH hat anerkannt, dass in besonderen Fällen die Instanzen des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, zur Prüfung befugt sind, ob die Vollstreckung dieses Titels insbesondere die öffentliche Ordnung dieses Mitgliedstaats beeinträchtigte, und dass sie auch die Befugnis haben, gegebenenfalls die Gewährung der Unterstützung ganz oder teilweise zu versagen oder sie von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängig zu machen. Es sei kaum denkbar, dass ein Vollstreckungstitel von einem Mitgliedstaat vollstreckt werde, wenn diese Vollstreckung seine öffentliche Ordnung beeinträchtigen könnte. Im Übrigen sei die Einrede der öffentlichen Ordnung in Art. 4 Abs. 3 RL 76/308/EWG ausdrücklich vorgesehen (EuGH-Urteil in EuZW 2010, 146). Daraus folgt, dass allein die Übermittlung eines --evtl. gerichtlich bestätigten-- ausländischen Steuerbescheids oder Vollstreckungstitels eine Überprüfung auf einen Verstoß gegen den ordre public nicht ausschließt (zu einer entsprechenden Befugnis des Gerichts bei Anwendung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Rechts- und Amtshilfe in Zoll-, Verbrauchsteuer- und Monopolangelegenheiten vom 11. September 1970 --RHV-- vgl. Senatsentscheidung vom 21. Februar 1978 VII R 49/74, BFHE 124, 480).

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Das FG hat diese Prüfung zu Unrecht unterlassen, obwohl der von der Klägerin vorgetragene Sachverhalt dazu Anlass gegeben hätte. Die vom FG getroffenen Feststellungen erlauben es dem erkennenden Senat auch nicht zu entscheiden, dass durch die Vollstreckung der ordre public nicht beeinträchtigt würde.

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2. Der Begriff der öffentlichen Ordnung wird durch die RL 76/308/EWG nicht definiert. Anhaltspunkte für seine Deutung lassen sich den entsprechenden Regelungen in internationalen Abkommen und der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung entnehmen. Eine Art. 4 Abs. 3 RL 76/308/EWG vergleichbare ordre public Klausel findet sich in mehreren Vollstreckungs- und Rechtshilfeabkommen.

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a) Art. 27 Nr. 1 des Übereinkommens 72/454/EWG bestimmt, dass eine Entscheidung nicht anzuerkennen ist, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widerspräche. In Bezug auf diese Regelung hat der EuGH ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten selbst festlegen könnten, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben. Allerdings komme eine Anwendung der Klausel nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stünde. Damit das Verbot der Nachprüfung der ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit gewahrt bleibe, müsse es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln, so dass mögliche Rechtsfehler nicht ausreichten (EuGH-Urteil vom 11. Mai 2000 C-38/98, Slg. 2000, I-2973).

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b) Auch deutsche Revisionsgerichte haben in mehreren Entscheidungen zur Auslegung und zum Anwendungsbereich von ordre public Klauseln Stellung genommen. Gemäß Art. 4 RHV kann Rechts- und Amtshilfe u.a. verweigert werden, wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, die Erledigung des Ersuchens sei geeignet, die öffentliche Ordnung (ordre public) zu beeinträchtigen. Wie der Senat entschieden hat, eröffnet diese Klausel für das FG die Möglichkeit zur Prüfung, ob für die deutsche Behörde ein Anlass bestanden hätte, der ersuchenden österreichischen Behörde die Rechts- und Amtshilfe zu verweigern, etwa wegen begründeter Bedenken gegen die Rechtsstaatlichkeit des österreichischen Verfahrens bei der Entscheidung über den Anspruch oder seine Vollstreckbarkeit und wegen der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber ihren Bürgern aus den Grundrechtsvorschriften der Art. 1 bis 19 sowie der Art. 101 und 103 GG (Senatsurteil in BFHE 124, 480, 484).

