Verwaltungsgericht Köln Urteil, 10. Nov. 2016 - 1 K 839/15.A
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 04.02.2015 wird aufgehoben.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.
1
Tatbestand
2Der am 00.00.0000 geborene Kläger zu 1. ist der Vater der Kläger zu 2. und zu 3. Der Kläger zu 2. ist am 00.00.0000 geboren, der Kläger zu 3. am 00.00.0000. Die Kläger stammen aus Priština und sind kosovarischer Staatsangehörigkeit. Ihre Eltern bzw. Großeltern sind die Kläger des Verfahrens VG Köln 1 K 838/16.A.
3Die Kläger reisten auf dem Landweg u.a. über Ungarn in das Bundesgebiet ein und stellten am 10.11.2014 unter Vorlage von Personaldokumenten einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte. Da nach dem Ergebnis der ersten Befragung Anhaltspunkte für eine Zuständigkeit Ungarns zur Durchführung des Asylverfahrens gegeben waren, richtete das Bundesamt am 10.12.2014 ein Übernahmeersuchen an die ungarischen Behörden. Der Kläger habe am 14.10.2014 in Ungarn einen Asylantrag gestellt. Am 16.12.2015 erklärte die ungarische Regierung, Ungarn erkenne die Verpflichtung zur Rücknahme des Klägers an. Er habe am 13.10.2014 einen Asylantrag gestellt, sei in Begleitung seiner beiden Söhne gewesen. Alle drei Personen seien aber alsbald verschwunden, und das Verfahren sei am 11.11.2014 eingestellt worden.
4Daraufhin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 04.02.2015, gestützt auf §§ 27a, 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, fest, dass der Asylantrag der Kläger unzulässig sei (Ziffer 1.) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Ungarn an (Ziffer 2.).
5Am 11.02.2015 haben die Kläger hiergegen Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung gestellt. Mit Beschluss vom 30.04.2015 – 1 L 358/15.A – hat das Gericht dem Eilantrag entsprochen.
6Die Kläger beantragen,
7den Bescheid der Beklagten vom 04.02.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und im Verfahren 1 L 357/15.A sowie den der jeweils beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
11Entscheidungsgründe
12Das Gericht konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO.
13Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und begründet.
14Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 04.02.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Bundesamt hat zu Unrecht die Asylanträge der Kläger nach § 27a AsylG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die Abschiebung der Kläger nach Ungarn angeordnet.
15Die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig unter Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylG, rechtswidrig, weil sie nicht im Einklang mit § 27a AsylG steht. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Zwar bestand hier nach Art. 18 Abs. 1 b der Dublin-III-VO, die im vorliegenden Fall nach Art. 49 Dublin-III-VO Anwendung findet, zunächst eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Asylanträge der Kläger, gleichwohl ist heute die Beklagte auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Prüfung des Begehrens der Kläger zuständig. Denn die Überstellung nach Ungarn erweist sich als unmöglich, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat der Europäischen Union systemische Schwachstellen aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen und die weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen, vgl. Art. 21 und 23 Dublin-III-VO, keinen Erfolg verspricht. Auf die den Beteiligten bekannte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Köln,
16vgl. Urteile vom 15.07.2015 - 3 K 2005/15.A –, vom 08.09.2015– 18 K 3798/15.A –, vom 22.12.2015 – 2 K 3464/15.A –, vom07.03.2016 – 16 K 3587/15.A –, vom 07.03.2016 – 16 K 3587/15.A –und vom 27.10.2016 – 16 K 7084/15.A,
17wird zur Vermeidung entbehrlicher Wiederholungen Bezug genommen.
18Die Kammer schließt sich dieser Einschätzung an. Es ist nichts vorgetragen oder er-sichtlich, dass sich die maßgeblichen Umstände in Ungarn aktuell nennenswert (posi-tiv) geändert hätten und keine systemischen Mängel mehr bestehen. Neuere Erkenntnisse, die eine andere Beurteilung gebieten, liegen nach Einschätzung der Kammer nicht vor. Auch im Oktober 2016 leidet das gesamte Asylhaftsystem in Ungarn an so gravierenden Mängeln, dass die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO nach Auffassung des VGH Baden-Württemberg,
19vgl. Urteil vom 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, juris,
20erfüllt sind und selbst einem alleinstehenden männlichen Schutzsuchenden nicht zugemutet werden können soll, in Ungarn ein Verfahren auf Gewährung internationalen Schutzes zu betreiben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war in seiner Entscheidung vom 03.07.2014 (71932/12) zunächst davon ausgegangen, dass die Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn gegenüber der bis 2013 geltenden dortigen Rechtslage nicht mehr durch schwerwiegende Mängel gekennzeichnet gewesen sei. Aktuellere Erkenntnismittel,
21u.a. UNHCR, Bericht vom 07.01.2015,
22berichten allerdings wieder von gravierenden Mängeln der ungarischen Rechtsprechungspraxis, und eine neuere Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 05.07.2016 (Nr. 9912/15) belegt, dass das Gericht die ungarische Inhaftierungspraxis bemängelt und zumindest einem davon betroffenen Asylsuchenden, der einer sogenannten „verletzlichen Gruppe“ angehört, einen Ersatzanspruch wegen eines immateriellen Schadens zugesprochen hat,
23vgl. dazu EGMR, Entscheidung vom 05.07.2016 (Nr. 9912/15), RZ. 49f des amtlichen Abdrucks und VGH Baden-Württemberg a.a.O., RZ 34.
24Die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn auf der Grundlage von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist aus den vorstehenden Gründen ebenfalls aufzuheben.
25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 10. Nov. 2016 - 1 K 839/15.A
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(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.
Tenor
Den Antragstellern wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe bewilligt.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 1 K 839/15.A gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.02.2015 unter Ziffer 2. verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe
2Den Antragstellern war Prozesskostenhilfe antragsgemäß zu bewilligen, weil ihre Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen Erfolgsaussichten bietet.
3Der schriftsätzlich sinngemäß gestellte Antrag der Antragsteller,
4die aufschiebende Wirkung der gegen die im Bescheid des Bun für Migration und Flüchtlinge vom 04.02.2015 erhobenen Klage – 1 K 839/15.A – anzuordnen,
5hat als Antrag nach § 34a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) i.V.m. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgericht (VwGO) Erfolg.
