Verwaltungsgericht Münster Beschluss, 25. Juni 2014 - 9 L 465/14.A
Gericht
Tenor
Der Beschluss des Gerichts gleichen Rubrums vom 7. Februar 2014 – 9 L 2/14.A – wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 9 K 4/14.A der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. Dezember 2013 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des – gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Der Beschlusstenor soll den Beteiligten und dem Landrat des Kreises Coesfeld – Abt. 32 , Gz. 133 60 50/10879 – unverzüglich vorab per Telefax bekanntgegeben werden.
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G r ü n d e :
2Der gemäß § 80 Abs. 7 VwGO zu beurteilende Abänderungsantrag hat Erfolg.
3Mit dem zur Begründung des Abänderungsantrags angebrachten Vorbringen hat die Antragstellerin hinreichend glaubhaft gemacht, dass sich die Sach- und Rechtslage, die Gegenstand des Beschlusses des Gerichts vom 7. Februar 2014 – 9 L 2/14.A gewesen ist, nachträglich zu ihren Gunsten in einer Weise geändert hat, die nunmehr ausnahmsweise zu einer zu ihren Gunsten ausfallenden Abwägung der widerstreitenden Interessen (§ 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, §§ 75 Abs. 1, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG) führt.
4Nach der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes möglichen und gebotenen Überprüfungsdichte erweist sich der Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. Dezember 2013, wonach der am 25. Januar 2013 gestellte Asylantrag der Antragstellerin unzulässig sei und ihre Abschiebung nach Italien angeordnet wird, im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über den Abänderungsantrag (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) als rechtswidrig und die Rechte der Antragstellerin verletzend.
5Solches folgt allerdings nicht aus dem jetzigen Vorbringen der Antragstellerin, ihre Rückführung nach Italien, wo sie nach den Feststellungen der Antragsgegnerin in den Jahren 2008 und 2010 bereits um Asyl nachgesucht hat, sei im Hinblick auf ihren zwischenzeitlichen Gesundheitszustand sowie ihre nunmehr bestehende Schwangerschaft einerseits und eine derzeitige Überlastung des italienischen Asylsystems andererseits, die einen für sie hinreichenden Zugang zu Unterkunft und ärztliche Versorgung nicht sicherstelle, nicht gewährleistet. Die auf den derzeitigen Gesundheitszustand der Antragstellerin bezogen vorgelegten Entlassungsbriefe nach stationären Behandlungen sowie die sonst zu den Gerichtsakten gereichten ärztlichen Äußerungen einschließlich der Untersuchungsberichte, die den beigezogenen Akten des Ausländeramtes des Landrates des Kreises D. entnommen werden können, zeigen gesundheitliche Defizite bzw. Zustände der Antragstellerin , die aufgrund systemischer Mängel in Italien, die im konkreten Fall der Antragstellerin dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden oder sonstwie unzumutbaren Behandlung führen könnten (Maßstab nach BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 -), auch für den jetzigen Zeitpunkt nicht auf. Gleiches gilt in Bezug auf die – ärztlich nicht als Risikoschwangerschaft eingestufte - Schwangerschaft der Antragstellerin (derzeit etwa in der 9. Schwangerschaftswoche).
6Beachtlich veränderte Umstände folgen jedoch daraus, dass, wie von der Antragstellerin auch vorgetragen worden ist, die Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d), Abs. 2 Satz 1 der hier noch anwendbaren Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-VO),
7vgl. gleichgerichtet Art 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Dublin III-VO,
8inzwischen abgelaufen ist und eine beachtliche Fristverlängerung für die Überstellung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO) vom Gericht nicht festgestellt werden kann. Damit ist mittlerweile nicht mehr die Republik Italien, sondern die Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylgesuchs der Antragstellerin zuständig.
9Die regelmäßige Überstellungsfrist von sechs Monaten nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO begann – wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht – mit Ablauf der zweiwöchigen Frist des Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) letzter Satz Dublin II-VO, innerhalb der sich die Republik Italien nicht zu dem auf Treffer im Eurodac-System gestützten Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin vom 26. November 2013 geäußert hat, hier mithin am 10. Dezember 2013. Die Überstellungsfrist lief damit am 10. Juni 2014 ab. Das seinerzeit durchgeführte gerichtliche Eilverfahren hat auf den Lauf der Frist keine Auswirkungen gehabt.
