EU-Insolvenz: Bei der Widerlegung der Vermutung des Interessenmittelpunktes am Satzungssitz sind die für Dritte erkennbaren Verhältnisse maßgeblich

published on 03/11/2014 18:24
EU-Insolvenz: Bei der Widerlegung der Vermutung des Interessenmittelpunktes am Satzungssitz sind die für Dritte erkennbaren Verhältnisse maßgeblich
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Author’s summary by Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

Verlegt die Gesellschaft jedoch vor Insolvenzantragstellung den Satzungssitz, so wird der COMI an diesem neuen Satzungssitz vermutet
Der EuGH entschied am 20.10.2011 (Rs.C-396/09) in Zusammenhang mit dem COMI (Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen) von Gesellschaften und juristischen Personen folgendes:

1. Es ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Verfahrensvorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof entspricht. - Interedil. (amtlicher Leitsatz)

2. Der Begriff "Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen" des Schuldners i. S. von Art. 3I der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren ist unter Bezugnahme auf das Unionsrecht auszulegen. (amtlicher Leitsatz)

3. Art. 3 I 2 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist im Hinblick auf die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft wie folgt auszulegen: Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, der Vorzug zu geben. Wenn sich die Verwaltungs- und Kontrollorgane einer Gesellschaft am Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes befinden und die Verwaltungsentscheidungen der Gesellschaft in durch Dritte feststellbarer Weise an diesem Ort getroffen werden, lässt sich die in dieser Vorschrift aufgestellte Vermutung nicht widerlegen. Befindet sich der Ort der Hauptverwaltung einer Gesellschaft nicht an ihrem satzungsmäßigen Sitz, können das Vorhandensein von Gesellschaftsaktiva und das Bestehen von Verträgen über deren finanzielle Nutzung in einem anderen Mitgliedstaat als dem des satzungsmäßigen Sitzes der Gesellschaft nur dann als zur Widerlegung dieser Vermutung ausreichende Faktoren angesehen werden, wenn eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren die von Dritten überprüfbare Feststellung zulässt, dass sich der tatsächliche Mittelpunkt der Verwaltung und der Kontrolle der Gesellschaft sowie der Verwaltung ihrer Interessen in diesem anderen Mitgliedstaat befindet; wird der satzungsmäßige Sitz einer Schuldnergesellschaft verlegt, bevor ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wird, wird vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Gesellschaft am Ort ihres neuen satzungsmäßigen Sitzes befindet.

4. Der Begriff "Niederlassung" im Sinne von Art. 3 II dieser Verordnung ist dahin gehend auszulegen, dass er die Existenz einer auf die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgerichteten Struktur mit einem Mindestmaß an Organisation und einer gewissen Stabilität erfordert. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte oder von Bankkonten genügt dieser Definition grundsätzlich nicht. 


Entscheidung:


In der Rechtssache C‑396/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunale di Bari (Italien) mit Entscheidung vom 6. Juli 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2009, in dem Verfahren

Interedil Srl, in Liquidation,

gegen

Fallimento Interedil Srl,

Intesa Gestione Crediti SpA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan, A. Borg Barthet und M. Ilešič sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–der Interedil Srl, in Liquidation, vertreten durch P. Troianiello, avvocato,

–der Fallimento Interedil Srl, vertreten durch G. Labanca, avvocato,

–der Intesa Gestione Crediti SpA, vertreten durch G. Costantino, avvocato,

–der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Bambara und S. Petrova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. März 2011

folgendes

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1, im Folgenden: Verordnung).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Interedil Srl, in Liquidation (im Folgenden: Interedil), auf der einen und der Fallimento Interedil Srl und der Intesa Gestione Crediti SpA (im Folgenden: Intesa), in deren Rechte die Italfondario SpA eingetreten ist, auf der anderen Seite über einen von Intesa gegen Interedil gestellten Insolvenzantrag.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Die Verordnung wurde insbesondere auf Art. 61 Buchst. c EG und Art. 67 Abs. 1 EG gestützt.