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In Bezug auf Art. 2 Nr. 1 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen, Vergleichen und öffentlichen Urkunden in Zivil- und Handelssachen vom 6. Juni 1959 (BGBl II 1960, 1246) hat der BGH geurteilt, dass nicht auf den ordre public interne, sondern auf den großzügigeren anerkennungsrechtlichen ordre public international abzustellen sei. Mit diesem sei ein ausländisches Urteil nicht schon dann unvereinbar, wenn der deutsche Richter --hätte er den Prozess entschieden-- aufgrund zwingenden deutschen Rechts zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Maßgeblich sei vielmehr, ob das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts im konkreten Fall zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehe, dass es nach deutscher Vorstellung untragbar erscheine (BGH-Urteile in BGHZ 138, 331, und vom 4. Juni 1992 IX ZR 149/91, BGHZ 118, 312).

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Hinsichtlich des verfahrensrechtlichen ordre public in Art. 34 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen bzw. Art. 5 Nr. 1 des Haager Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 2. Oktober 1973 hat der BGH bestätigt, dass der Vorbehalt des ordre public nur in Ausnahmefällen eingreife. Eine Vollstreckbarerklärung könne insbesondere nicht schon deshalb versagt werden, weil die ausländische Entscheidung in einem Verfahren erlassen worden sei, das von zwingenden Vorschriften des deutschen Prozessrechts abweiche. Ein Versagungsgrund sei vielmehr nur dann gegeben, wenn das Urteil des ausländischen Gerichts aufgrund eines Verfahrens ergangen sei, das von den Grundsätzen des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maß abweiche, dass es nicht als in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren ergangen angesehen werden könne (BGH-Urteil vom 26. August 2009 XII ZB 169/07, BGHZ 182, 188; hinsichtlich der Anerkennung ausländischer Schiedssprüche BGH-Urteil vom 15. Mai 1986 III ZR 192/84, BGHZ 98, 70).

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3. Im Streitfall rügt die Revision zu Recht, dass das FG zu Unrecht einen Verstoß gegen den ordre public nicht in Betracht gezogen, sondern sich mit der Feststellung begnügt hat, dass es sich bei dem Urteil des italienischen Oberlandesgerichts um einen Vollstreckungstitel handele und die Klägerin den Rechtsweg in Italien ausgeschöpft habe.

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Der Senat hält es daher für geboten, die Sache an das FG zurückzugeben, um diesem eine erneute Prüfung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu ermöglichen.

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Unter Berücksichtigung der dargestellten Rechtsprechung zum Begriff der öffentlichen Ordnung (ordre public) wird das FG im zweiten Rechtsgang den Vollstreckungstitel daraufhin zu überprüfen haben, ob eine Vollstreckung in Deutschland die öffentliche Ordnung beeinträchtigte. Dies wäre dann anzunehmen, wenn der Vollstreckungstitel in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zu grundlegenden Prinzipien der deutschen Rechtsordnung stünde, so dass das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts nach deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen untragbar erschiene. Dabei wird es nach Auffassung des erkennenden Senats entscheidend darauf ankommen, ob die Rechtsvorgängerin der Klägerin eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte erwirken können und ob sie sich in zumutbarer Weise darum bemüht hat.

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a) Im Streitfall ist einerseits zu berücksichtigen, dass es sich bei der Rechtsvorgängerin der Klägerin nicht um eine Privatperson, sondern um ein Speditionsunternehmen gehandelt hat, das in die Gemeinschaft eingeführte Waren durch mehrere Staaten --u.a. auch durch Italien-- beförderte. Von einem solchen Unternehmen kann erwartet werden, dass einem von den deutschen Zollbehörden zugestellten Schreiben, selbst wenn es in italienischer Sprache abgefasst ist, Beachtung geschenkt wird. Denn die Annahme ist nicht fernliegend, dass es in Verbindung mit einer geschäftlichen Transaktion, z.B. mit einem grenzüberschreitend durchgeführten Transport, steht. Die Rechtsvorgängerin der Klägerin hätte demnach nicht untätig bleiben, sondern sich in angemessener Zeit um eine Übersetzung bemühen müssen, um zeitnah Kenntnis vom Inhalt des Schriftstücks zu erlangen. Den Inhalt des Schreibens hätte sie schließlich zum Anlass nehmen müssen, weitere Erkundigungen einzuziehen. Andererseits ist im Streitfall jedoch dem Umstand besondere Beachtung zu schenken, dass ausweislich der deutschen Übersetzung des Urteils des italienischen Oberlandesgerichts die Frist für die Anfechtung eines "Zahlungsbefehls in Zollsachen" mit 15 Tagen relativ kurz bemessen war. Zudem geht es um die Anwendung ausländischen Rechts und um Zollrecht, einer speziellen und nicht leicht verständlichen Materie des Abgabenrechts. Die fehlende Übersetzung und die fehlende Rechtsmittelbelehrung lassen eine Fristüberschreitung entschuldbar erscheinen, so dass nach deutschem Rechtsverständnis eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht gekommen wäre.

