I.
Die Klägerin, eine nach eigenen Angaben am ... 1995 in … in Äthiopien geborene somalische Staatsangehörige, wurde am 21. April 2014 am Grenzübergang Bad Reichenhall auf der Bundesautobahn Salzburg – München polizeilich aufgegriffen. Sie meldete sich unter Vorlage einer ungarischen Asylkarte als asylsuchend.
Am 2. Mai 2014 beantragte die Klägerin Asyl. In dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gab die Klägerin an, sie habe ihr Herkunftsland im Dezember 2013 verlassen und sei zunächst per Flugzeug in den Iran gereist, dann auf dem Landweg weiter über die Türkei, Griechenland, Albanien, Montenegro, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Fingerabdrücke seien ihr in Griechenland und Ungarn abgenommen worden. Asyl habe sie jedoch nirgendwo beantragt. Sie sei allein gereist.
Eine EURODAC-Abfrage am 3. Juni 2014 ergab einen Treffer für Griechenland (Blatt 59 der Bundesamtsakte).
Unter dem 11. Juli 2014 wurde ein Informationsersuchen nach Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, 31 - Dublin-III-Verordnung) an Ungarn gestellt. Darauf antworteten die ungarischen Behörden unter dem 15. Juli 2014, dass die Klägerin unter den angegebenen Personalien am 22. April 2014 in Ungarn einen Asylantrag gestellt habe. Das Asylverfahren sei am 8. Mai 2014 eingestellt worden, weil die Klägerin untergetaucht sei.
Auf das Übernahmeersuchen vom 21. Juli 2014 erklärten die ungarischen Behörden unter dem 30. Juli 2014 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1b der Dublin-III-VO ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme der Klägerin.
Mit Bescheid vom 4. August 2014 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1. des Bescheids) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 2.). Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags nach der Dublin-III-VO für die Behandlung desselben zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich. Daher werde der Asylantrag nicht materiell geprüft; die Beklagte sei verpflichtet, die Überstellung nach Ungarn als zuständigen Mitgliedstaat innerhalb der festgesetzten Fristen durchzuführen.
Hiergegen ließ die Klägerin am 12. August 2014 Klage erheben.
Auf den gleichzeitig gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 14. November 2014 (Az. M 6b S 14.50488) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet.
Unter dem 20. August 2014 erklärte der Klägerbevollmächtigte und unter dem 28. Oktober 2014 die Beklagte den Verzicht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Mit Beschluss vom 10. Dezember 2014 ordnete das Verwaltungsgericht nach Zustimmung der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens an.
Unter dem 30. Juli 2015 fragte das Verwaltungsgericht bei der Beklagten an, ob angesichts jüngerer Entwicklungen auf politischer Ebene der EU-Mitgliedstaaten zur Verteilung von Flüchtlingen am streitgegenständlichen Bescheid festgehalten werde oder ob es mittlerweile im Bundesamt Überlegungen gebe, jedenfalls in Fällen einer angeordneten Abschiebung nach Ungarn die Bearbeitung des Asylverfahrens zu übernehmen. Eine Antwort erfolgte innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist nicht.
Am 15. September 2015 wurde das Klageverfahren unter dem Az. M 6b K 15.50792 fortgeführt. Unter dem 15. Oktober 2015, dem Bundesamt zugestellt am 20. Oktober 2015, bat das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf eine Fundstelle im Internet um unverzügliche Mitteilung, ob angesichts der Tatsache, dass die Bundeskanzlerin am 7. Oktober 2015 vor dem europäischen Parlament erklärt habe, dass das Dublin-System in der jetzigen Praxis „obsolet“ und damit de facto gescheitert sei, im vorliegenden Verfahren der streitgegenständliche Dublin-Bescheid aufgehoben oder aber unverändert an diesem festgehalten werde. Eine Antwort erfolgte nicht.
Mit Urteil vom 27. Oktober 2015 hob das Verwaltungsgericht München den Bescheid des Bundesamtes vom 4. August 2014 auf und wies die Klage im Übrigen ab (Ziffer I.). Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens wurden der Beklagten auferlegt (Ziffer II.). In den Entscheidungsgründen ist im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei unzulässig, soweit die Verpflichtung der Beklagten begehrt werde, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen bzw. festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise des § 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG vorliegen. Die Anfechtungsklage sei jedoch zulässig und begründet, weil der Bescheid vom 4. August 2014 rechtswidrig sei und die Klägerin in ihren Rechten verletze. Dabei könne die Frage systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn offen bleiben, weil die Dublin-III-Verordnung derzeit – wie sich aus den allgemein zugänglichen Quellen Rundfunk, Printmedien und Internet ergebe – jedenfalls hinsichtlich mehrerer süd-/osteuropäischer Mitgliedstaaten wie Ungarn, Kroatien, Slowenien und Bulgarien sowie hinsichtlich Österreichs und letztlich auch der Bundesrepublik Deutschland als funktionslos und damit nicht (mehr) anwendbar anzusehen sei. Die Dublin-III-Verordnung werde insoweit aktuell faktisch nicht angewendet und es stehe nicht zu erwarten, dass sich dies auf absehbare Zeit ändere. Die Bundeskanzlerin habe am 7. Oktober 2015 vor dem Europäischen Parlament erklärt, dass das Dublin-System in der jetzigen Praxis „obsolet“ und damit de facto gescheitert sei. Auf einem sogenannten Brüsseler Flüchtlingsgipfel von EU-Mitgliedstaaten entlang der sogenannten Balkanroute am 25. Oktober 2015, an dem auch die Nicht-EU-Staaten Serbien, Mazedonien und Albanien teilgenommen hätten, seien unter anderem nicht nur 50.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge in Griechenland, sondern auch weitere 50.000 Aufnahmeplätze entlang dieser „Balkanroute“ vereinbart worden, um eine menschenwürdige Versorgung von Flüchtlingen entlang der gesamten West-Balkanroute sicherzustellen. Diese vom Gericht nicht zu bewertende politische Vorgehensweise bedeute jedenfalls in den betroffenen Staaten eine Abkehr von den rechtlichen Vorgaben der Dublin-III-VO. Auf diese könne der streitgegenständliche Bescheid daher nicht (mehr) gestützt werden. Es wäre auch lebensfremd zu fordern, die Klägerin solle nach Ungarn zurückkehren, nur um sich dann von dort wiederum dem derzeitigen Flüchtlingsstrom in Richtung Deutschland anzuschließen.