Art. 2 („Definitionen“) der Verordnung bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bedeutet

a) ‚Insolvenzverfahren‘ die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Gesamtverfahren. Diese Verfahren sind in Anhang A aufgeführt;

h) ‚Niederlassung‘ jeden Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt.“

In der Liste in Anhang A der Verordnung wird in Bezug auf Italien u. a. das „Fallimento“-Verfahren genannt.

Art. 3 („Internationale Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt:

„(1) Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.

(2) Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Gebiet dieses letzteren Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt.

…“

Im 13. Erwägungsgrund der Verordnung heißt es, dass „[a]ls Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen … der Ort gelten [sollte], an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und [der] damit für Dritte feststellbar ist“.

Nationales Recht

Art. 382 der italienischen Zivilprozessordnung (Codice di procedura civile), der die Entscheidung von Zuständigkeitsfragen durch die Corte suprema di cassazione regelt, bestimmt:

„Ist die Corte mit einer Frage der Gerichtsbarkeit befasst, so entscheidet sie diese und bestimmt, falls nötig, das zuständige Gericht …“

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass eine von der Corte suprema di cassazione auf der Grundlage dieser Vorschrift erlassene Entscheidung nach gefestigter Rechtsprechung endgültig und für das Gericht, das in der Sache zu entscheiden hat, bindend ist.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Interedil wurde in der Rechtsform einer „società a responsabilità limitata“ italienischen Rechts mit satzungsmäßigem Sitz in Monopoli (Italien) gegründet. Am 18. Juli 2001 wurde ihr satzungsmäßiger Sitz nach London (Vereinigtes Königreich) verlegt. Am selben Tag wurde sie im Unternehmensregister des italienischen Staates gestrichen. In der Folge der Verlegung ihres Sitzes wurde Interedil im Gesellschaftsregister des Vereinigten Königreichs mit dem Vermerk „FC“ („Foreign Company“, ausländische Gesellschaft) eingetragen.

Nach den in der Vorlageentscheidung wiedergegebenen Angaben von Interedil nahm diese Gesellschaft gleichzeitig mit ihrer Sitzverlegung Transaktionen vor, die darin bestanden hätten, dass sie von der britischen Gruppe Canopus übernommen worden sei und dass Verträge über den Verkauf des Betriebs verhandelt und geschlossen worden seien. Einige Monate nach der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes sei das Eigentum von Interedil an Gebäuden, die ihr in Tarent (Italien) gehörten, als Bestandteil des veräußerten Unternehmens auf die Windowmist Limited übertragen worden. Am 22. Juli 2002 sei Interedil im Gesellschaftsregister des Vereinigten Königreichs gelöscht worden.

Am 28. Oktober 2003 beantragte Intesa beim Tribunale di Bari die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens („fallimento“) über das Vermögen von Interedil.

Interedil rügte die Zuständigkeit dieses Gerichts mit der Begründung, aufgrund der Verlegung ihres satzungsmäßigen Sitzes in das Vereinigte Königreich seien allein die Gerichte dieses Mitgliedstaats für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zuständig. Am 13. Dezember 2003 beantragte Interedil eine Vorabentscheidung der Corte suprema di cassazione über die Frage der Zuständigkeit.

Da das Tribunale di Bari die Einrede der Unzuständigkeit der italienischen Gerichte für offensichtlich unbegründet hielt und die Zahlungsunfähigkeit des fraglichen Unternehmens als erwiesen ansah, eröffnete es am 24. Mai 2004 – ohne die Entscheidung der Corte suprema di cassazione abzuwarten – das Insolvenzverfahren über das Vermögen von Interedil.

Am 18. Juni 2004 legte Interedil beim vorlegenden Gericht gegen diesen Eröffnungsbeschluss Beschwerde ein.