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Für das Strafbefehlsverfahren hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass ein der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtiger Ausländer, dem ein Strafbefehl in deutscher Sprache ohne eine verständliche Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs zugestellt worden ist, im Falle des Fristversäumnisses nicht anders behandelt werden kann, als wenn die Rechtsmittelbelehrung unterblieben ist mit der Folge, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden muss (BVerfG-Beschlüsse vom 10. Juni 1975  2 BvR 1074/74, BVerfGE 40, 95, und vom 7. April 1976  2 BvR 728/75, BVerfGE 42, 120). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) darf eine unzureichende Kenntnis der deutschen Sprache nicht dazu führen, dass der Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör verkürzt wird; deshalb sind Sprachschwierigkeiten des Beteiligten bei der Prüfung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand angemessen zu berücksichtigen (BFH-Beschluss vom 21. Mai 1997 VII S 37/96, BFH/NV 1997, 634).

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Aus den Akten geht indes nicht hervor, innerhalb welchen Zeitraums sich die Klägerin um eine Übersetzung der Zahlungsaufforderung und um die für die Einlegung des Rechtsbehelfs erforderlichen Rechtsauskünfte bemüht hat. Feststellungen hierzu hat das FG nicht getroffen. Im zweiten Rechtsgang wird das FG deshalb den Fragen nachgehen müssen, ob nach italienischem Recht die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bestanden hat, ob und innerhalb welchen Zeitraums die Rechtsvorgängerin der Klägerin einen entsprechenden Antrag gestellt und Gründe für eine unverschuldete Fristversäumung geltend gemacht hat und ob diese Einwendungen von den italienischen Behörden bzw. Gerichten berücksichtigt worden sind.

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Sollte eine Art Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach italienischem Recht überhaupt nicht möglich gewesen sein, ist der erkennende Senat der Auffassung, dass ein Verstoß gegen den ordre public vorliegt, der einer Vollstreckung der geltend gemachten Forderung entgegenstünde. Das Gleiche gilt, wenn sich herausstellen sollte, dass ein substantiiert und zeitnah gestellter Antrag, die Fristversäumnis zu entschuldigen, weil sie darauf beruhe, dass sich die Klägerin trotz aller entsprechenden zumutbaren Bemühungen Kenntnis vom Inhalt der ihr zugestellten italienischen Zahlungsaufforderung nicht habe verschaffen können, unbeachtet geblieben ist. In diese Richtung deutet der Senat das Vorbringen der Klägerin in der Tatsacheninstanz. Der Vortrag der Klägerin hätte das FG daher veranlassen müssen, dieser Frage nachzugehen.

23

b) Die fehlende Rechtsbehelfsbelehrung allein hält der erkennende Senat indes nicht für ausreichend, um einen Verstoß gegen den ordre public zu begründen (vgl. zum Erfordernis einer Rechtsmittelbelehrung nach deutscher höchstrichterlicher Rechtsprechung in Sachen, die kein Steuerrecht betreffen und deshalb auf den Streitfall nicht übertragen werden können, Entscheidungen des BVerfG vom 20. Juni 1995  1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99; vom 28. Juli 1998  1 BvR 781/94, Zeitschrift für offene Vermögensfragen 1998, 339, und vom 30. Januar 1991  2 BvR 712/90, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1991, 766, sowie Urteile des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 27. Februar 2003  1 AK 29/02, Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht 2004, 199, und des OLG Zweibrücken vom 7. August 2006  1 Ausl 16/05, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2007, 109).