Mit der vom Senat (Beschluss vom 5. Januar 2016, Az. 20 ZB 15.50204) zugelassenen Berufung beantragt die Beklagte,
unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Klage abzuweisen, soweit dieser stattgegeben wurde.
Zur näheren Begründung wurde zunächst auf den angefochtenen Bescheid sowie auf die Ausführungen im Zulassungsverfahren Bezug genommen. Auch zwischenzeitlich seien keine Gründe erkennbar geworden, die etwas an der Zuständigkeit Ungarns zur Durchführung des Asylverfahrens geändert hätten oder anderweitig der Überstellungsentscheidung entgegen zu halten wären. Namentlich könne weiterhin nicht davon ausgegangen werden, dass für „Dublin-Rückkehrer“ in Ungarn systemische Schwachstellen im Asylverfahren bzw. bei den Aufnahmebedingungen für Asylsuchende bestünden.
Die Klägerin hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten wurden zur Möglichkeit einer einstimmigen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten durch einstimmigen Beschluss entscheidet (§ 130a VwGO), ist nicht begründet.
Das Verwaltungsgericht hat den streitgegenständlichen Bescheid im Ergebnis zu Recht aufgehoben, weil er im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. AsylG) rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Berufung ist deshalb zurückzuweisen.
Die Klage richtet sich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. August 2014, mit dem der Asylantrag der Klägerin als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1) und ihre Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Ziffer 2) wurde. Statthafte Klageart dagegen ist die Anfechtungsklage (BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – BVerwGE 153, 162, 1. Leitsatz und Rn. 13 – 15).
A. Der Verwaltungsgerichtshof teilt allerdings nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Dublin-III-Verordnung – jedenfalls in Bezug auf bestimmte Mitgliedstaaten wie Ungarn – funktionslos geworden sei. Die Rechtswidrigkeit und damit Ungültigkeit einer Rechtsnorm wegen Funktionslosigkeit ist in der Rechtsprechung zu Bebauungsplänen anerkannt (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.1999 – 4 BN 48.99 – juris m.w.N.). Sie beruht auf der im Grundsatz zutreffenden Überlegung, dass sich die Verbindlichkeit einer Rechtsnorm aus ihrer Ordnungsfunktion rechtfertigt, weshalb sie keine Geltung mehr beanspruchen kann, wenn sie diese Ordnungsfunktion nicht oder nicht mehr erfüllt (BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – NJW 1977, 2325, juris Rn. 31). Die Annahme eines solchen Funktionsloswerdens unionsrechtlicher Verordnungen wegen (teilweisen) faktischen Nichtvollzugs durch ein mitgliedstaatliches Gericht ist jedoch wegen der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Durchführung, d.h. zum Vollzug des europäischen Unionsrechts (1.) sowie wegen des Verwerfungsmonopols des Europäischen Gerichtshofs gegenüber Normen des abgeleiteten Unionsrechts (2.) ausgeschlossen.
1. Gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV hat die Verordnung allgemeine Geltung; sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Die Mitgliedstaaten und damit auch die mitgliedstaatlichen Gerichte sind nach Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 291 Abs. 1 AEUV verpflichtet, die Verordnung zu vollziehen, d.h. – nach dem allgemein anerkannten weiten Begriffsverständnis – ihre volle und uneingeschränkte Anwendung im Einzelfall zu gewährleisten (EuGH, U.v. 10.7.1999 – C-217/88, Tafelwein – juris Rn. 26 m.w.N.; Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rn. 79 m.w.N.; Ruffert in Calliess/Ruffert a.a.O., Art. 288 AEUV Rn. 21). Unvorhersehbare tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Vollzug einer Unionsverordnung sind deshalb nicht durch einseitige Maßnahmen eines betroffenen Mitgliedstaates, sondern im Einvernehmen mit den zuständigen Unionsorganen, insbesondere der Europäischen Kommission zu lösen (EuGH, U.v. 10.7.1999 – C-217/88, Tafelwein – juris Rn. 33). Diesen Grundsätzen widerspricht die einseitige Loslösung vom Geltungsanspruch einer Verordnung aufgrund der Annahme, diese sei funktionslos geworden (i.Erg. ebenso, jedoch ohne nähere Begr., BVerwG, U.v. 22.3.2016 – 1 C 10/15 – juris Rn. 13). Hinsichtlich der Dublin-III-Verordnung liegt im Übrigen auch keine durch das Bundesverfassungsgericht für den Geltungsbereich des Grundgesetzes angenommene Ausnahme von der mitgliedstaatlichen Vollzugspflicht vor (vgl. zusammenfassend BVerfG, B.v. 19.7.2016 – 2 BvR 2752/11 – juris Rn. 17 ff. m.w.N.). Insbesondere steht vorliegend nicht in Rede, dass der sogenannte „Solange II-Vorbehalt“ hinsichtlich des Grundrechtsschutzes gegen abgeleitetes Unionsrecht greifen könnte, weil das Unionsrecht, insbesondere der Europäische Gerichtshof, generell keinen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz mehr gewährleisten würde – abgesehen davon, dass diese Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren analog Art. 100 Abs. 1 GG bzw. in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, gegebenenfalls nach einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV, zu treffen wäre (vgl. BVerfG, B.v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, Solange II – juris; B.v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, Bananenmarktordnung – juris; B.v. 14.5.2007 – 1 BvR 2036/05, Emissionshandel – juris). Diesbezüglich besteht im Hinblick auf die Dublin-III-Verordnung schon deshalb kein Anlass zu Bedenken, weil die Selbsteintrittsklausel des Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO (vgl. zu Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO z.B. EuGH, U.v. 10.12.2013 – C-394/12, Abdullahi – juris Rn. 60; U.v. 14.11.2013 – C-4/11, Puid – juris Rn. 30 ff.; U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. C-493/10, N.S. u.a. – juris) sowie die Ermessensklausel in Art. 17 Dublin-III-VO (vgl. dazu EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU, C.K. u.a. – juris) einen effektiven Grundrechtsschutz im Einzelfall ermöglichen, indem der Mitgliedstaat, der von der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung im Falle der Überstellung eines Asylbewerbers in einen anderen Mitgliedstaat ausgeht, die Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Asylgesuchs übernehmen kann.