Mit Beschluss vom 20. Mai 2005 entschied die Corte suprema di cassazione über die ihr zur Vorabentscheidung vorgelegte Zuständigkeitsfrage und erklärte die italienischen Gerichte für zuständig. Sie war der Auffassung, die in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung aufgestellte Vermutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dem satzungsmäßigen Sitz entspreche, könne aufgrund verschiedener Umstände als widerlegt angesehen werden, weil sich nämlich in Italien Immobilien von Interedil befänden, ein Mietvertrag über zwei Hotelkomplexe und ein Vertrag mit einem Geldinstitut bestünden und die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes dem Unternehmensregister in Bari nicht mitgeteilt worden sei.

Da das Tribunale di Bari angesichts der vom Gerichtshof im Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC (C‑341/04, Slg. 2006, I‑3813), herausgearbeiteten Kriterien an der Richtigkeit dieser rechtlichen Beurteilung der Corte suprema di cassazione zweifelt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist der Begriff „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht oder dem nationalen Recht auszulegen und – falls die erste Alternative zu bejahen sein sollte – was besagt dieser Begriff und welches sind die entscheidenden Faktoren oder Elemente zur Bestimmung des „Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen“?

2. Kann die Vermutung nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung, wonach bei Gesellschaften bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist, durch die Feststellung widerlegt werden, dass die Gesellschaft in einem anderen Staat als dem ihres satzungsmäßigen Sitzes einer tatsächlichen geschäftlichen Tätigkeit nachgeht, oder ist zur Widerlegung der Vermutung die Feststellung erforderlich, dass die Gesellschaft in dem Staat ihres satzungsmäßigen Sitzes keine geschäftliche Tätigkeit entfaltet hat?

3. Sind die Belegenheit von Immobilien der Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres satzungsmäßigen Sitzes, das Bestehen eines Mietvertrags zwischen der Schuldnergesellschaft und einer anderen Gesellschaft über zwei Hotelkomplexe sowie eines Vertrags der Gesellschaft mit einem Geldinstitut Elemente oder Faktoren, die ausreichen, um die Vermutung nach Art. 3 der Verordnung zugunsten des „satzungsmäßigen Sitzes“ der Gesellschaft zu widerlegen, und rechtfertigen derartige Umstände die Annahme, dass die Gesellschaft eine „Niederlassung“ in diesem Staat im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung hat?

4. Steht, wenn die Entscheidung der Corte suprema di cassazione über die Zuständigkeit in ihrem Beschluss Nr. 10606/2005 auf einer Auslegung von Art. 3 der Verordnung beruht, die von der des Gerichtshofs abweicht, Art. 382 der italienischen Zivilprozessordnung, wonach die Corte suprema di cassazione über die Zuständigkeit endgültig und verbindlich entscheidet, der Anwendung des genannten Artikels in der Auslegung des Gerichtshofs entgegen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

Die Europäische Kommission äußert Zweifel daran, dass der Gerichtshof für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens zuständig ist. Sie weist darauf hin, dass dieses Ersuchen mit Beschluss vom 6. Juli 2009, der am 13. Oktober 2009 beim Gerichtshof eingegangen sei, vorgelegt worden sei. Nach Art. 68 Abs. 1 EG, der zu dem letztgenannten Zeitpunkt in Kraft gewesen sei, hätten nur diejenigen nationalen Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts hätten angefochten werden können, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen anrufen können, um eine Auslegung von auf Titel IV des EG-Vertrags gestützten Rechtsakten der Organe der Gemeinschaft zu erhalten. Während die Verordnung auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG und Art. 67 Abs. 1 EG erlassen worden sei, die zu Titel IV des Vertrags gehörten, könnten die Entscheidungen des vorlegenden Gerichts mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden.

Dazu genügt der Hinweis, dass Art. 68 EG mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 aufgehoben wurde und die darin vorgesehene Beschränkung des Rechts, dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, entfallen ist. Seit diesem Zeitpunkt verfügen die Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nachArt. 267 AEUV über das Recht, dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn es um auf der Grundlage von Titel IV des Vertrags erlassene Rechtsakte geht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński, C‑283/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnrn. 28 und 29).