24

c) Auch die fehlende Übersetzung der Zahlungsaufforderung reicht für sich allein für die Annahme eines Verstoßes gegen den ordre public nicht aus, zumal das FG im Streitfall nicht festgestellt hat, nach welchen Vorschriften die Zustellung bewirkt worden ist und die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in den Blick genommen wurde. Ergänzend bemerkt der Senat, dass dem Urteil des EuGH in EuZW 2010, 146 eine Pflicht des um Rechtshilfe ersuchenden Mitgliedstaats zur Übersetzung eines an in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Abgabenpflichtigen gerichteten Verwaltungsakts nicht zu entnehmen ist. Vielmehr hat der EuGH lediglich darauf hingewiesen, dass die Funktion der rechtzeitigen Zustellung nach Art. 5 RL 76/308/EWG darin bestehe, den Empfänger in die Lage zu versetzen, Gegenstand und Grund des zugestellten Rechtsakts zu verstehen und seine Rechte geltend zu machen. Da der Empfänger des Vollstreckungstitels in der Lage sein müsse, zumindest den Gegenstand und den Grund des Antrags mit Bestimmtheit zu identifizieren, müsse die Zustellung in einer Amtssprache des Mitgliedstaats erfolgen, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat. Begründet hat der EuGH diese Auffassung mit dem Ziel der Beitreibungsrichtlinie, insbesondere die wirksame Durchführung der Zustellung von Verfügungen und Entscheidungen zu gewährleisten. Im Streitfall war dem Vollstreckungstitel, dem Urteil des italienischen Oberlandesgerichts, eine deutsche Übersetzung beigefügt.

25

d) Hingeben kann dem Argument des HZA nicht gefolgt werden, dass die Vollstreckung bereits deshalb keinen rechtlichen Bedenken begegnet, weil das Urteil des italienischen Oberlandesgerichts in deutscher Sprache vorliege und es deshalb auf die Rechtmäßigkeit der Zahlungsaufforderung nicht mehr ankommen könne. Der Übersetzung des Urteils des italienischen Oberlandesgerichts ist zu entnehmen, dass sich das Gericht mit der Rechtmäßigkeit der Zahlungsaufforderung überhaupt nicht befasst, sondern seine Entscheidung ausschließlich auf die Verfristung des Rechtsbehelfs gestützt hat. Es hat hierzu ausgeführt, dass es in erster Linie notwendig sei, den letzten Anfechtungsgrund zu prüfen, "da dieser im Wesentlichen die Frage der Fristmäßigkeit des erhobenen Widerspruchs gegen den Zahlungsbefehl" betreffe, bei welcher der erstinstanzliche Richter zu einem negativen Ergebnis gekommen sei und diese Frage präjudiziellen Charakter zu den anderen in der Berufungsklage erwähnten Punkten habe. Zu einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat das Gericht offensichtlich keine Stellung bezogen. Damit ist das Urteil grundsätzlich geeignet, etwaige nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht hinnehmbare Mängel des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens (evtl. Ausschluss der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) zu perpetuieren. In diesem Fall stünde auch das die Verwaltungsentscheidung bestätigende Urteil in einem solch starken Widerspruch zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen, dass die Vollstreckung auf Grundlage eines solchen Titels untragbar erschiene, so dass sie unter Berufung auf den ordre public zu verweigern wäre.

26

Dem Urteil des italienischen Oberlandesgerichts ist allerdings nicht zu entnehmen, ob die Vorinstanz das Vorliegen von Wiedereinsetzungsgründen, sollten sie überhaupt geltend gemacht worden sein, geprüft hat, so dass das italienische Oberlandesgericht überhaupt Anlass hatte, auf diese Frage einzugehen. Auch dies wird im zweiten Rechtsgang zu klären sein.

Urteilsbesprechung zu Bundesfinanzhof Urteil, 03. Nov. 2010 - VII R 21/10

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(3) Macht die Finanzbehörde im Insolvenzverfahren einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis als Insolvenzforderung geltend, so stellt sie erforderlichenfalls die Insolvenzforderung durch schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsakt fest.

(1) Ist die Revision unzulässig, so verwirft der Bundesfinanzhof sie durch Beschluss.

(2) Ist die Revision unbegründet, so weist der Bundesfinanzhof sie zurück.

(3) Ist die Revision begründet, so kann der Bundesfinanzhof

1.
in der Sache selbst entscheiden oder
2.
das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
Der Bundesfinanzhof verweist den Rechtsstreit zurück, wenn der in dem Revisionsverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Beigeladene ein berechtigtes Interesse daran hat.