2. Des Weiteren verbietet auch das Verwerfungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich abgeleiteten Unionsrechtes, welches nach allgemeiner Auffassung aus Art. 263 und 267 AEUV folgt und auch die inzidente Verwerfung erfasst (vgl. EuGH, U.v. 22.10.1987 – Rs. 314/85, Foto-Frost – juris; U.v. 21.2.1991 – C-143/88 u. C-92/98, Zuckerfabrik Süderdithmarschen – juris; Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rn. 82, 87 m.w.N.), die Annahme der Funktionslosigkeit einer solchen Unionsrechtsnorm durch ein nationales Gericht. Denn diese Annahme würde in der Konsequenz bedeuten – wovon das Verwaltungsgericht auch ausgeht –, dass die Unionsnorm im mitgliedstaatlichen Recht nicht (mehr) anwendbar ist und folglich nicht (mehr) die Rechtsgrundlage für Einzelfallmaßnahmen wie belastende Verwaltungsakte bilden kann. Sie käme somit in ihrer Rechtsfolge einer Verwerfung der betreffenden Unionsrechtsnorm gleich. Will ein nationales – auch unterinstanzliches – Gericht von der Ungültigkeit, und damit auch von der Unanwendbarkeit, einer Norm des abgeleiteten Unionsrechts ausgehen, so hat es den Europäischen Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 1 b), Abs. 2 AEUV anzurufen (EuGH, U.v. 22.10.1987 – Rs. 314/85, Foto-Frost – juris; U.v. 21.2.1991 – C-143/88 u. C-92/98, Zuckerfabrik Süderdithmarschen – juris). Das nach Art. 267 Abs. 2 AEUV für nicht letztinstanzliche Gerichte bestehende Vorlageermessen ist insoweit nach allgemeiner Auffassung auf Null reduziert (vgl. Wegener in Calliess/Ruffert a.a.O., AEUV, Art. 267 Rn. 29 ff.). Das Verwaltungsgericht hätte somit, wollte es von der Unanwendbarkeit der Dublin III-Verordnung wegen Funktionslosigkeit ausgehen, diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen.
B. Dennoch hat das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid im Ergebnis zu Recht aufgehoben. Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig ist rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG nicht gegeben sind. Zwar ist Ungarn der an sich für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin zuständige Mitgliedstaat (hierzu 1.), allerdings besteht eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zum Selbsteintritt, da die Klägerin bei einer Rücküberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta ausgesetzt wäre (hierzu 2.).
1. Der zuständige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin bestimmt sich vorliegend nach der Dublin-III-VO, die nach deren Art. 48 und 49 am 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist und für alle seitdem gestellten Asylanträge gilt. Die Klägerin stellte ihren Asylantrag nach diesem Zeitpunkt, und zwar am 2. Mai 2014.
a) Das Bundesamt hat sein Übernahmeersuchen rechtzeitig an Ungarn gestellt und ist daher nicht nach Art. 21 Abs. 1, UA 3 der Dublin-III-VO zuständig geworden.
Die Fristbestimmung des Art. 21 Abs. 1 UA 2 Dublin-III-VO für Fälle des Vorliegens eines EURODAC-Treffers ist im vorliegenden Falle nicht anwendbar, da für die Klägerin bezüglich Ungarns keine EURODAC-Treffermeldung vorliegt. Ob das Übernahmeersuchen der Beklagten an Ungarn vom 21. Juli 2014 rechtzeitig gestellt wurde, bestimmt sich somit nach der dreimonatigen Frist des Art. 21 Abs. 1 UA 1 Dublin-III-VO. Diese Frist ist vorliegend eingehalten worden. Was unter einem „Antrag auf internationalen Schutz“ im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist, regelt Art. 20 Abs. 2 der Dublin-III-VO und wurde vom Europäischen Gerichtshof in dessen Urteil vom 26. Juli 2017 (C-670/16 – NVwZ 2017, 1601 ff.) konkretisiert. Danach reicht als Antrag auf internationalen Schutz ein Schriftstück, das von einer Behörde ausgestellt ist und bescheinigt, dass ein Nicht-EU-Staatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat. Im vorliegenden Fall wurde der Klägerin nach ihrer Einreise nach Deutschland am 21. April 2014 von der Polizeiinspektion Fahndung Traunstein eine sogenannte „Bescheinigung über die Meldung als Asylbewerber – BÜMA“ ausgestellt. Diese wurde am selben Tag per Fax an die Außenstelle Zirndorf des Bundesamtes gesendet (Blatt 24 der Bundesamts-Akte). Ausgehend von diesem Datum ist die dreimonatige Frist des Art. 21 Abs. 1 UA 1 Dublin-III-VO gewahrt, denn sie begann nach § 31 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 187 ff. BGB am 22. April 2014, 0:00 Uhr zu laufen und endete nach § 31 Abs. 3 Satz 1 VwVfG am 21. Juli 2014, 24:00 Uhr.