In den Randnrn. 30 und 31 des Urteils Weryński hat der Gerichtshof ausgeführt, dass angesichts des mit Art. 267 AEUV verfolgten Ziels einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten sowie des Grundsatzes der Prozessökonomie davon auszugehen ist, dass er seit dem 1. Dezember 2009 zuständig für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen von Gerichten ist, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, und zwar auch dann, wenn das Ersuchen vor diesem Zeitpunkt eingegangen ist.

Der Gerichtshof ist daher jedenfalls zuständig für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen.

 Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

 Zum Zusammenhang zwischen den Vorlagefragen und dem Ausgangsverfahren

Interedil hat auf eine von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen aufgeworfene Frage in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass sie mit ihrer Löschung im Gesellschaftsregister des Vereinigten Königreichs im Juli 2002 aufgehört habe zu bestehen. Folglich sei der im Oktober 2003 beim Tribunale di Bari gestellte Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen gegenstandslos, und die Vorlagefragen seien unzulässig.

Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof es nur dann ablehnen, über eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage zu befinden, wenn insbesondere die von dem nationalen Gericht begehrte Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 7. Dezember 2010, VEBIC, C‑439/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit der Verordnung nur die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit, über die Anerkennung von Entscheidungen und über das anwendbare Recht im Bereich von Insolvenzverfahren mit grenzüberschreitender Wirkung vereinheitlicht werden. Die Frage der Zulässigkeit eines Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Schuldners wird weiterhin vom anwendbaren nationalen Recht geregelt.

Aus den Angaben, die das vorlegende Gericht gemacht hat, geht hervor, dass es von Interedil darüber unterrichtet wurde, dass diese Gesellschaft im Juli 2002 im Gesellschaftsregister des Vereinigten Königreichs gelöscht wurde. Dagegen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung in keiner Weise, dass dieser Umstand nach dem nationalen Recht die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ausschließt. Tatsächlich lässt sich nicht ausschließen, dass das nationale Recht die Möglichkeit vorsieht, ein solches Verfahren zu dem Zweck zu eröffnen, die Auszahlung der Gläubiger einer aufgelösten Gesellschaft zu regeln.

Somit ist nicht offensichtlich, dass die von dem nationalen Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das Problem hypothetischer Natur ist.

Die von Interedil geltend gemachte Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.

Zum Gegenstand der Vorlagefragen

Die Antragsgegnerinnen des Ausgangsverfahrens machen geltend, die Fragen seien wegen ihres Gegenstands unzulässig. Die erste und die vierte Frage ließen keine Divergenz zwischen den Bestimmungen des Unionsrechts und ihrer Anwendung durch die nationalen Gerichte erkennen, während der Gerichtshof mit der zweiten und der dritten Frage aufgefordert werde, die Vorschriften des Unionsrechts auf den konkreten Fall anzuwenden, mit dem das vorlegende Gericht befasst sei.

Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens ist der Gerichtshof befugt, sich auf der Grundlage des ihm von dem vorlegenden Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern, wobei es Sache des vorlegenden Gerichts ist, die entsprechende Vorschrift auf den bei ihm anhängigen konkreten Fall anzuwenden (vgl. u. a. Urteil vom 7. September 2006, Price, C‑149/05, Slg. 2006, I‑7691, Randnr. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Die ersten drei Fragen betreffen im Wesentlichen die Auslegung des Begriffs „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung. Diese Fragen sind daher im Hinblick auf ihren Gegenstand zulässig.

Bei der vierten Frage geht es darum, ob das vorlegende Gericht von der rechtlichen Beurteilung eines übergeordneten Gerichts abweichen kann, wenn es angesichts der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der Auffassung ist, dass diese Beurteilung im Widerspruch zum Unionsrecht steht. Diese Frage, die den Mechanismus des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV betrifft, ist demnach ebenfalls zulässig.