(4) Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision zurückzuweisen.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesfinanzhofs zugrunde zu legen.

(6) Die Entscheidung über die Revision bedarf keiner Begründung, soweit der Bundesfinanzhof Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Das gilt nicht für Rügen nach § 119 und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruhe. Soweit im Fall des § 33 Abs. 1 Nr. 4 die Vorschriften dieses Unterabschnitts durch Landesgesetz für anwendbar erklärt werden, kann die Revision auch darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Landesrecht beruhe.

(2) Der Bundesfinanzhof ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(3) Wird die Revision auf Verfahrensmängel gestützt und liegt nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 vor, so ist nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden. Im Übrigen ist der Bundesfinanzhof an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden.

(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Belgien wird für nicht zulässig erklärt.

2. Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 21. Oktober 2002 wird aufgehoben. Die sofortige Freilassung des Verfolgten wird angeordnet.

3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Auslieferungsverfahrens und die dem Verfolgten in diesem Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

4. Eine Entschädigung für die erlittene Auslieferungshaft wird nicht bewilligt.

Gründe

 
I.
Der sich seit 14. September 2002 in Auslieferungshaft befindliche Verfolgte wurde durch Versäumnisurteil des Correctionele Rechtsbank des Gerichtsbezirks H. - 18. Kammer - vom 22. November 1996 in Abwesenheit wegen Betruges zu einer Gesamthaftstrafe von fünf Jahren verurteilt, weil er als Mitinhaber der Firma S. am Abtransport betrügerisch erlangter Waren aus Belgien mitgewirkt haben soll. Zu der am 18. Oktober 1996 begonnenen Verhandlung, bei welcher der Verfolgte weder durch einen Verteidiger seiner Wahl noch durch einen vom Gericht bestellten Verteidiger vertreten war, wurde der in den Niederlanden unter der Anschrift G-plein, Mas. wohnhafte Verfolgte durch Einschreibebrief des Strafgerichts in H. geladen, welcher mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ wieder an die belgischen Behörden zurück gelangte. Das schriftliche Urteil, welches nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen war, wurde dem Verfolgten am 06. Februar 1997 durch die Polizei in Mas./Holland persönlich zugestellt, wobei der Verfolgte die Entgegennahme durch seine Unterschrift bestätigte. Der die festgestellten Betrugsstraftaten bestreitende Verfolgte hat sich im Auslieferungsverfahren dahingehend eingelassen, er habe weder von den gegen ihn in Belgien geführten Ermittlungen noch von der Hauptverhandlung vor der Correctionele Rechtsbank des Gerichtsbezirks H. gewusst.
Aufgrund dieser Einlassung hat der Senat mit Beschlüssen vom 21. November 2002 und 20. Januar 2003 bei den belgischen Behörden auf eine weitere Aufklärung des Sachverhalts hingewirkt. Zu den von der Staatsanwaltschaft des Prokurators des Königs in H. übermittelten Erklärungen vom 20. Dezember 2002, 24. Dezember 2002 und 07. Februar 2003 ist den Verteidigern des Verfolgten rechtliches Gehör gewährt worden.
Diese haben beantragt, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, da das in Belgien ergangene Versäumnisurteil nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland genüge und die belgischen Behörden keine Zusicherung der Gewährleistung eines neuen Verfahrens nach Art. 3 des 2. Zusatzprotokolles vom 17. März 1978 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 abgegeben hätten.
II.
Die Auslieferung des Verfolgten nach Belgien kann nicht für zulässig erklärt werden, weil dieser vorliegend ein Auslieferungshindernis entgegensteht (§ 73 IRG).