b) Gegen eine Zuständigkeit Ungarns spricht auch nicht, dass die Klägerin ausweislich des am 3. Juni 2014 ausgelesenen EURODAC-Treffers zunächst in Griechenland einen Antrag auf Asyl gestellt hatte (Blatt 59 der Bundesamtsakte). Denn eine Überstellung in diesen Mitgliedstaat wäre jedenfalls in dem Zeitraum, in welchem ein Übernahmeersuchen hätte gestellt werden können, wegen der dort bestehenden systemischen Mängel des Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber rechtlich unmöglich gewesen (vgl. EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; EuGH, U.v. 21.12.2011 – N.S., C-411/10 und C-493/10 – NVwZ 2012, 417). Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs wäre zudem die Frist des Art. 21 Abs. 1, UA 3 der Dublin-III-VO für ein Übernahmeersuchen an Griechenland längst abgelaufen, insbesondere gilt die dreimonatige Frist nach Art. 21 Abs. 1 UA 1 Dublin-III-VO auch insoweit als maximaler Zeitraum, innerhalb dessen ein Übernahmeersuchen gestellt werden kann (EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – NVwZ 2017, 1601 ff.).
c) Die Zuständigkeit ist auch nicht nach Art. 29 Abs. 3 Dublin-III-VO auf Deutschland übergegangen. Denn diese Frist beginnt mit der Annahme des Aufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat oder mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Letzteres war vorliegend der Fall, da das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 14. November 2014 (Az. M 6b S 14.50488) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hatte. Damit war die sechsmonatige Frist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO noch nicht angelaufen.
2. Allerdings weisen das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta für die Klägerin mit sich bringen. Daher ist Ungarn im vorliegenden Fall für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig bzw. kann eine Rücküberstellung der Klägerin nach Ungarn nicht erfolgen (Art. 3 Abs. 2 UA 2 und 3 Dublin-III-VO und EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; EuGH, U.v. 21.12.2011 – N.S., C-411/10 und C-493/10 – NVwZ 2012, 417; U.v. 10.12.2013 – Abdullahi, C-394/12 – NVwZ 2014, 208; U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – NVwZ 2017, 691). Dies ergibt sich aus Folgendem (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2018 – 20 B 16.50073):
a) Im Frühjahr 2017 ist in Ungarn eine weitere Verschärfung der Asylgesetze in Kraft getreten. Danach werden nun alle Asylantragsteller (und nicht mehr nur die neu über die Südgrenze eintreffenden) in den seit 2015 errichteten „Transitzonen“ an der Grenze insbesondere zu Serbien untergebracht und dort inhaftiert (Hungarian Helsinki Committee HHC, Hungary: Government’s New Asylum Bill on Collective Push-Backs and Automatic Detention, Information Update by the Hungarian Helsinki Committee, 15. Februar 2017, Seite 2; UNHCR, Schreiben an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 28.6.2017 mit Anmerkungen zu Änderungen des ungarischen Asylrechts und zu Dublin-Überstellungen nach Ungarn, Seite 2; Amnesty International, Hungary: Legal amendments to detain all asylum-seekers a deliberate new attack on the rights of refugees and migrants, 9. März 2017, Seite 3; Handelsblatt vom 16.3.2017: Verschärftes Asylgesetz tritt in Kraft, recherchiert am 23. Januar 2018 unter www.handelsblatt.com; spiegel-online vom 7. März 2017: Ungarn beschließt Internierung von Flüchtlingen, zuletzt recherchiert am 23. Januar 2018 unter www.spiegel.de). Damit werden alle Asylsuchenden und auch die aus anderen Mitgliedstaaten im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens an Ungarn rücküberstellten Asylsuchenden für die Zeit des Asylverfahrens inhaftiert. Damit verstößt Ungarn gewollt und systematisch gegen die maßgeblichen mitgliedstaatlichen Vorschriften zum Asylverfahren und zu den Aufnahmebedingungen.
Nach Art. 28 Abs. 1 Dublin-III-VO nehmen die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt. Vielmehr ist nach Abs. 2 der Bestimmung die Haft nur in bestimmten Fällen zulässig, und zwar zur Sicherstellung von Überstellungsverfahren, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht nach einer Einzelfallprüfung und nur dann, wenn die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Über diesen eng beschränkten Zweck geht Ungarn mit der generellen Inhaftnahme von Asylantragstellern und Dublin-Rückkehrern aber weit hinaus. Die Haft ist dort gerade nicht auf die Fälle des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO beschränkt.
Darüber hinaus ist Ungarn grundsätzlich nach der Dublin-III-VO der für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin zuständige Mitgliedstaat (s.o.). Daher gelten für Ungarn grundsätzlich die in der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen; ABl. L 180/96 v. 29.6.2013) festgelegten Anforderungen. Auch nach Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie nehmen die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Asylantragsteller ist. Die Gründe für die Anordnung der Haft sind in Art. 8 Abs. 3 wiederum auf bestimmte, eng umgrenzte Haftzwecke beschränkt. In Ungarn findet inzwischen aufgrund der geänderten Rechtslage aber eine generelle Inhaftnahme von Asylantragstellern statt. Insoweit gibt es auch keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser Haft um eine Freiheitsentziehung i.S. von Art. 5 EMRK und nicht lediglich um eine Aufenthaltsbeschränkung handelt (vgl. hierzu HHC, Two Years After: What’s Left of Refugee Protection in Hung…, September 2017, Seite 7; EGMR, U.v. 14.3.2017 – Nr. 47287/15 – Rn. 66). Denn die Transitzonen sind von einem Stacheldrahtzaun umzäunt und werden von Polizisten von bewaffneten Sicherheitskräften bewacht. Es befinden sich Kameras in jeder Ecke, daneben sind die Unterbringungen in den Grenzzaun eingebettet.