6Die Anfechtungsklage gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ausgesprochene Abschiebungsanordnung hat keine aufschiebende Wirkung, vgl. § 75 AsylVfG. Zwar kann das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Das setzt aber voraus, dass das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist der Fall, wenn sich der angegriffene Verwaltungsakt als rechtswidrig erweist oder eine von den Erfolgsaussichten losgelöste Interessenabwägung den Vorrang des Aussetzungsinteresses ergibt.
7Zwar kann im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend festgestellt werden, ob die angegriffene Entscheidung der Antragsgegnerin, den Asylantrag der Antragsteller gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abzulehnen und gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ihre Abschiebung nach Ungarn anzuordnen, rechtmäßig ist oder nicht. Insoweit bedarf es im Hauptsacheverfahren voraussichtlich der weiteren Aufklärung, ob das ungarische Asylsystem systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung aufweist, die einer Überstellung der Antragstellerin nach Ungarn entgegenstehen. Allerdings gibt es nach derzeitigem Erkenntnisstand hierfür zumindest erhebliche Anhaltspunkte.
8Hierbei ist auf die Umstände abzustellen, die auf die Situation der Antragsteller zutreffen,
9vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 07.03.2014, - 1 A 21/12 -, juris.
10Dies ist vorliegend die Situation von Dublin-Rückkehrern, die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben und dann in die Bundesrepublik Deutschland weitergereist sind. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller zu 1.) Vater der minderjährigen Antragsteller zu 2.) und 3.), sie also als Familie nach Ungarn zurückkehren würden.
11Maßgeblich ist das in Ungarn seit dem 01.07.2013 gültige Asylrechtssystem, das umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylsuchenden (sog. asylum detention) vorsieht. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sich in seinem Urteil vom 03.07.2014 – N. v. Austria – umfassend mit dem ungarischen Asylsystem nach dem 01.07.2013 auseinandergesetzt und im Ergebnis festgestellt, dass nach den ihm vorliegenden Länderberichten die Situation von Asylsuchenden in Ungarn und im besonderen von Dublin-Rückkehrern keine Anhaltspunkte für systemische Schwachstellen des ungarischen Asylsystem und insbesondere des Asylhaftsystems aufweisen,
12vgl. EGMR, Urteil vom 06.06.2013, Mohammed ./. Österreich, Nr. 2283/12, Rn. 32-50, 65, 69 f., 74 f. (in Englischer Sprache; abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/Pages/search.aspx#{%22fulltext%22:[%22Mohammadi%22],%22itemid%22:[%22001-145233%22]} .
13Nach aktuellen Berichten des UNHCR und von Pro Asyl wird von der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierungsmöglichkeit von Asylsuchenden bei Dublin-Rückkehrern jedoch nahezu flächendeckend und ohne eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung Gebrauch gemacht,
14vgl. Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu Frage 3, S. 2, abrufbar unter http://www.frnrw.de/index.php/inhaltliche-themen/eu-fluechtlingspolitik/dublin-iii/item/3952-unhcr-stellungnahme-zur-inhaftierung-von-dublin-rueckkehrern-in-ungarn, vgl. außerdem Auskunft von Pro Asyl an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014, zu Frage 3.b), S. 2.
15Nach den vorliegenden neuesten Erkenntnissen dürfte eine Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern sogar bei Familien mit minderjährigen Kindern jedenfalls seit September 2014 nicht mehr ausgeschlossen sein, sondern von der nach dem ungarischen „Asylum Act“ bestehenden Möglichkeit einer Inhaftierung von Familien mit Kindern von bis zu 30 Tagen Gebrauch gemacht werden,
16vgl. Auskunft von ProAsyl an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014 im Verfahren 13 K 501/14.A zu Frage 5 j); Aida, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, abrufbar unter http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, S. 54.
17Hinzu kommt, dass nicht nur hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung, sondern auch bezüglich der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Haftanordnung Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, insbesondere willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Inhaftierungspraxis bestehen,
18vgl. Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu Frage 4, S. 2, und zu Frage 11, S. 6 ff., abrufbar unter http://www.frnrw.de/index.php/inhaltliche-themen/eu-fluechtlingspolitik/dublin-iii/item/3952-unhcr-stellungnahme-zur-inhaftierung-von-dublin-rueckkehrern-in-ungarn, sowie Auskunft von Pro Asyl an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014, zu Frage 9, S. 8, und zu Frage 11, S. 9 f,
19Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse ist das erkennende Gericht der Auffassung, dass auch unter Berücksichtigung der oben zitierten Rechtsprechung des EGMR derzeit jedenfalls ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn seit der Rechtsänderung vom 01.07.2013 in Ungarn systemische Schwachstellen im Sinne von § 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-Verordnung aufweist,
20vgl. so auch u.a.: VG Frankfurt, Beschluss vom 15.10.2014 – 7 L 3004/14.F.A. –, juris; VG München, Beschluss vom 31.10.2014 – M 16 S 14.50535 –, juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 11.12.2014 – 9 B 449/14 –, juris; VG Köln, Beschluss vom 25.02.2014, - 17 L 238/15.A; VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015, - 3 V 145/15 -, juris, jeweils m.w.N.; zur anderen Ansicht vgl. die umfangreichen Nachweise im Beschluss des VG Bremen, a.a.O., Rn. 17,
21was im Hauptsacheverfahren noch aufzuklären sein wird.
22Angesichts dessen, dass mögliche Grund- und Menschenrechtsverletzungen der Antragsteller bei einer Abschiebung nach Ungarn in Rede stehen, fällt die gebotene Abwägung des privaten Interesses, vorerst von einer Abschiebung nach Ungarn verschont zu bleiben, mit dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung zugunsten der Antragsteller aus.
23Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.
(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in Singar, Kreis Mosul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 12.01.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 23.02.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am 23.02.2015 gab er an, er habe den Irak am 31.12.2014 verlassen. Er sei über Syrien, die Türkei und unbekannte Länder nach Deutschland gereist. Er sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, weil hier die Menschenrechte gewahrt würden. Er sei körperlich behindert und erhoffe sich in Deutschland bessere Möglichkeiten.