 Zum angeblichen Fehlen eines Rechtsstreits

Die Antragsgegnerinnen des Ausgangsverfahrens machen geltend, über die Frage der Zuständigkeit der italienischen Gerichte für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens habe die Corte suprema di cassazione mit einer Entscheidung befunden, die rechtskräftig geworden sei. Bei dem vorlegenden Gericht bestehe daher kein „schwebendes Verfahren“ im Sinne von Art. 267 AEUV, und das Vorabentscheidungsersuchen sei aus diesem Grund unzulässig.

Diese Argumentation ist zusammen mit der vierten Frage zu prüfen, mit der das vorlegende Gericht wissen möchte, inwieweit es an die von der Corte suprema di cassazione vorgenommene Auslegung des Unionsrechts gebunden ist.

 Zur vierten Frage

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Verfahrensvorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof entspricht.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass das Vorliegen einer nationalen Verfahrensvorschrift nicht die Befugnis der nicht in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichte in Frage stellen kann, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn sie, wie im Ausgangsverfahren, Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts haben (Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 25).

Nach ständiger Rechtsprechung bindet ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der fraglichen Rechtsakte der Unionsorgane (vgl. u. a. Urteil Elchinov, Randnr. 29).

37 Daraus folgt, dass das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens an die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den Gerichtshof gebunden ist und gegebenenfalls von der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts abweichen muss, wenn es aufgrund dieser Auslegung der Auffassung ist, dass diese Beurteilung nicht dem Unionsrecht entspricht (vgl. u. a. Urteil Elchinov, Randnr. 30).

Insoweit ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden hat, nach gefestigter Rechtsprechung gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Bestimmung, d. h. im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Verfahrensvorschrift, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. u. a. Urteil Elchinov, Randnr. 31).

Daher ist auf die vierte Frage zu antworten, dass es mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Verfahrensvorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof entspricht.

Aus denselben Gründen ist die von den Antragsgegnerinnen des Ausgangsverfahrens auf einen angeblich fehlenden Rechtsstreit gestützte Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen.

 Zum ersten Teil der ersten Frage

Mit dem ersten Teil der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung unter Bezugnahme auf das Unionsrecht oder das nationale Recht auszulegen ist.

Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. u. a. Urteil vom 29. Oktober 2009, NCC Construction Danmark, C‑174/08, Slg. 2009, I‑10567, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Was insbesondere den Begriff „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung betrifft, hat der Gerichtshof in Randnr. 31 des Urteils Eurofood IFSC ausgeführt, dass es sich um einen der Verordnung eigenen Begriff handelt, der demnach eine autonome Bedeutung hat und somit einheitlich und unabhängig von nationalen Rechtsvorschriften ausgelegt werden muss.

Somit ist auf den ersten Teil der ersten Frage zu antworten, dass der Begriff „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung unter Bezugnahme auf das Unionsrecht auszulegen ist.

 Zum zweiten Teil der ersten Frage, zur zweiten Frage und zum ersten Teil der dritten Frage

Mit dem zweiten Teil der ersten Frage, der zweiten Frage und dem ersten Teil der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung im Hinblick auf die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft auszulegen ist.

In Anbetracht des Umstands, dass Interedil nach den Angaben in der Vorlageentscheidung im Laufe des Jahres 2001 ihren satzungsmäßigen Sitz aus Italien in das Vereinigte Königreich verlegt hat und sodann im Laufe des Jahres 2002 im Gesellschaftsregister dieses letztgenannten Mitgliedstaats gelöscht wurde, ist, um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, auch der Zeitpunkt zu bestimmen, auf den für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners zum Zwecke der Ermittlung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts abzustellen ist.