Diese Haft ist auch im konkreten Fall „erniedrigend“. Der EGMR hat zu Art. 3 EMRK, der mit Art. 4 GR-Charta wortgleich ist, ausgeführt, dass diese Bestimmung nur anwendbar ist, wenn die Misshandlung ein bestimmtes Mindestmaß an Schwere erreicht und körperliche Verletzungen oder intensive physische oder psychische Leiden mit sich bringt (vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 3 Rn. 19; EGMR, U.v. 6.4.2000 – Nr. 26772/95 – Labita/Italien, Beck-RS 2013, 11454 Rn. 120). Um zu entscheiden, ob eine Behandlung „erniedrigend“ im Sinne von Art. 3 EMRK ist, ist darauf abzustellen, ob die Absicht damit verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und ob dieser, was die Folgen betrifft, in seiner Persönlichkeit getroffen wurde und zwar in einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Art und Weise (EGMR, U.v. 12.5.2005 – Nr. 46221/99 – Öcalan/Türkei, NVwZ 2006, 1276 Rn. 181 m.w.N.). Eine Festnahme oder Haft im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren ist danach nur dann erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK, wenn die damit verbundene Demütigung oder Erniedrigung eine besondere Schwelle erreicht hat und jedenfalls über das hinaus geht, was üblicherweise jede Festnahme oder Haft mit sich bringt (EGMR a.a.O. – Öcalan, Rn. 181 m.w.N.).
Im Falle der ungarischen Verhältnisse sind diese Anforderungen erfüllt, sodass von einer erniedrigenden Behandlung auszugehen ist. Denn es liegen hier verschiedene Einzelaspekte vor, die auf eine Absicht des ungarischen Staates hindeuten, die Asylantragsteller durch die Asylhaft zu erniedrigen. So werden die Asylantragsteller, wenn sie von der Hafteinrichtung zum Gericht gebracht werden oder bei anderen Gelegenheiten (z.B. beim Besuch eines Krankenhauses) mit Handschellen gefesselt und an einer Leine geführt (Aida, Country Report: Hungary, 2016 Update, Februar 2017, Seite 77). Damit wird in einer über jegliche Notwendigkeit hinausgehenden Weise unabhängig vom Einzelfall den Asylantragstellern verdeutlicht, dass sie sich in einer unterlegenen Situation befinden. Daneben stehen den ungarischen Behörden sehr weitgehende Möglichkeiten zur Verlängerung der Asylhaft nach den gesetzlichen Regelungen zur Verfügung. Die Praxis geht darüber hinaus dahin, dass Möglichkeiten, von der Haft im Einzelfall abzusehen, nicht genutzt werden (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 28 – 39). Insbesondere finden sich in den Gerichtsentscheidungen keinerlei Individualisierungen, vor allem was den Vorrang anderer Maßnahmen vor der Haft angeht. Auch die Umzäunung durch Stacheldraht und die Bewachung durch die Polizisten und Sicherheitskräfte sowie die ständige Überwachung durch Kameras ist geeignet und zielt wohl auch darauf ab, bei den inhaftierten Asylbewerbern ein Gefühl der Unterlegenheit und des Ausgeliefertseins zu erzeugen, das sie veranlasst, möglichst schnell Ungarn wieder zu verlassen, wie es auch der erklärten Politik der ungarischen Regierung entspricht (vgl. hierzu auch HessVGH, B.v. 24.8.2017 – 4 A 2986/16.A – juris Rn. 54/55).
b) Darüber hinaus schließt sich der Senat, wie auch schon in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2018 (BayVGH, B.v. 23.1.2018 – 20 B 16.50073), den Erwägungen des 13a. Senats des Verwaltungsgerichtshofs in dessen Entscheidung von 23. März 2017 (13a B 17.50003, dort insbesondere Rn. 24 – 31) an. Der 13a. Senat hat dort wie folgt ausgeführt:
„a) Das ergibt sich aus der dortigen (gesetzlichen) Entwicklung in den letzten Jahren. Nach der am 1. Juli 2013 in Kraft getretenen Änderung des Asylgesetzes, die die Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern vorsah, kam es ab Sommer 2015 zu weiteren Gesetzesänderungen betreffend unter anderem die Einführung eines beschleunigten Verfahrens, den Rechtsschutz und die Inhaftierung sowie die Aufnahme von Serbien in eine nationale Liste sicherer Drittstaaten mit der Folge der Unzulässigkeit von Asylanträgen bei Einreise über Serbien (UNHCR, Hungary: As a Country of Asylum, Mai 2016 – UNHCR Mai 2016; Hungarian Helsinki Committee, Information Note v. 7.8.2015: Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary – HHC 7.8.2015; AIDA – Asylum Information Database, Country-Report: Hungary v. November 2015 – aida November 2015; Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, Applications No. 44825/15 und 44944/15 v. 17.12.2015 – CHR). Im September 2015 wurde mit der Errichtung von Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien ein Grenzverfahren in dort eingerichteten Transitzonen etabliert (UNHCR Mai 2016; aida November 2015; CHR). Im Fall von Unzulässigkeit und im beschleunigten Verfahren ist vom Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft (OIN) innerhalb von 15 Tagen zu entscheiden, im regulären Verfahren innerhalb von zwei Monaten (aida November 2015, S. 12; CHR). Die Rechtsmittelfrist gegen Unzulässigkeitsentscheidungen des OIN bzw. gegen Entscheidungen im beschleunigten Verfahren beträgt drei Tage, im Standardverfahren acht Tage (UNHCR Mai 2016, S. 10; HHC 7.8.2015; aida November 2015, S. 21 ff.). Unter Beibehaltung der im Juli 2013 eingeführten Asylhaft im Allgemeinen wurde die zulässige Haftdauer für Grenzankömmlinge ohne Papiere auf 24 statt bisher 12 Stunden heraufgesetzt und die Haftanordnung im Dublin-Verfahren erleichtert. Im Allgemeinen kann Asylhaft erstmalig maximal für 72 Stunden sowie aufgrund eines Verlängerungsantrags um maximal 60 Tage aus im Einzelnen genannten Gründen angeordnet werden, insbesondere bei unklarer Identität und Gefahr des Untertauchens. Zuvor ist zu prüfen, ob ein milderes Mittel zur Anwendung kommen kann (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Regensburg v. 27.1.2016: Rücküberstellungen nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens – AA 27.1.2016). Die maximale Dauer der Asylhaft beträgt 6 Monate, bei Folgeanträgen 12 Monate und bei Familien mit Kindern 1 Monat (AA 27.1.2016; aida November 2015, S. 63). Die bisher verpflichtende Platzgröße für die Asylhaft wurde in eine Empfehlung umgewandelt, die so weit wie möglich einzuhalten ist. Ferner kann OIN Asylantragsteller ohne Dokumente verpflichten, ihr Heimatland zu kontaktieren (HHC 7.8.2015; CHR). (24)