3Die anschließend durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab Treffer für Ungarn und Österreich. Daraufhin teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger mit Schreiben vom 27.02.2015 mit, dass ein Dublin-Verfahren mit dem Ziel der Rückführung nach Ungarn eingeleitet werde. Unter demselben Datum richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) unter Hinweis auf den dort am 10.01.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.03.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 17.03.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5In den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ist kein Zustellungsnachweis enthalten.
6Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 02.04.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sein Prozessbevollmächtigter vorgetragen hat: Der Kläger habe bei einem Bombenattentat im Irak ein Bein und ein Auge verloren. Seitdem leide er unter einem Traumata, das ihn nachts nicht schlafen lasse. In Ungarn sei er medizinisch nicht ausreichend behandelt worden. Außerdem habe man ihn mehrere Tage lang in ein Gefängnis gesperrt. Bei einer Rückführung nach Ungarn müsse der Kläger mit erneuter Inhaftierung rechnen. Das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln. Die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
12Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet.
17Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
18Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
19Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
20Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
21Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (im Folgenden: GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
23Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
24Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
25Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
27Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle – systemische – Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
28Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 18.03.2015 – A 11 S 2042/14 – und vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, juris; Lübbe, a. a. O..
29Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
30Vgl. Lübbe, a. a. O.
31Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
33Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
34Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
35Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
36vgl. Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Bremen
37mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen.
38Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
39Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
40Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 01.07.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen,
41vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf.
42Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh.
43Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
44Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
45Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
46Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf
47Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
48So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
49Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
50Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
51Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
52Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
53Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
54Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
55vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf
56an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
57Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
58So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A –, VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –, VG München, Beschluss vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 – 23 L 899.14 A – jeweils m. w. N., alle juris; a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.2015 – 13 K 501/14.A – (nicht rechtskräftig), VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.06.2015 – 7a L 1208/15.A –, BayVGH, Beschluss vom 12.06.2015 – 13a ZB 15.50097 – alle juris.
59Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60So UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt.
62Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit.
63Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein,
64vgl. Pressemitteilung des ungarischen Minstry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”
65Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen.
66So die Pressemitteilung des UNHCR vom 02.07.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards“.
67Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll,
68vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35.000 Aufnahmeplätzen und 7.900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.05.2015 – 8 K 1694/15.A – juris Rz. 40 ff.
69Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
70Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen,
71vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
72Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
73Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
74Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Tenor
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.6.2015 wird aufgehoben.
Von den Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger und die Beklagte jeweils die Hälfte.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Bashiqa, Provinz Ninive, Irak geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Er stellte am 10.3.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am selben Tag gab er an, er habe den Irak am 6.2.2015 verlassen und sei über die Türkei und ihm unbekannte Länder am 3.3.2015 in einem Transporter in Deutschland ein gereist. Die am 12.3.2015 durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 21.4.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf die dortige Registrierung des Klägers. Am 29.5.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu und teilte mit, der Kläger habe am 26.2.2015 einen Asylantrag gestellt; das Verfahren sei aber am 7.4.2015 eingestellt worden, weil er kurz nach Asylantragstellung untergetaucht sei.
3Mit Bescheid vom 18.6.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
4Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 2.7.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er unter Verweis auf seinen Eilrechtsschutzantrag vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln; die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
5Nach Rücknahme der auf die Anerkennung des Klägers als Flüchtling, hilfsweise auf Gewährung subsidiären europarechtlichen oder nationalen Flüchtlingsschutzes gerichteten Verpflichtungsklage beantragt der Kläger nunmehr,
6den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.6.2015 aufzuheben.
7Die Beklagte beantragt,
8die Klage abzuweisen.
9Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
10Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom 2.7.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 1653/15. A mit Beschluss vom 24.7.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
11E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
12Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Die danach noch anhängige Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
13vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
14und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
15Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
16Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
17Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
18Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
19Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
20Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
21Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
22Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
23Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
24Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
25Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
26Vgl. Lübbe, a. a. O.
27Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
28Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
29Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
30Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
313. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
32an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
33Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
34vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
35mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
36Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
37Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
38UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
39Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
40UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
41Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
42UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
43Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
44So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
45Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
46UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
47Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
48Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
49UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
50Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
51vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
52an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
53Detention Guidelines a. a. O.,
54ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
55Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
56So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
57Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
58Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
59ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
62Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
63entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
64Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
65Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
66Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
67So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
68Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
69Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
70Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
71Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
72Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
73Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
74FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
75Seit Jahresbeginn wurden knapp 100.000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
76FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
77Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
78Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
79die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
80DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
81Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
82PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
83Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
84Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
85Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
86Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
87Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
88PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
89Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
91Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
92Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
93Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
94AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
95Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
97Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
98Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
99Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
100AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
101Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
102Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
103Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
105Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
106Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
107Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
108Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
109Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
110AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
111Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
112Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK.
113Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
114Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
115Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
116Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
117Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
118Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
119Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass zumindest die Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
120Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
121Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d:
2Der in Ningraha/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste am 12. Februar 2015 in das Bundesgebiet und stellte hier am 10. März 2015 den Asylantrag.
3Durch Bescheid vom 28. April 2015 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziff. 1) und ordnete dessen Abschiebung nach Ungarn an (Ziff. 2). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, nach Abgleich der Daten des Klägers in der EURODAC-Datenbank seien Anhaltspunkte für die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylbegehrens nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) gegeben. Auf ein entsprechendes Ersuchen des Bundesamtes vom 15. April 2015 hätten die ungarischen Behörden sich durch Schreiben vom 21. April 2015 (Eingangsdatum: 27. April 2015) bereit erklärt, den Kläger nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO wieder aufzunehmen. Unter dem 3. Juni 2015 veranlasste das Bundesamt die Zustellung des Bescheides an die aktuelle Anschrift des Klägers.
4Der Kläger hat am 15. Juni 2015 Klage erhoben.
5Er macht geltend, seine Überstellung nach Ungarn sei rechtswidrig. Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Staat wiesen nämlich systemische Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Zuständig für die Prüfung des Antrags sei deshalb die Beklagte. Im Übrigen sei er minderjährig und unbegleitet in das Bundesgebiet eingereist, weshalb auf ihn Art. 8 Dublin III-VO anzuwenden sei, wonach die Beklagte für die Prüfung seines Begehrens ebenfalls zuständig sei.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2015 aufzuheben.
8,
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Zur Begründung verweist sie auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung.