10Zwar sieht Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO vor, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist unter bestimmten Umständen verlängert werden kann, hier insbesondere auf höchstens achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Insoweit unterliegt es bereits Zweifeln, ob im Falle der Antragstellerin von einem solchen Flüchtigsein gesprochen werden kann. Sie hat nach dem Inhalt der beigezogenen Ausländerakte zwar am 25. Mai 2014 (einen Tag vor dem geplanten Überstellungstermin) das Krankenhaus, in das sie sich zuvor begeben hatte, mit unbekanntem Ziel verlassen und will sich danach nach eigenen Angaben in den folgenden Tagen außerhalb des ihr gestatteten Aufenthaltsbereichs aufgehalten haben. Sie war deshalb am 26. Mai 2014 zur Festnahme ausgeschrieben worden. Am 10. Juni 2014 ist sie dann jedoch wieder bei dem Bürgermeister der Stadt D. wegen der Gewährung von Leistungen vorstellig geworden mit der Angabe, sich vom 26. Mai bis 5. Juni 2014 in E. bei einer ihr unbekannten Person aufgehalten zu haben. Ob dieser Geschehensablauf das Merkmal eines „Flüchtigseins“ ausfüllt, mag letztlich offen bleiben. Denn jedenfalls lässt sich weder der Antragserwiderung der Antragsgegnerin noch den dem Gericht vorliegenden umfangreichen Verwaltungsvorgängen einschließlich der Ausländerakte entnehmen, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist über den 10. Juni 2014 hinaus in beachtlicher Weise durch die Antragsgegnerin bewirkt worden ist. Wie auch aus Art. 9 Abs. 2 der VO 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) 343/2003 des Rates in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zu entnehmen ist,
11vgl. auch Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, ZAR 2014 5, 12 m. w. N.,
12tritt die Fristverlängerung bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen nicht etwa automatisch ein. Sie setzt vielmehr neben einer aktenkundig zu machenden Entscheidung der Antragsgegnerin (eine solche mag in der Mitteilung an das Ausländeramt vom 26. Mai 2014 zu sehen sein) jedenfalls auch voraus, dass die Antragsgegnerin entsprechend ihrer Verpflichtung innerhalb der noch offenen sechsmonatigen Frist den zuständigen Mitgliedsstaat darüber unterrichtet. Eine solche Unterrichtung der Republik Italien – und zwar bis zum 10. Juni 2014 - kann nicht festgestellt werden. Das Gericht muss dabei für das Eilverfahren von der Vollständigkeit der ihr anforderungsgemäß von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge ausgehen. Diese – und die ergänzend angeforderten Akten der Ausländerbehörde- zeigen eine solche Unterrichtung nicht auf. Entsprechende Nachweise beizubringen wäre auch im Hinblick auf die hierauf bezogene Rüge in der Antragsschrift für die Antragsgegnerin veranlasst gewesen. Dies gilt umso mehr, als das Ausländeramt dem Gericht noch unter dem 20. Mai 2014 mitgeteilt hat, dass die Antragstellerin nunmehr so schnell wie möglich aus der Haft heraus nach Italien überstellt werden soll und die Fluganforderung bereits erfolgt sei.
13Die Antragstellerin kann sich auf diesen Mangel auch berufen. Er führt dazu, dass nunmehr die Zuständigkeit zur Überprüfung ihres Asylgesuchs auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 10. Dezember 2013 ausgeführt hat, in einer Situation, in der der Mitgliedstaat der Aufnahme zustimmt, könne der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums (Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO) nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen geltend macht,
14– C-394/12 – Abdullahi, Rdn. 60, juris; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 – juris mit Anmerkung Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014 Anm. 3 ,
15bezieht sich dies bei der im vorliegenden Verfahren zugrunde zu legenden Überprüfungsdichte entsprechend der vom EuGH beantworteten Vorlagefrage lediglich auf die Anwendung der in Kapitel III der Verordnung genannten Kriterien, nicht jedoch auf den nachfolgenden Ablauf des Überstellungsverfahrens und die dieses – mit Sanktionscharakter – ausfüllenden Normen.
16So auch VG Münster, Beschluss vom 16. Juni 2014 – 1 L 442/14.A -; die Frage nach der Herleitung subjektiver Rechte aus den Fristbestimmungen der Dublin II-VO offenlassend: VG Berlin, Beschluss vom 13. Januar 2011 – 33 L 530.10.A -, juris.
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfg.
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.