Dublin-Rückkehrer, über deren Erstantrag bei Rückkehr noch nicht entschieden wurde, werden als Erstantragsteller behandelt (AA 27.1.2016). Grundsätzlich hat die Asylbehörde in Fällen, in denen Asylantragsteller während eines laufenden Asylverfahrens in einen Mitgliedstaat weiterreisen, in jedem Verfahrensstadium die Möglichkeit, entweder auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen eine Sachentscheidung zu treffen oder aber das Asylverfahren einzustellen. Regelmäßig wird das Asylverfahren ohne Entscheidung in der Sache eingestellt (AA 27.1.2016; aida November 2015, S. 21 ff.). Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann bis zu neun Monate nach Einstellung des Verfahrens beantragt werden (UNHCR Mai 2016, S. 20; AA 27.1.2016). Danach wird die Einstellung endgültig und der Asylbewerber wird wie ein Folgeantragsteller behandelt, wobei Änderungen dergestalt in Planung seien, dass der Asylantrag auch in diesem Fall vollumfänglich geprüft werde (AA 27.1.2016). (25)
b) Angesichts dieser Ausgangslage, die nach dem vorliegenden Erkenntnismaterial ab dem Jahr 2013 bis zum jetzigen Zeitpunkt durch eine fortschreitende (gesetzliche) Intensivierung und Verschärfung gekennzeichnet ist, besteht für die Kläger insbesondere die Gefahr, in Ungarn ohne ausreichende gesetzmäßige Anordnung und ohne effektive Rechtsschutzmöglichkeiten inhaftiert zu werden (26).
Die Anordnung der Asylhaft ist schon nach den gesetzlichen Vorgaben in großem Umfang zulässig. Danach kann Asylhaft angeordnet werden 1. bei unklarer Identität oder Staatsangehörigkeit, 2. bei Ausländern, die sich im Ausweisungsverfahren befinden und einen Asylantrag stellen, obwohl sie diesen zweifelsfrei bereits zuvor hätten stellen können oder um eine drohende Aufenthaltsbeendigung zu verzögern oder abzuwenden, 3. wenn der Sachverhalt des Asylbegehrens aufgeklärt werden muss und eine Aufklärung nicht ohne Haft möglich ist, speziell wenn die Gefahr des Untertauchens besteht, 4. wenn der Asylbewerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, 5. wenn der Asylantrag im Flughafenbereich gestellt wurde oder 6. zur Sicherstellung der Durchführung des Dublin-Verfahrens, wenn die ernsthafte Gefahr des Untertauchens besteht (AA 27.1.2016). Diese Formulierung der Haftgründe ist sehr weit gefasst und lässt damit Raum für eine weitreichende Inhaftierung von Asylbewerbern (siehe auch UNHCR, Stellungnahme an das VG Düsseldorf v. 30.9.2014: Situation der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Ungarn, insbesondere Dublin-Rückkehrer und Inhaftierungen – UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl, Stellungnahme an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014: Haftsituation von Asylbewerbern in Ungarn – Pro Asyl 31.10.2014; aida November 2015, S. 59 ff.). (27)
Auch die tatsächliche Praxis der Inhaftierung in Ungarn wird schon länger in vielen Punkten erheblich kritisiert. So solle das OIN vor einer Haftanordnung zwar prüfen, ob Alternativen zur Haft bestünden, aber nach Auskunft des Hungarian Helsinki Committee und Pro Asyl (Brief Information Note for the Seminar on the Right to Asylum in Europe, Barcelona, 9.-10.6.2016: The Reception Infrastructure for Asylum-Seekers in Hungary – HHC Juni 2016; Pro Asyl 31.10.2014) werde hiervon nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht; Verlängerungen würden automatisch für den Höchstzeitraum beantragt und die Haftanordnungen seien nicht individualisiert (UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014). Kritisch angemerkt wird dabei ferner, dass es in „Asylhaft“-Einrichtungen des OIN praktisch kein ausgebildetes Personal gebe; Sozialarbeiter erhielten nur Zugang unter Begleitung einer bewaffneten Wache. Auch wenn sich die Inhaftierten zwischen 6.00 und 23.00 Uhr innerhalb der Hafteinrichtungen frei bewegen könnten (Pro Asyl 31.10.2014) und es in der polizeilichen „Einwanderungshaft“ für Folgeantragsteller ausgebildetes Bewachungspersonal gebe (UNHCR 30.9.2014), wird festgestellt, dass Asylbewerber bei etwaigen Behördengängen und Gerichtsterminen wie im Strafverfahren gefesselt und mit Handschellen vorgeführt würden (aida November 2015, S. 65; CHR). Weiter wird kritisiert, dass die Inhaftierungsquote ab dem Jahr 2013 kontinuierlich angestiegen sei. Während in einer Auskunft des Auswärtigen Amts vom 3. Juli 2015 an das Verwaltungsgericht Hannover (AA 3.7.2015) noch angegeben wurde, dass im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2015 2,1% aller Asylantragsteller und 6 bis 10% der Dublin-Rückkehrer in Asylhaft genommen worden seien, komme es in der Praxis nach Auskunft von aida (November 