12Das Gericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung durch Beschluss vom 23. Juni 2015 (Az: 2 L 1511/15.A) angeordnet.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahren Az: 2 L 1511/15.A sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
15Die zulässige Anfechtungsklage,
16zu deren Statthaftigkeit auch, soweit es die Aufhebung von Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides geht, vgl. jetzt BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 1 C 32.14 -, juris Rz. 13 ff.,
17ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 28. April 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht den Asylantrag des Klägers nach § 27 a AsylVfG (jetzt AsylG) als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (jetzt AsylG) die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
181. Die Ablehnung des Antrags des Klägers als unzulässig unter Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig, weil sie nicht im Einklang mit § 27 a AsylG steht. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Zwar bestand hier formal nach Art. 18 Abs. 1 b der Dublin III-VO, die im vorliegenden Fall Anwendung findet (vgl. Art. 49 Dublin III-VO), eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist heute die Beklagte für die Prüfung des Begehrens des Klägers zuständig. Insoweit bedarf es keiner Entscheidung des Gerichts, ob sich die Zuständigkeit der Beklagten aus Art. 8 Dublin III-VO ergibt, wie der Kläger geltend macht. Im heute maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist die Beklagte jedenfalls auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Denn seine Überstellung nach Ungarn erweist sich als unmöglich, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat der Europäischen Union systemische Schwachstellen aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen und die weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen (vgl. Art. 21 und 23 Dublin III-VO) keinen Erfolg verspricht.
19a) Die im vorliegenden Fall Anwendung findende Dublin III-VO beruht auf der Erwartung, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden.
20Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
21Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
22Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
23Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK kommt.
24Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
25Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
26Vgl. Lübbe, a. a. O.
27Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
28Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
29Für die Rechtsfrage einer Verletzung von Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
30b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn schon wegen der dort aktuell gegebenen Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die um internationalen Schutz nachsuchen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta und der EMRK droht.
31Ungarn ist heute an die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen - Aufnahmerichtlinie (ABl. L 180 S. 96) - festgelegten Mindeststandards gebunden. Dieses Regelwerk soll u.a. sicherstellen, dass Antragstellern ein menschenwürdiges Leben in den Mitgliedstaaten ermöglicht wird und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten (vgl. den Erwägungsgrund 11 der Richtlinie). Antragsteller werden in einem Mitgliedstaat unmenschlich oder erniedrigend behandelt, wenn ihnen nicht die unerlässlichen Leistungen der Daseinsvorsorge gewährt werden, die ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich begrenzten Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, heranzuziehen.
32Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, unter Hinweis auf die Entscheidungen des EGMR vom 21. Januar 2011 – 30696/09 -, NVwZ 2011, 413 und des EuGH vom 27. Februar 2014 – C- 79/13 - juris; VG Oldenburg, Urteil vom 2.November 2015 – 12 A 2572/15 -, juris.
33Diesen Anspruch auf Befriedigung der Grundbedürfnisse haben nach der Aufnahmerichtlinie nicht nur besonders schutzbedürftige Personen wie Familien/Alleinstehende mit Kleinkindern oder Kranke mit besonderen medizinischen Versorgungsansprüchen, sondern alle Asylsuchenden und somit auch alleinstehende, junge und gesunde männliche Personen. Auch diese sind im dargestellten Umfang vor Obdachlosigkeit, Unterernährung, Gewalt und gesundheitsgefährdenden Umständen in Unterkünften zu schützen.
34Die Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die in Ungarn um internationalen Schutz nachsuchen, werden diesen Mindeststandards nach der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage nicht gerecht. In Ungarn herrschen mit Blick auf die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen extreme Kapazitätsprobleme. Bis zum 14. Juli 2015 sollen im Jahr 2015 78.000 Flüchtlinge registriert worden sein.
35Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”.
36Im September 2015 nannte die Europäische Kommission eine Zahl von inzwischen 98.072 Asylanträgen in Ungarn im Jahr 2015.
37Vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 2.November 2015 – 12 A 2572/15 -, juris Rz. 26.
38Inzwischen ist in der Presse sogar die Rede von mehr als 180.000 Asylbewerbern, die nach der Einreise in Ungarn registriert worden seien.
39Vgl. FAZ vom 12. November 2015 „Lob aus Wien, Warnungen aus Budapest“.
40Demgegenüber verfügt Ungarn über eine Aufnahmekapazität von höchstens 2.500 Plätzen für Flüchtlinge.
41Vgl. EASO, Beschreibungen des ungarischen Asylsystems, Stand März 2015; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Freiburg vom 12. März 2015.
42Es liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Begründung, dass bei einem derart eklatanten Missverhältnis eine auch nur annähernd menschenwürdige Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen objektiv nicht gewährleistet werden kann, diese im Gegenteil gezwungen sind, schutzlos auf der Straße oder in der freien Natur zu leben. In den der Kammer zu Verfügung stehenden Berichten wird dies ausdrücklich bestätigt. Human Rights Watch berichtet detailliert davon, dass in den Flüchtlingslagern in Ungarn „entsetzliche Zustände“ herrschten, der Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung sei nicht gewährleistet,
43vgl. Human Rights Watch Bericht vom 11. September 2015.
44Diese in Ungarn objektiv fehlenden Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten bedeuten allerdings noch nicht, dass eine systemische Schwachstelle im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO gegeben ist. Zum systemischen Mangel wird die festgestellte Schwachstelle erst dann, wenn der betroffene Mitgliedstaat nicht nur nicht in der Lage ist, sondern vor allem auch nicht den Willen zeigt, die Aufnahmebedingungen für Antragsteller zu verbessern, indem er sich erkennbar darum bemüht, die Unterkunftsmöglichkeiten und die Versorgung der Flüchtlinge nachhaltig zu verbessern.
45Ebenso VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris.
46So liegt der Fall allerdings hier. Der ungarische Staat ist offenkundig nicht willens, seine europarechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies zeigen die seit dem Sommer 2015 ergriffenen Maßnahmen der zuständigen ungarischen Stellen. Ungarn betreibt eine offene Politik der Abschottung gegen den Zuzug von Flüchtlingen und hat als erstes Land einen Grenzzaun zur Abwehr weiterer Flüchtlinge errichtet. Das Land hat erklärt, dass es eine nennenswerte Zuwanderung sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht wünsche und keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
47Aus den vielen Pressberichten vgl. nur Pro Asyl, Pressemitteilung vom 7. Juli 2015 „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; amnesty international, Fenced out – Hungary´s violations of the rights of refugees and migrants (Report von Oktober 2015); Die Welt vom 24. Juni 2015 „Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat“; SZ vom 24. Juni 2015 „Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren“; n-tv vom 29. August 2015 „Stacheldraht gegen Flüchtlinge – Ungarn stellt erste Grenz-Sperranlage fertig“; FAZ vom 1. September 2015 „ Ungarn schottet sich mit Stacheldraht ab“.