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Auslieferungsersuchens grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Findet jedoch eine Strafverhandlung in Abwesenheit eines Verfolgten statt, so besteht die Pflicht zu untersuchen, ob die begehrte Auslieferung mit dem nach Art. 25 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist. Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) Ausprägung gefunden haben, dass niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf. Daraus ergibt sich für das Strafverfahren das zwingende Gebot, dass ein Verfolgter im Rahmen der von der Verfahrensordnung des ausländischen Staates aufgestellten angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich nutzen können muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen. Danach ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils insbesondere dann unzulässig, wenn der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des ihn betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm die Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (BVerfG NJW 1991, 1411 f.; BGH 47, 120 ff.).
Die Beantwortung der Frage der Zulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils hängt dabei entscheidend von den konkreten Umständen des Einzelfalles und davon ab, ob und in welchem Umfang die in einem bestimmten Abwesenheitsverfahren ergangene Verurteilung gegen übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze verstößt. Hatte der Verfolgte mangels konkreter Kenntnis von der Durchführung des gegen ihn gerichteten ausländischen Strafverfahrens und anstehender Hauptverhandlungstermine die Möglichkeit rechtlichen Gehörs und Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte nicht und wurde er in Abwesenheit verurteilt, so liegt ein durchgreifender rechtlicher Mangel vor, welcher - von der Möglichkeit der Heilung durch ein neues Verfahren abgesehen - eine Auslieferung zum Zwecke der Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils unzulässig macht.
Für einen Verfolgten, welcher sich jedoch einem ausländischen Strafverfahren willentlich entzieht und der Hauptverhandlung bewusst fernbleibt, besteht im Auslieferungsverfahren ein solcher weitgehender Rechtsschutz nicht (Senat NStZ 1983, 226 f.; Beschlüsse vom 29. Oktober 2001 - 1 AK 12/01 - 16. Januar 2002 - 1 AK 28/01 -; OLG Düsseldorf StV 1999, 270 ff.; OLG Hamm StraFo 2000, 422 ff. Uhlig/Schomburg/Lagodny, IRG, 3. Aufl. 1998, § 73 Rn. 77). So liegt ein Verstoß gegen völkerrechtliche Mindeststandards jedenfalls dann nicht vor, wenn der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte (BVerfG NJW 1991, 404 f.). Hatte der Verfolgte aber nicht einmal Kenntnis von der förmlichen Einleitung eines gegen ihn gerichteten Verfahrens und musste sich daher nicht auf die Erhebung strafrechtlicher Vorwürfe einrichten, so würde die anschließende Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens gegen allgemein anerkannte Grundsätze verstoßen, wenn dem Verfolgten keine ausreichende Kenntnis von weiteren gerichtlichen Terminen verschafft wird (OLG Düsseldorf StV 1999 270 f.).
1. Die Einlassung des Verfolgten, er habe vor dem Hauptverhandlungstermin von dem Verfahren keine Kenntnis gehabt, kann ihm nicht widerlegt werden. Der Senat hat aufgrund der eingeholten Stellungnahmen der belgischen Justizbehörden keine sichere und nachweisliche Überzeugung (vgl. hierzu Uhlig/Schomburg/Lagodny, a.a.O., Rn. 82 m.w.N.) davon gewinnen können, dass der Verfolgte vor dem Hauptverhandlungstermin von den gegen ihn geführten Ermittlungen gewusst und sich deshalb dem weiteren Verfahren bewusst entzogen hat.
Zwar hat der vormalige belgische Untersuchungsrichter in Hasselt bereits am 25. Juni 1996 ein Rechtshilfeersuchen an die Staatsanwaltschaft in Mas./Holland geschickt, zu einer Einvernahme des Verfolgten kam es dort aber erst am 20. Dezember 1996, mithin zu einem Zeitpunkt, als in Belgien am 22. November 1996 das Strafurteil bereits gefällt worden war.
10 
Die an den Verfolgten gerichteten Einschreibesendungen der belgischen Justizbehörden vom 21. August 1996 (Mitteilung der Verdachtsgründe), 20. September 1996 (Behandlung der Sache durch Ratskammer) und 04. Oktober 1996 (Verweisung an Strafkammer und Mitteilung der Anschuldigungsschrift) kamen mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ zurück, so dass ihm der Inhalt der Schriftstücke nicht zu Kenntnis kam.