2015, S. 62) und CHR sehr häufig zu Inhaftierungen und entgegen der gesetzlichen Regelung seit September 2014 auch bei Familien mit Kindern, die unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten von Gesetzes wegen als schwerwiegendstes Mittel bis zu 30 Tage inhaftiert werden könnten. UNHCR kann jedoch nicht bestätigen, dass die Haft nur unter dieser Voraussetzung stattfindet (UNHCR 30.9.2014). Pro Asyl gibt vielmehr an, dass OIN ab September 2014 Familien verstärkt inhaftiert habe (Pro Asyl 31.10.2014). Anlässlich seines Besuchs vom 24. bis 27. November 2015 wurde dem CHR von OIN mitgeteilt, dass sich derzeit 525 Asylantragsteller in offenen Aufnahmeeinrichtungen befänden und 412, mithin ca. 44%, inhaftiert seien. Anfang November 2015 soll die Inhaftierungsquote CHR zufolge sogar 52% gegenüber 11% im Jahr 2014 betragen haben (siehe auch HHC v. Juni 2016). Zudem scheint sich nach Auffassung der genannten Organisationen der ungenügende Gebrauch von Haftalternativen fortzusetzen. Auch das Problem der willkürlichen Inhaftierung sei weiterhin akut. Nach Auskunft von HHC waren am 30. Mai 2016 insgesamt 702 Asylbewerber in Haft, 1.583 in offenen Aufnahmeeinrichtungen. Zuletzt meldete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (Kurzinformation Ungarn v. 14.12.2016: Zentrum Bicske geschlossen – BFA 14.12.2016), dass im Dezember 2016 nach offiziellen Zahlen 192 Migranten in offener und 301 in geschlossener Unterbringung aufhältig waren. Zur Haftdauer berichtet Pro Asyl in Zusammenarbeit mit dem HHC, das wiederum eine Anfrage an OIN richtete, dass die durchschnittliche Haftdauer im Zeitraum vom 1.7.2013 bis 31. August 2014 dem OIN zufolge zwar „nur“ 32 Tage betragen habe, nach den eigenen Einschätzungen und einer Untersuchung des HHC allerdings deutlich länger sei. Die Diskrepanz beruhe auf vermutlich darauf, dass OIN nicht nur die Zeit von Inhaftierungen einrechne, sondern auch diejenigen Fälle ohne jegliche Inhaftierung (28).
Schließlich wies HHC im Juni 2016 nochmals ausdrücklich darauf hin, dass Ungarn einer der wenigen Staaten in Europa sei, in dem Asylerstantragsteller in der Regel für mehrere Monate inhaftiert würden (HHC Juni 2016). Dublin-Rückkehrer würden in der Praxis regelmäßig inhaftiert (so auch UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014; CHR). Diese Haft werde als „Asylhaft“, nicht als „Abschiebehaft“ oder „Einwanderungshaft“ verhängt (UNHCR 30.9.2014). Auch das Auswärtige Amt (AA 3.7.2015) gibt an, dass die Wahrscheinlichkeit, in Haft genommen zu werden, im ersten Halbjahr 2015 für Dublin-Rückkehrer gegenüber Neuankömmlingen erhöht gewesen sei (29).
Zudem lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass ein effektiver Rechtsschutz existieren würde. Insbesondere bestehen für das OIN und auch die Gerichte sehr restriktive Fristenregelungen zur Entscheidung. Diese sind nicht ausreichend, um die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu gewährleisten. Bei Fristen im Tagebereich wie dargestellt können die unverzichtbaren Anforderungen an ein solches Verfahren einschließlich Dolmetscher, Anhörung, (individualisierter) Herkunftslandinformationen etc. nicht eingehalten werden (siehe hierzu HHC 7.8.2015; aida November 2015; CHR). Gleiches gilt für die Rechtsmittelfristen (siehe auch aida November 2015; CHR). Weiter gibt es zwar de iure Zugang zu Rechtsberatung, in der Praxis ist diese aber den Auskünften zufolge mangels entsprechender staatlicher Finanzierung nicht verfügbar (UNHCR 30.9.2014). Soweit überhaupt staatliche Anwälte bestellt seien, agierten diese passiv (Pro Asyl 31.10.2014; aida November 2015). Tatsächlich gebe es damit nur Zugang zu den (Vertrags-)Anwälten des HHC, so dass nur eine Minderheit anwaltliche Vertretung erhalte (Pro Asyl 31.10.2014). Außerdem ist gegen die Verhängung von „Asylhaft“ kein gesetzlicher Rechtsbehelf vorgesehen, sondern nur eine sogenannte „Einspruchsmöglichkeit“. Nach den Informationen von UNHCR werde aber auch hiervon aus Unkenntnis kein Gebrauch gemacht (UNHCR 30.9.2014). Gegen die „Einwanderungshaft“ gebe es ebenfalls keinen Rechtsbehelf, nur eine automatische Überprüfung (UNHCR 30.9.2014). Die gerichtliche Haftüberprüfung erfolge in einem „automatisierten“ Prozess alle 60 Tage durch dieselben (Straf-)Richter, die die Erstprüfung durchgeführt hätten (UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014; aida November 2015, S. 67 ff.). In der täglichen Praxis würden Entscheidungen für 5 bis 15 Häftlinge innerhalb von 30 Minuten gefällt, ohne dass eine individuelle Prüfung erfolgen könne (UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014). Schon im Jahr 2012 habe der Oberste Gerichtshof (Kuria) eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die 8.000 Entscheidungen analysiert habe, von denen nur in drei Fällen keine Haftverlängerung erfolgt sei (UNHCR 30.9.2014). Die Asylarbeitsgruppe am Obersten Gerichtshof bestätigte im Oktober 2014, dass die gerichtliche Überprüfung der Asylhaft wirkungslos sei (aida November 2015, S. 67 ff.). Die Entscheidungen seien schematisch, das Verfahren nicht individualisiert und es erfolge keine Überprüfung, ob die Haft das einzige Mittel sei. Seit der Beanstandung durch die Kuria habe sich aber in der Praxis nichts geändert (aida November 2015, S. 67 ff.). Angesichts dieser gravierenden Missstände kann der Rechtsschutz damit insgesamt gesehen nicht mehr als wirksam bezeichnet werden (30).