Die für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen eines Schuldners relevanten Kriterien

Die Verordnung enthält zwar keine Definition des Begriffs des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners, doch wird die Bedeutung dieses Begriffs, wie der Gerichtshof in Randnr. 32 des Urteils Eurofood IFSC dargelegt hat, durch den 13. Erwägungsgrund der Verordnung erhellt, in dem es heißt: „Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und [der] damit für Dritte feststellbar ist.“

Wie die Generalanwältin in Nr. 69 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, zeigen die Vermutung zugunsten des satzungsmäßigen Sitzes in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung und die Bezugnahme auf den Ort der Verwaltung der Interessen im 13. Erwägungsgrund dieser Verordnung die Intention des Unionsgesetzgebers, dem Ort der Hauptverwaltung der Gesellschaft als Zuständigkeitskriterium den Vorzug zu geben.

Unter Bezugnahme auf denselben Erwägungsgrund hat der Gerichtshof im Übrigen in Randnr. 33 des Urteils Eurofood IFSC präzisiert, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist, um die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Diesem Erfordernis der Objektivität und dieser Möglichkeit der Feststellung ist Genüge getan, wenn die zur Bestimmung des Ortes, an dem die Schuldnergesellschaft gewöhnlich ihre Interessen verwaltet, berücksichtigten konkreten Umstände bekannt gemacht wurden oder zumindest so transparent sind, dass Dritte, d. h. insbesondere die Gläubiger dieser Gesellschaft, davon Kenntnis haben konnten.

In dem Fall, dass sich die Verwaltungs‑ und Kontrollorgane einer Gesellschaft am Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes befinden und die Verwaltungsentscheidungen der Gesellschaft in für Dritte feststellbarer Weise an diesem Ort getroffen werden, kommt daher die in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung aufgestellte Vermutung, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Gesellschaft an diesem Ort befindet, in vollem Umfang zum Tragen. Wie die Generalanwältin in Nr. 69 ihrer Schlussanträge darlegt, scheidet in diesem Fall eine anderweitige Verortung der hauptsächlichen Interessen der Schuldnergesellschaft aus.

Die in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung aufgestellte Vermutung kann indessen widerlegt werden, wenn sich der Ort der Hauptverwaltung einer Gesellschaft aus der Sicht von Dritten nicht am Ort des satzungsmäßigen Sitzes befindet. Wie der Gerichtshof in Randnr. 34 des Urteils Eurofood IFSC dargelegt hat, lässt sich die vom Unionsgesetzgeber zugunsten des satzungsmäßigen Sitzes der Gesellschaft aufgestellte widerlegliche Vermutung entkräften, wenn objektive und für Dritte feststellbare Elemente belegen, dass in Wirklichkeit die Lage nicht derjenigen entspricht, die die Verortung der hauptsächlichen Interessen an diesem satzungsmäßigen Sitz widerspiegeln soll.

Zu den zu berücksichtigenden Faktoren gehören u. a. alle Orte, an denen die Schuldnergesellschaft eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, und alle Orte, an denen sie Vermögenswerte besitzt, sofern diese Orte für Dritte erkennbar sind. Wie die Generalanwältin in Nr. 70 ihrer Schlussanträge darlegt, sind diese Faktoren in einer Gesamtbetrachtung und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

In diesem Zusammenhang können die von dem vorlegenden Gericht angeführten Umstände, dass der Schuldnergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres satzungsmäßigen Sitzes Immobilien gehören, über die sie Mietverträge abgeschlossen hat, und dass sie in demselben Mitgliedstaat einen Vertrag mit einem Finanzinstitut abgeschlossen hat, als objektive und – angesichts der damit verbundenen öffentlichen Wahrnehmbarkeit – als von Dritten feststellbare Faktoren angesehen werden. Gleichwohl können das Vorhandensein von Gesellschaftsaktiva und das Bestehen von Verträgen über deren finanzielle Nutzung in einem anderen Mitgliedstaat als dem des satzungsmäßigen Sitzes der Gesellschaft nur dann als zur Widerlegung der vom Unionsgesetzgeber aufgestellten Vermutung ausreichende Faktoren angesehen werden, wenn eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren die von Dritten überprüfbare Feststellung zulässt, dass sich der tatsächliche Mittelpunkt der Verwaltung und der Kontrolle der Gesellschaft sowie der Verwaltung ihrer Interessen in diesem anderen Mitgliedstaat befindet.