11 
Soweit eine Einschreibesendung vom 14. August 2002, in welcher der Untersuchungsrichter in H. den Verfolgten zu einem Anhörungstermin am 21. August 1996 geladen hatte, nicht mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ an die belgischen Justizbehörden zurückgegeben wurde, reicht dies nicht aus, um die Einlassung des Verfolgten zu widerlegen und hieraus ein sicheren Schluss auf die Kenntnis des Verfolgten von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu gewinnen. So ist es - selbst wenn das Schriftstück in seinen Einflussbereich gelangt wäre - nicht auszuschließen, dass dieses von einer anderen Person entgegengenommen und nicht weitergereicht wurde. Einen Nachweis, dass der Verfolgte den Brief persönlich entgegengenommen hat, haben die belgischen Behörden nicht vorgelegt. Überdies ist nicht geklärt, ob die Ladung eine nähere Mitteilung der erhobenen Vorwürfe enthielt. Auch die Nichtabholung der späteren Einschreibesendungen lässt - trotz durchaus indizieller Wirkung eines solchen Verhaltens - nicht mit der notwendigen Sicherheit darauf schließen, dass der Verfolgte nach Erhalt des ersten Schreibens keine weiteren Briefe mehr aus Belgien entgegennehmen wollte. Insoweit ist nämlich zu sehen, dass ein solches Verhalten viele Ursachen haben kann und bei einem Fuhrunternehmer auch längere zeitliche Abwesenheiten von zuhause nicht ungewöhnlich wären.
12 
Da auch eine Unterrichtung des Verfolgten über den Termin zur Hauptverhandlung auf dem Weg der Rechtshilfe, wie etwa bei der später veranlassten Zustellung des Urteils durch persönliche Übergabe der Urkunde, nicht erfolgt ist, genügt das Abwesenheitsurteil vorliegend nicht den nach den in der Bundesrepublik Deutschland zu beachtenden Mindestanforderungen, die an ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren zu stellen sind.
13 
2. Auch eine Heilung dieses Mangels ist vorliegend nicht möglich.
14 
Dabei geht der Senat in Übereinstimmung mit dem von der Verteidigung vorgelegten Rechtsgutachten von Prof. V. von der Katholischen Universität in L./Belgien vom 11. Februar 2003 zunächst davon aus, dass das Versäumnisurteil des Correctionele Rechtsbank des Gerichtsbezirks H. - 18. Kammer - vom 22. November 1996 rechtskräftig ist, weil der Verfolgte entgegen Art. 187 der belgischen Strafprozessordnung gegen das Urteil nicht binnen einer Frist von fünfzehn Tagen Einspruch eingelegt hat, nachdem ihm dieses am 06. Februar 1997 durch die Polizei in Mas. durch persönliche Übergabe zugestellt worden war. Obwohl den belgischen Justizbehörden diese Rechtsansicht im Senatsbeschluss vom 20. Januar 2003 mitgeteilt wurde, haben sie in ihrer Stellungnahme vom 07.02.2003 weder rechtliche Argumente zur Entkräftung dieser Bewertung beigebracht noch eine Zusicherung entsprechend des Art. 3 des 2. Zusatzprotokolles vom 17. März 1978 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 abgegeben.
15 
Allerdings wäre bei einem Abwesenheitsurteil eine Auslieferung auch dann als zulässig anzusehen, wenn dem Verfolgten generell die Möglichkeit eröffnet gewesen wäre, sich nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam verteidigen zu können (BGHSt 47, 120 ff.; BVerfG NJW 1991, 404 f.). Die dem Verfolgten nach Art. 187 der belgischen Strafprozessordnung eingeräumte Möglichkeit des Einspruchs reichte in der derzeitigen Gesetzesfassung (vgl. hierzu aber Grützner/Pötz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Loseblattkommentar, 2. Auflage 1984, § 73 IRG unter Hinweis auf BGHSt 20,198 ff.) jedenfalls in vorliegender Sache zur Wahrung der angemessenen Verteidigungsrechte des Verfolgten nicht aus. Zwar handelt es sich bei dieser Norm um eine Bestimmung, welche bei ordnungsgemäßer Einlegung das Verfahren wieder in den ursprünglichen Zustand vor Ergehen des Abwesenheitsurteils zurückversetzt. Nach Auffassung des Senats beinhaltet die vom Bundesverfassungsgericht (NJW 1991, 404 f.) geforderte tatsächlich wirksame Möglichkeit der Gehörverschaffung aber auch, dass ein Verfolgter um die ihm zustehenden Rechte weiß bzw. zumindest wissen kann und dieser „nachträgliche Rechtsschutz“ im Sinne eines einfachen Rechtsmittels auch handhabbar ist, mithin der Verfolgte nicht wegen Besonderheiten der jeweiligen Verfahrensordnung trotz der generellen Gewährleistung sein Recht nicht effektiv wahrnehmen kann.