48Die aktuelle Flüchtlingskrise hat der ungarische Ministerpräsident als „ein deutsches Problem“ bezeichnet.
49Vgl. Zeit Online vom 3. September 2015.
50Das „Dublin System“ hat der ungarische Aussenminister in einer aktuellen Verlautbarung vom 11. November 2015 für „tot“ erklärt.
51Vgl. Pressemitteilung der ungarischen Regierung vom 11. November 2015, abrufbar unter http://www.kormany.hu/en/ministry-of-foreign-affairs-and-trade/news/dublin-system-is-dead-there-is-no-reason-why-rules-relating-to-repatriation-should-apply.; ferner FAZ vom 12. November 2015 „Lob aus Wien, Warnungen aus Budapest“.
52Ganz aktuell hat der ungarische Ministerpräsident Orban seine Haltung gegenüber Flüchtlingen zusammengefasst mit den Worten: „Wir wollen diese Menschen nicht haben.“
53Vgl. FAZ vom 15. Dezember 2015.
54Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass Antragstellern wie dem Kläger, die um internationalen Schutz nachsuchen, wegen der zur Zeit in Ungarn gegebenen Aufnahmebedingungen, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta und der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und es deshalb im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist, sie in diesen Staat zu überstellen.
55So auch VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris m.w.N. aus der Rechtsprechung; ferner VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A – juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris; a.A etwa VG Stade, Beschluss vom 4. November 2015 – 1 B 1749/15 – juris.
56Die Antwort der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2015 an die erkennende Kammer auf deren Beweisbeschlüsse in den Verfahren 2 K 6465/14.A und 2 K 6214/14.A steht dieser Bewertung nicht entgegen. Denn sie ist ohne belastbare Aussagekraft und deshalb nicht geeignet, die Überzeugung des Gerichts zu erschüttern. Die Kommission verlautbart in dieser Mitteilung zunächst selbst, dass die zuständige Generaldirektion wiederholt Erfahrungsberichte diverser Einrichtungen bekomme, die vor Ort in Ungarn tätig seien und die „Anlass zur Sorge in Bezug auf das Funktionieren des ungarischen Asylverfahrens“ gäben. Die Kommission sieht sich allerdings zur Zeit außerstande, zuverlässige und gültige Informationen über das tatsächliche Funktionieren des ungarischen Asylsystems zu geben, weist zugleich aber darauf hin, sie prüfe die Vereinbarkeit der von Ungarn vorgenommen Rechtsänderungen des nationalen Asylsystems und trete zu diesem Zweck mit den ungarischen Behörden in Kontakt.
57Ebenso wenig steht die Tatsache, dass es noch keine Empfehlung der UNHCR gibt, Überstellungen von Antragstellern nach Ungarn wegen der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen, der Einschätzung der Kammer entgegen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30. September 2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Es sei vielmehr – so der UNHCR - die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
58Vgl. UNHCR vom 30. September 2014 an das VG Bremen.
59Schließlich hindert auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) die Einschätzung des Gerichts nicht. Die Entscheidung des EGMR, dass ein Asylsuchender zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn nach den Maßgaben der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde, beruht im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zu den zur Zeit in Ungarn herrschenden Aufnahmebedingungen für Antragsteller belegen – offensichtlich nicht erfüllt.
60Ebenso VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A – juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris.
61Ob dem Kläger darüber hinaus auch wegen der in Ungarn bestehenden Inhaftierungspraxis und wegen der Haftbedingungen in diesem Land die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta droht und er auch deshalb nicht nach Ungarn überstellt werden darf,
62so etwa VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A – juris; ferner VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris; VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris; a.A. u.a. VG Stade, Beschluss vom 4. November 2015 – 1 B 1749/15 – juris,
63oder systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO aufgrund der Rechtsänderungen im ungarischen Asylrecht durch die Asylrechtsnovelle im August 2015 begründet werden,
64so VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2015 - 22 K 3263/15.A –,
65bedarf mit Blick auf die obigen Ausführungen keiner Entscheidung durch die Kammer.
662. Die unter Ziff. 2 des angefochtenen Bescheides weiterhin erlassene Abschiebungsanordnung nach Ungarn ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ebenfalls rechtswidrig und – weil den Kläger in seinen Rechten verletzend – nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Sie findet ihre Rechtsgrundlage heute nicht in § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
67a) Diese Voraussetzungen sind hier heute nicht gegeben. Wie das Gericht soeben dargelegt hat, ist Ungarn nicht der für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständige Staat im Sinne von § 27 a AsylG. Eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn als sicheren Drittstaat im Sinne von § 26 a AsylG scheidet ebenfalls aus. Denn die Drittstaatenregelung findet nach § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG keine Anwendung, wenn die Bundesrepublik Deutschland – wie dies hier der Fall ist – aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
68b) Die Abschiebungsanordnung ist unabhängig davon im Übrigen auch deshalb rechtswidrig, weil im Sinne von § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststeht, dass die Abschiebung des Klägers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Die Annahme, dass eine Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden kann, setzt die zuverlässige Prognose voraus, dass eine Überstellung des Antragstellers an den ersuchten Mitgliedstaat in nächster Zukunft tatsächlich möglich ist und durchgeführt werden kann. Abschiebungsanordnungen sollen nicht gewissermaßen auf Vorrat ausgesprochen werden, sondern als Akt der Verwaltungsvollstreckung Grundlage für eine zügige Überstellung des Antragstellers in den Zielstaat der Abschiebung sein. Damit unvereinbar ist - auch aus europarechtlicher Sicht - der Erlass einer Abschiebungsanordnung, deren tatsächlicher Vollzug in zeitlicher Hinsicht völlig ungewiss ist.
69Gerade so liegt der Fall aber hier. Denn eine Prognose, dass der Kläger in nächster Zukunft nach Ungarn überstellt werden kann, kann nicht verlässlich getroffen werden. Überstellt worden sind in diesem Jahr in den ersten Monaten von Deutschland nach Ungarn gemessen an der Zahl der Übernahmeersuchen maximal 2% der Flüchtlinge.
70Vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris; VG Freiburg, Urteil vom 13. Oktober 2015 – A 5 K 2328/13 – juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris;
71Diese extrem niedrige Zahl an Überstellungen hat sich offensichtlich auch in den Folgemonaten fortgesetzt. Dies folgt einmal aus der Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. November 2015 in den Verfahren 2 K 6465/14.A und 2 K 6214/14.A an die erkennende Kammer. Darin hat das Bundesamt auf entsprechende Nachfrage mitgeteilt, im Zeitraum vom 1. Juni 2015 bis zum 30. September 2015 seien insgesamt 65 Personen im Rahmen der Dublin-VO von Deutschland nach Ungarn überstellt worden. Diese insgesamt niedrige Zahl – so das Bundesamt selbst weiter – hänge auch mit der Kontingentierung von Überstellungen durch die ungarischen Behörden zusammen. Von Montag bis Donnerstag könnten täglich im Durchschnitt 12 Personen auf dem Luftweg im Rahmen des Dublin-Verfahrens zum Flughafen Budapest überstellt werden. Das Kontingent werde nur von Österreich nicht in Anspruch genommen, die österreichischen Behörden überstellten nämlich auf dem Landweg nach Ungarn. Die extrem niedrige Zahl an Überstellungen nach Ungarn wird weiterhin belegt durch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE – BT-Drucksache 18/6860 vom 30. November 2015. Danach hat Ungarn im 3. Quartal 2015 bei 4.303 von Deutschland gestellten Übernahmeersuchen in 2.570 Fällen die Zustimmung erteilt. Tatsächlich sind in diesem Zeitraum aber nur 40 Überstellungen erfolgt. Dies entspricht einer Überstellungsquote bezogen auf die erteilten Zustimmungen von nur 1,56 %.
72Mit Blick auf diese aufgezeigten faktischen Gegebenheiten kann nicht davon gesprochen werden, dass eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn in nächster Zukunft tatsächlich durchführbar ist. Es hängt nämlich wohl eher von Zufälligkeiten als von belastbaren Fakten ab, wann ein Flüchtling von Deutschland nach Ungarn abgeschoben wird, ob dies innerhalb eines Monats, eines Vierteljahres, eines Jahres oder innerhalb eines noch längeren Zeitraums geschieht. Eine derartige Verwaltungspraxis ist auch mit den Zielen der Dublin III-VO nicht zu vereinbaren. Aus Erwägungsgrund Nr. 5 dieser Verordnung folgt, dass dieses Regelungswerk insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen soll, „um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“ Dieser Erwägungsgrund stellt nicht den Schutz der Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten in den Vordergrund, sondern betont im Gegenteil aus Sicht der Antragsteller deren Interesse an einem effektiven Zugang zu einem Asylverfahren, welches innerhalb angemessener Frist abgeschlossen werden soll. Diese Verfahrensposition ist zugleich grundrechtlich aufgeladen, weil sie der zügigen Durchsetzung der subjektiven Rechte eines Antragstellers aus Art. 18 der Grundrechtecharta dient. Eine Abschiebungsanordnung, die diesen Maßgaben nicht Rechnung trägt, ist rechtswidrig und unterliegt der Aufhebung.
73Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Juni 2015 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand
2Der Kläger ist am 0. E. 1991, nach anderen Angaben erst 1996 in Teheran / Iran geboren und iranischer Staatsangehöriger mit persischer Volkszugehörigkeit. Er ist ledig und hat keine Kinder.
3Nach eigenen Angaben, die er im Rahmen seiner Anhörung vom 30. März 2015 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – im Folgenden: Bundesamt – gemacht hat, reiste der Kläger am 8. August 2014 nach Deutschland ein, nachdem er den Iran auf dem Landweg über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich verlassen habe. Die Reise habe insgesamt rund dreieinhalb Monate gedauert. In Griechenland und Ungarn seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden.
4Nach Aktenlage stellte der Kläger ebenfalls am 30. März 2015 seinen Asylantrag. Das Bundesamt ermittelte sodann im April 2015 zwei EURODAC-Treffer für Griechenland und Ungarn. Daraufhin ersuchte das Bundesamt die ungarischen Behörden am 4. Mai 2015 unter Berufung auf Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist – Dublin-III-VO – um eine Aufnahme des Klägers. Die ungarischen Behörden bestätigten zunächst den Empfang des Übernahmeersuchens und erklärten unter dem 18. Mai 2015 die Übernahme des Klägers.
5Bereits im Verwaltungsverfahren legte der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine Taufurkunde der Evangelischen Kreuzkirchengemeinde C. sowie mehrere Erklärungen von Mitgliedern der Kirchengemeinde vor.
6Am 2. Juni 2015 führte das Bundesamt eine Zweitbefragung des Klägers durch.
7Mit Bescheid des Bundesamtes vom 17. Juni 2015, dem Kläger zugestellt am 20. Juni 2015, stellte die Beklagte gestützt auf §§ 27a, 34a Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz – AsylVfG – fest, dass der Asylantrag des Klägers unzulässig ist und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an.
8Am 22. Juni 2015 hat der Kläger hiergegen Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung gestellt.
9Mit Beschluss vom 8. Juli 2015 hat die erkennende Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsordnung angeordnet (Az. 16 L 1574/15.A). Zur Begründung hat die Kammer auf die offenen Fragen zu systemischen Mängeln im Asylsystem Ungarns verwiesen.
10Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen u.a. vor, das Asylsystem Ungarns leide an Mängeln der Art, die eine Rücküberstellung des Klägers dorthin unmöglich machten. Die Beklagte müsse daher von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen und den Asylantrag des Klägers selbst prüfen.
11Der Kläger beantragt,
12den Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2015 aufzuheben.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
16Die Kammer hat die Beteiligten im Februar 2016 auf das mittlerweile rechtskräftige Urteil der 2. Kammer des VG Köln vom 22. Dezember 2015 hingewiesen und die Beklagte angefragt, ob im Hinblick darauf eine Klaglosstellung des Klägers in Betracht gezogen werde. Die Beklagte hat daraufhin erklärt, dass an der ablehnenden Entscheidung festgehalten werde.
17Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, auch durch den Einzelrichter erklärt.
18Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Streitakte im Verfahren 16 L 1574/15.A sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe
20Die Entscheidung ergeht nach Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) und durch den Berichterstatter als Einzelrichter, weil die Kammer ihm den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung übertragen hat.
21Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 17. Juni 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht den Asylantrag des Klägers nach § 27a AsylVfG (jetzt AsylG) als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (jetzt AsylG) die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
22I.
23Die Ablehnung des Antrags des Klägers als unzulässig unter Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig, weil sie nicht im Einklang mit § 27a AsylG steht. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Zwar bestand hier formal nach Art. 18 Abs. 1 b der Dublin-III-VO, die im vorliegenden Fall Anwendung findet (vgl. Art. 49 Dublin-III-VO), eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist heute die Beklagte für die Prüfung des Begehrens des Klägers zuständig. Im heute maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist die Beklagte jedenfalls auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Denn seine Überstellung nach Ungarn erweist sich als unmöglich, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat der Europäischen Union systemische Schwachstellen aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen und die weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen (vgl. Art. 21 und 23 Dublin-III-VO) keinen Erfolg verspricht.
24Das Gericht verweist insoweit auf die Ausführungen im rechtskräftigen Urteil der 2. Kammer,
25VG Köln, Urteil vom 22. Dezember 2015 – 2 K 3464/15.A, juris,
26deren Erwägungen sich die zur Entscheidung berufene Kammer vollständig zu Eigen macht:
27„a) Die im vorliegenden Fall Anwendung findende Dublin-III-VO beruht auf der Erwartung, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden.
28Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – Rs. C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E., juris; EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland und vom 04. November 2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel / Italien.
29Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
30Vgl. Lübbe, ZAR 2014, 105; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182.
31Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK kommt.
32Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 – 10 B 6.14, NVwZ 2014, 1039 und vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 2; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14, DVBl. 2015, 118.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, a. a. O. sowie vom 30. Mai 2013 – Rs. C-528/11, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung von Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn schon wegen der dort aktuell gegebenen Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die um internationalen Schutz nachsuchen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta und der EMRK droht.
39Ungarn ist heute an die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Aufnahmerichtlinie (ABl. L 180 S. 96) – festgelegten Mindeststandards gebunden. Dieses Regelwerk soll u.a. sicherstellen, dass Antragstellern ein menschenwürdiges Leben in den Mitgliedstaaten ermöglicht wird und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten (vgl. den Erwägungsgrund 11 der Richtlinie). Antragsteller werden in einem Mitgliedstaat unmenschlich oder erniedrigend behandelt, wenn ihnen nicht die unerlässlichen Leistungen der Daseinsvorsorge gewährt werden, die ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich begrenzten Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, heranzuziehen.
40Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A, juris, unter Hinweis auf die Entscheidungen des EGMR vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413 und des EuGH vom 27. Februar 2014 – Rs. C-79/13, juris; VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15, juris.
41Diesen Anspruch auf Befriedigung der Grundbedürfnisse haben nach der Aufnahmerichtlinie nicht nur besonders schutzbedürftige Personen wie Familien/Alleinstehende mit Kleinkindern oder Kranke mit besonderen medizinischen Versorgungsansprüchen, sondern alle Asylsuchenden und somit auch alleinstehende, junge und gesunde männliche Personen. Auch diese sind im dargestellten Umfang vor Obdachlosigkeit, Unterernährung, Gewalt und gesundheitsgefährdenden Umständen in Unterkünften zu schützen.
42Die Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die in Ungarn um internationalen Schutz nachsuchen, werden diesen Mindeststandards nach der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage nicht gerecht. In Ungarn herrschen mit Blick auf die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen extreme Kapazitätsprobleme. Bis zum 14. Juli 2015 sollen im Jahr 2015 78.000 Flüchtlinge registriert worden sein.
43Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14. Juli 2015 “Steady migratory pressure necessitates border fence" (http://www.kormany.hu/en/ministry-of-foreign-affairs-and-trade/news/steady-migratory-pressure-necessitates-border-fence, [abgerufen am 2. März 2016]).
44Im September 2015 nannte die Europäische Kommission eine Zahl von inzwischen 98.072 Asylanträgen in Ungarn im Jahr 2015.
45Vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15, juris-Rn. 26.
46Inzwischen ist in der Presse sogar die Rede von mehr als 180.000 Asylbewerbern, die nach der Einreise in Ungarn registriert worden seien.
47Vgl. FAZ vom 12. November 2015 „Lob aus Wien, Warnungen aus Budapest“ (http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/berliner-aeusserungen-zum-dublin-verfahren-lob-aus-wien-warnungen-aus-budapest-13907294.html, [abgerufen am 2. März 2016]).
48Demgegenüber verfügt Ungarn über eine Aufnahmekapazität von höchstens 2.500 Plätzen für Flüchtlinge.
49Vgl. EASO, Beschreibungen des ungarischen Asylsystems, Stand März 2015; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Freiburg vom 12. März 2015.
50Es liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Begründung, dass bei einem derart eklatanten Missverhältnis eine auch nur annähernd menschenwürdige Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen objektiv nicht gewährleistet werden kann, diese im Gegenteil gezwungen sind, schutzlos auf der Straße oder in der freien Natur zu leben. In den der Kammer zu Verfügung stehenden Berichten wird dies ausdrücklich bestätigt. Human Rights Watch berichtet detailliert davon, dass in den Flüchtlingslagern in Ungarn „entsetzliche Zustände“ herrschten, der Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung sei nicht gewährleistet,
51vgl. Human Rights Watch, Bericht vom 11. September 2015 (https://www.hrw.org/de/news/2015/09/11/ungarn-entsetzliche-zustande-fluchtlingslagern, [abgerufen am 2. März 2016]),
52Diese in Ungarn objektiv fehlenden Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten bedeuten allerdings noch nicht, dass eine systemische Schwachstelle im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO gegeben ist. Zum systemischen Mangel wird die festgestellte Schwachstelle erst dann, wenn der betroffene Mitgliedstaat nicht nur nicht in der Lage ist, sondern vor allem auch nicht den Willen zeigt, die Aufnahmebedingungen für Antragsteller zu verbessern, indem er sich erkennbar darum bemüht, die Unterkunftsmöglichkeiten und die Versorgung der Flüchtlinge nachhaltig zu verbessern.