Der maßgebende Zeitpunkt für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung keine ausdrücklichen Bestimmungen für den besonderen Fall einer Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners enthält. Angesichts der allgemeinen Formulierung des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ist daher davon auszugehen, dass für die Bestimmung der für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichtsbarkeit auf den letzten Ort abzustellen ist, an dem sich dieser Mittelpunkt befindet.

Diese Auslegung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs erhärtet. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner bei Stellung eines Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hatte, für die Entscheidung darüber zuständig bleibt, wenn der Schuldner nach der Antragstellung, aber vor der Eröffnung des Verfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt (Urteil vom 17. Januar 2006, Staubitz-Schreiber, C‑1/04, Slg. 2006, I‑701, Randnr. 29). Daraus ist abzuleiten, dass es für die Bestimmung des zuständigen Gerichts grundsätzlich darauf ankommt, wo sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens befunden hat.

Wird – wie im Ausgangsverfahren – der satzungsmäßige Sitz verlegt, bevor ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wird, wird daher nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners am neuen satzungsmäßigen Sitz befindet, so dass grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich dieser neue Sitz befindet, für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens zuständig werden, sofern die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung aufgestellte Vermutung nicht durch den Nachweis widerlegt wird, dass die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes nicht zu einem Wechsel des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen geführt hat.

Dieselben Regeln müssen dann Anwendung finden, wenn die Schuldnergesellschaft zu der Zeit, als der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt wurde, im Gesellschaftsregister gelöscht war und, wie Interedil in ihren Erklärungen vorträgt, jede Tätigkeit eingestellt hatte.

Wie sich aus den Randnrn. 47 bis 51 des vorliegenden Urteils ergibt, liegt nämlich dem Begriff des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen das Anliegen zugrunde, eine Verknüpfung mit dem Ort herzustellen, mit dem die Gesellschaft objektiv und für Dritte erkennbar die engsten Beziehungen unterhält. Es ist daher folgerichtig, in einem solchen Fall dem Ort den Vorzug zu geben, an dem die Schuldnergesellschaft zum Zeitpunkt ihrer Löschung und der Einstellung jeglicher Tätigkeit den letzten Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen hatte.

Somit ist auf den zweiten Teil der ersten Frage, die zweite Frage und den ersten Teil der dritten Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung im Hinblick auf die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft wie folgt auszulegen ist:

–Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, der Vorzug zu geben. Wenn sich die Verwaltungs‑ und Kontrollorgane einer Gesellschaft am Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes befinden und die Verwaltungsentscheidungen der Gesellschaft in durch Dritte feststellbarer Weise an diesem Ort getroffen werden, lässt sich die in dieser Vorschrift aufgestellte Vermutung nicht widerlegen. Befindet sich der Ort der Hauptverwaltung einer Gesellschaft nicht an ihrem satzungsmäßigen Sitz, können das Vorhandensein von Gesellschaftsaktiva und das Bestehen von Verträgen über deren finanzielle Nutzung in einem anderen Mitgliedstaat als dem des satzungsmäßigen Sitzes der Gesellschaft nur dann als zur Widerlegung dieser Vermutung ausreichende Faktoren angesehen werden, wenn eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren die von Dritten überprüfbare Feststellung zulässt, dass sich der tatsächliche Mittelpunkt der Verwaltung und der Kontrolle der Gesellschaft sowie der Verwaltung ihrer Interessen in diesem anderen Mitgliedstaat befindet;

–wird der satzungsmäßige Sitz einer Schuldnergesellschaft verlegt, bevor ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wird, wird vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Gesellschaft am Ort ihres neuen satzungsmäßigen Sitzes befindet.