16 
Warum der Verfolgte gegen das Versäumnisurteil der Correctionele Rechtsbank des Gerichtsbezirks H. - 18. Kammer - vom 22. November 1996 keinen Einspruch eingelegt hat, vermochte der Senat nicht abschließend zu klären. Aufgrund seiner schriftlichen Einlassung vom 17.12.2002, er habe einen belgischen Anwalt vergeblich mit der Wahrung seiner Rechte beauftragt, kann jedoch zumindest angenommen werden, dass er mit der erfolgten Verurteilung auch zum damaligen Zeitpunkt nicht einverstanden war und einzuhaltende Fristen möglicherweise aus Unkenntnis versäumt hat. Eine Rechtsmittelbelehrung war dem Urteil nicht beigefügt. Zwar sieht das belgische Recht die Übermittlung einer solchen nicht vor, vorliegend kommt es jedoch allein darauf an, ob das „Nachverfahren“ tatsächlich ausreichend die Rechte des Verfolgten auf ein faires Verfahren sichert. Insoweit schließt sich der Senat der Auffassung mehrerer anderer Oberlandesgerichte an, welche hierfür die Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung für unerlässlich halten (OLG Düsseldorf NStZ 1987, 466 f.; OLG Bamberg, Beschluss vom 13.12.1984 - 3 AR 30/84 = E/L/W U 99; OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.1986, -6- 4 Ausl. 27/78 = E/L/W U 140; Uhlig/Schomburg/Lagodny, a.a.O., § 73 Rn. 85 m.w.N.).
17 
Eine solche Unterrichtung wäre vorliegend auch deshalb erforderlich gewesen, weil es sich bei dem Einspruch nach Art. 187 der belgischen Strafprozessordnung nach der derzeit gültigen Fassung keineswegs um einen nach Form und Frist „einfach gelagerten Rechtsbehelf“ handelt. So unterscheidet das belgische Recht zwischen „einfachem“ und „außer-ordentlichem“ Einspruch, wobei für beide eine Einspruchsfrist von fünfzehn Tagen vorgesehen ist. Wird das Urteil nicht durch persönliche Übergabe zugestellt („außerordentlicher Einspruch“), dann beginnt die Einspruchsfrist ab Kenntnis vom Ergehen des Versäumnisurteils, wobei keine Abschrift der Entscheidung ausgehändigt sein muss. Nach den von den belgischen Behörden weiter übermittelten Erklärungen und Gesetzesauskünften ist die Einlegung des Einspruchs auch formgebunden. Er muss mittels Zustellungsurkunde durch einen Gerichtsvollzieher übermittelt werden, wobei Verzögerungen der Zustellung durch den Gerichtsvollzieher zu Lasten des Verfolgten gehen. Lediglich bei Inhaftierung einer Person kann dieser auch durch einfache Erklärung gegenüber dem Gefängnisdirektor geltend gemacht werden, wenn der Verhaftete nicht über die Geldmittel zur Bezahlung des Gerichtsvollziehers verfügt.
18 
Bei dieser Sachlage kann der Senat nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass dem Verfolgten als in Mas. wohnhaften niederländischen Staatsbürger das in Belgien gültige Recht derart bekannt gewesen sein könnte, dass er auch ohne Rechtsmittelbelehrung zeitgerecht (BGHSt 47, 120 ff.) seine Rechte hätte wirksam wahrnehmen können.
III.
19 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 IRG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.
20 
Dagegen scheidet eine Entschädigungspflicht nach dem Gesetz über die Entschädigung in Strafverfolgungssachen der Staatskasse für die vollzogene Auslieferungshaft aus, weil eine entsprechende Anwendung dieses Gesetzes auf die Auslieferungshaft grundsätzlich ausgeschlossen ist (BGHSt 32, 221 ff.) und ein Fall, in welchem Behörden der Bundesrepublik Deutschland die nach deutschem Recht unberechtigte Verfolgung zu vertreten hätten, nicht vorliegt (OLG Hamm StraFo 1997, 93 ff.; BVerfG, Beschluss vom 05. Juni 1992, 2 BvR 1403/91).