53Ebenso VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15, juris.
54So liegt der Fall allerdings hier. Der ungarische Staat ist offenkundig nicht willens, seine europarechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies zeigen die seit dem Sommer 2015 ergriffenen Maßnahmen der zuständigen ungarischen Stellen. Ungarn betreibt eine offene Politik der Abschottung gegen den Zuzug von Flüchtlingen und hat als erstes Land einen Grenzzaun zur Abwehr weiterer Flüchtlinge errichtet. Das Land hat erklärt, dass es eine nennenswerte Zuwanderung sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht wünsche und keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
55Aus den vielen Pressberichten vgl. nur Pro Asyl, Pressemitteilung vom 7. Juli 2015 „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; amnesty international, Fenced out – Hungary´s violations of the rights of refugees and migrants (Report von Oktober 2015); Die Welt vom 24. Juni 2015 „Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat“; SZ vom 24. Juni 2015 „Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren“; n-tv vom 29. August 2015 „Stacheldraht gegen Flüchtlinge – Ungarn stellt erste Grenz-Sperranlage fertig“; FAZ vom 1. September 2015 „Ungarn schottet sich mit Stacheldraht ab“.
56Die aktuelle Flüchtlingskrise hat der ungarische Ministerpräsident als „ein deutsches Problem“ bezeichnet.
57Vgl. Zeit Online vom 3. September 2015.
58Das „Dublin System“ hat der ungarische Außenminister in einer aktuellen Verlautbarung vom 11. November 2015 für „tot“ erklärt.
59Vgl. Pressemitteilung der ungarischen Regierung vom 11. November 2015 (http://www.kormany.hu/en/ministry-of-foreign-affairs-and-trade/news/dublin-system-is-dead-there-is-no-reason-why-rules-relating-to-repatriation-should-apply [abgerufen am 2. März 2016]; ferner FAZ vom 12. November 2015 „Lob aus Wien, Warnungen aus Budapest“.
60Ganz aktuell hat der ungarische Ministerpräsident Orban seine Haltung gegenüber Flüchtlingen zusammengefasst mit den Worten: „Wir wollen diese Menschen nicht haben.“
61Vgl. FAZ vom 15. Dezember 2015.
62Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass Antragstellern wie dem Kläger, die um internationalen Schutz nachsuchen, wegen der zur Zeit in Ungarn gegebenen Aufnahmebedingungen, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta und der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und es deshalb im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO unmöglich ist, sie in diesen Staat zu überstellen.
63So auch VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15, juris m.w.N. aus der Rechtsprechung; ferner VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A, juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A, juris; a.A. etwa VG Stade, Beschluss vom 4. November 2015 – 1 B 1749/15, juris.
64Die Antwort der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2015 an die erkennende Kammer auf deren Beweisbeschlüsse in den Verfahren 2 K 6465/14.A und 2 K 6214/14.A steht dieser Bewertung nicht entgegen. Denn sie ist ohne belastbare Aussagekraft und deshalb nicht geeignet, die Überzeugung des Gerichts zu erschüttern. Die Kommission verlautbart in dieser Mitteilung zunächst selbst, dass die zuständige Generaldirektion wiederholt Erfahrungsberichte diverser Einrichtungen bekomme, die vor Ort in Ungarn tätig seien und die „Anlass zur Sorge in Bezug auf das Funktionieren des ungarischen Asylverfahrens“ gäben. Die Kommission sieht sich allerdings zur Zeit außerstande, zuverlässige und gültige Informationen über das tatsächliche Funktionieren des ungarischen Asylsystems zu geben, weist zugleich aber darauf hin, sie prüfe die Vereinbarkeit der von Ungarn vorgenommen Rechtsänderungen des nationalen Asylsystems und trete zu diesem Zweck mit den ungarischen Behörden in Kontakt.
65Ebenso wenig steht die Tatsache, dass es noch keine Empfehlung der UNHCR gibt, Überstellungen von Antragstellern nach Ungarn wegen der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen, der Einschätzung der Kammer entgegen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30. September 2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Es sei vielmehr – so der UNHCR – die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
66Vgl. UNHCR vom 30. September 2014 an das VG Bremen.
67Schließlich hindert auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 3. Juli 2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) die Einschätzung des Gerichts nicht. Die Entscheidung des EGMR, dass ein Asylsuchender zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn nach den Maßgaben der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde, beruht im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zu den zur Zeit in Ungarn herrschenden Aufnahmebedingungen für Antragsteller belegen - offensichtlich nicht erfüllt.
68Ebenso VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A, juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A, juris.
69Ob dem Kläger darüber hinaus auch wegen der in Ungarn bestehenden Inhaftierungspraxis und wegen der Haftbedingungen in diesem Land die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta droht und er auch deshalb nicht nach Ungarn überstellt werden darf,
70so etwa VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A, juris; ferner VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A, juris; VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15, juris; a.A. u.a. VG Stade, Beschluss vom 4. November 2015 – 1 B 1749/15, juris,
71oder systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO aufgrund der Rechtsänderungen im ungarischen Asylrecht durch die Asylrechtsnovelle im August 2015 begründet werden,
72so VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2015 – 22 K 3263/15.A, juris,
73bedarf mit Blick auf die obigen Ausführungen keiner Entscheidung durch die Kammer.“
74Neuere Erkenntnisse, die diese Bewertung in Frage stellen, liegen der Kammer nicht vor und wurden auch seitens der Beklagten nicht vorgebracht.
75II.
76Auch die unter Ziff. 2 des angefochtenen Bescheides weiterhin erlassene Abschiebungsanordnung nach Ungarn ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und – weil den Kläger in seinen Rechten verletzend – nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Sie findet ihre Rechtsgrundlage heute nicht in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
77Diese Voraussetzungen sind aktuell nicht gegeben. Wie das Gericht soeben dargelegt hat, ist Ungarn nicht der für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständige Staat im Sinne von § 27a AsylG. Eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn als sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG scheidet ebenfalls aus. Denn die Drittstaatenregelung findet nach § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG keine Anwendung, wenn die Bundesrepublik Deutschland – wie dies hier der Fall ist – aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
78Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
79Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. Februar 2016 - A 1 K 2059/14 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.