Die Bewertung dieser Erkenntnisse ist insofern mit Schwierigkeiten verbunden, als jeweils nur punktuelle Angaben gemacht, wie etwa zu bestimmten Zeiträumen oder zu den betroffenen Gruppen, und keine statistisch aufbereiteten Daten für die Jahre 2014, 2015 und 2016 genannt werden zur (Gesamt-)Anzahl der Asylanträge in Ungarn, zur Anzahl der Dublin-Rückkehrer und zu den Verhältnissen in der Transitzone sowie dem jeweiligen Anteil an Inhaftierungen. Das kann wohl kaum darin begründet sein, dass keine offiziellen statistischen Informationen vorlägen, etwa ob Dublin-Rückkehrer regelmäßig oder ausnahmsweise inhaftiert werden, wie das Auswärtige Amt angibt (AA 27.1.2016). Denn das widerspräche zum einen dessen eigener Aussage in der Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover (AA 3.7.2015), wonach im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2015 6 bis 10% der Dublin-Rückkehrer in Asylhaft genommen worden seien. Zum anderen wurde dem CHR im November 2015 von OIN mitgeteilt, dass es zu diesem Zeitpunkt eine allgemeine Inhaftierungsquote von ca. 44% gegeben habe und von den in diesem Jahr durchgeführten 1.338 Dublin-Überstellungen 332 Rückkehrer in Asylhaft genommen worden seien, also ca. 25%. Auch wenn hiermit keine übergreifende Aussage getroffen wird, die Angaben zur Inhaftierungsquote sehr differieren und nicht zu erkennen ist, inwieweit sich die statistischen Ausgangsdaten decken, lässt sich in der Zusammenschau mit den weiteren Angaben, insbesondere des Hungarian Helsinki Committee (Hungary: Key Asylum Figures as of 1 September 2016 – HHC 1.9.2016: am 29.8.2016 waren 233 von 707 Asylbewerbern in Haft) und des österreichischen Bundesamts für Asylwesen (BFA 14.12.2016: im Dezember 2016 waren 192 Migranten in offener und 301 in geschlossener Unterbringung aufhältig), dennoch ein Gesamtbild entnehmen. Die vorliegenden Erkenntnisse zeigen deutlich, dass die Inhaftierung von Asylbewerbern in Ungarn weit verbreitet ist. Es tritt klar zu Tage, dass die gesetzlichen Vorgaben eine weitreichende Anordnung von Haft ermöglichen und sie auch in der praktischen Handhabung in beachtlichem Umfang stattfindet. Da zudem die Anordnung der Haft schematisch und ohne Einzelfallprüfung erfolgt und eine gerichtliche Überprüfung faktisch nicht stattfindet, muss davon ausgegangen werden, dass Dublin-Rückkehrer wie die Kläger im Fall ihrer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK ausgesetzt wären. Diese Einschätzung wird auch bestätigt durch deren unbestrittenen Angaben, dass sie in Ungarn bereits inhaftiert gewesen seien.“ (31)
c) Die im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht erfolgte Antwort der ungarischen Behörden auf die Anfrage des Beklagten, dass zugesichert werden möge, dass die Klägerin entsprechend der Richtlinie 2013/33/EU untergebracht werde, ändert ebenfalls nichts am Ergebnis. Denn ein weiteres Zuwarten mit der Entscheidung des Senats im Berufungsverfahren war angesichts der beim Bundesamt nicht vorliegenden Erfahrungswerte, wann mit einer derartigen Erklärung gerechnet werden könne, nicht mehr erforderlich. Ob eine derartige Antwort durch die ungarischen Behörden überhaupt noch erfolgt, kann derzeit nicht abgeschätzt werden und ist mehr als fraglich (vgl. hierzu auch OVG NRW, B.v. 8.12.2017 – 11 A 1966/15. A – juris).
Im Ergebnis durfte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin mangels Zuständigkeit Ungarns für die Bearbeitung des Asylantrags nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG als unzulässig ablehnen. Der Bescheid ist in Ziffer 1 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten.
Daher ist auch die in Ziffer 2 des Bescheids ausgesprochene Abschiebungsanordnung nach Ungarn (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin ebenso in ihren Rechten. Auch insoweit ist der streitgegenständliche Bescheid daher aufzuheben.
Die Berufung der Beklagten ist damit unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.