 Zum zweiten Teil der dritten Frage

Mit dem zweiten Teil der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Begriff „Niederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung auszulegen ist.

Dazu ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 2 Buchst. h der Verordnung der Begriff der Niederlassung als jeder Tätigkeitsort definiert wird, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt.

Dass die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dieser Definition mit dem Vorhandensein von Personal verknüpft wird, zeigt, dass ein Mindestmaß an Organisation und eine gewisse Stabilität erforderlich sind. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte oder von Bankkonten grundsätzlich nicht den Erfordernissen für eine Qualifizierung als „Niederlassung“ genügt.

Da das Bestehen einer Niederlassung im Gebiet eines Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung die Zuständigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats zur Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners zur Folge hat, ist davon auszugehen, dass es ebenso wie die Verortung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen auf der Grundlage objektiver und durch Dritte feststellbarer Umstände beurteilt werden muss, damit die Rechtssicherheit und die Vorhersehbarkeit garantiert sind.

Somit ist auf den zweiten Teil der dritten Frage zu antworten, dass der Begriff „Niederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung dahin gehend auszulegen ist, dass er die Existenz einer auf die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgerichteten Struktur mit einem Mindestmaß an Organisation und einer gewissen Stabilität erfordert. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte oder von Bankkonten genügt dieser Definition grundsätzlich nicht.

 Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Es ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Verfahrensvorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof entspricht.

2. Der Begriff „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist unter Bezugnahme auf das Unionsrecht auszulegen.

3. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist im Hinblick auf die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft wie folgt auszulegen:

–Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, der Vorzug zu geben. Wenn sich die Verwaltungs‑ und Kontrollorgane einer Gesellschaft am Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes befinden und die Verwaltungsentscheidungen der Gesellschaft in durch Dritte feststellbarer Weise an diesem Ort getroffen werden, lässt sich die in dieser Vorschrift aufgestellte Vermutung nicht widerlegen. Befindet sich der Ort der Hauptverwaltung einer Gesellschaft nicht an ihrem satzungsmäßigen Sitz, können das Vorhandensein von Gesellschaftsaktiva und das Bestehen von Verträgen über deren finanzielle Nutzung in einem anderen Mitgliedstaat als dem des satzungsmäßigen Sitzes der Gesellschaft nur dann als zur Widerlegung dieser Vermutung ausreichende Faktoren angesehen werden, wenn eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren die von Dritten überprüfbare Feststellung zulässt, dass sich der tatsächliche Mittelpunkt der Verwaltung und der Kontrolle der Gesellschaft sowie der Verwaltung ihrer Interessen in diesem anderen Mitgliedstaat befindet;

–wird der satzungsmäßige Sitz einer Schuldnergesellschaft verlegt, bevor ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wird, wird vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Gesellschaft am Ort ihres neuen satzungsmäßigen Sitzes befindet.

4. Der Begriff „Niederlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung ist dahin gehend auszulegen, dass er die Existenz einer auf die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgerichteten Struktur mit einem Mindestmaß an Organisation und einer gewissen Stabilität erfordert. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte oder von Bankkonten genügt dieser Definition grundsätzlich nicht.

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Die BGH-Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung hat sich geändert. Das Urteil vom 6. Mai 2021 (IX ZR 72/20) erhöhte die Anforderungen an den Vorsatz des Schuldners für eine Gläubigerbenachteiligung. Kenntnis einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit ist nur noch ein Indiz, abhängig von Tiefe und Dauer der Zahlungsunfähigkeit. Drohende Zahlungsunfähigkeit reicht allein nicht mehr aus, es bedarf weiterer Indizien. Das Urteil vom 10. Februar 2022 erhöhte die Beweislast zu Gunsten der Anfechtungsgegner. Die Urteile vom 3. März 2022 betonen die Bedeutung der insolvenzrechtlichen Überschuldung und weiterer Indizien für den Vorsatz. 
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