Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Beschluss, 01. Okt. 2015 - 6 L 1970/15
Gericht
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
2. Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
1
Gründe
2Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht begründet. Der Antragsteller hat nicht gemäß § 123 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht, dass ihm ein Anspruch auf Zuteilung des begehrten Studienplatzes im Studiengang Humanmedizin nach den für das Wintersemester 2015/2016 maßgeblichen Regeln und tatsächlichen Verhältnissen zusteht.
3Studienplätze im Studiengang Humanmedizin werden gemäß § 1 Satz 2 der Verordnung über die zentrale Vergabe von Studienplätzen – VergabeVO – in Verbindung mit ihrer Anlage 1 in einem zentralen Vergabeverfahren nach Maßgabe der §§ 6 ff. VergabeVO vergeben. Der Antragsteller erreicht mit seiner Abiturnote (2,5) und ohne Wartezeit nicht die maßgeblichen Auswahlgrenzen. Für eine Auswahl in der Abiturbestenquote (§ 11 VergabeVO) war bei Abiturienten aus Schleswig-Holstein zum Wintersemester 2015/2016 eine Note von 1,1 erforderlich; für eine Auswahl in der Wartezeitquote (§ 14 VergabeVO) waren zum Wintersemester 2015/2016 mindestens vierzehn Halbjahre erforderlich. Der Antragsteller hat sich im Übrigen in diesen von der Stiftung verwalteten Auswahlquoten gar nicht beworben.
4Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Auswahl nach Härtegesichtspunkten (§ 15 VergabeVO). Die Studienplätze der Härtefallquote werden an Bewerber vergeben, für die es eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde, wenn sie keine Zulassung erhielten. Eine außergewöhnliche Härte liegt gemäß § 15 Satz 2 VergabeVO vor, wenn in der eigenen Person liegende besondere soziale oder familiäre Gründe die sofortige Aufnahme des Studiums zwingend erfordern. Da die Zulassung im Härtefallwege nach dem System des § 6 VergabeVO zwangsläufig zur Zurückweisung eines anderen, noch nicht zugelassenen Erstbewerbers führt, ist eine strenge Betrachtungsweise geboten.
5Vgl. nur OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Mai 2010 - 13 B 504/10 -, juris, und vom 2. Juli 2012 - 13 B 656/12 -, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. August 2015 - 6z K 3872/14 -; Berlin, in: Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, § 21 VergabeVO, Rdnr. 1.
6Im Blick zu behalten ist überdies die Funktion der Härtefallregelung. Sie soll – wie schon der Wortlaut der Vorschrift zeigt – innerhalb des notwendigerweise schematisierten Massenverfahrens der Studienzulassung einen Ausgleich für besondere Einzelfälle schaffen, in denen die Anwendung der regulären Auswahlkriterien dem Gebot der Chancengleichheit nicht gerecht wird; nach Möglichkeit soll niemand infolge wirtschaftlicher, gesundheitlicher, familiärer oder sonstiger sozialer Benachteiligungen an der Erreichung seines Berufsziels gehindert werden. Anderen Zwecken – etwa der Kompensation erlittener Schicksalsschläge oder erfahrenen Leids – darf die Härtefallzulassung hingegen nicht dienen.
7Vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2013 - 13 B 440/13 -, vom 11. Dezember 2014 - 13 B 1297/14 - und vom 18. Dezember 2014 - 13 B 1360/14 -, juris; VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 30. November 2011 - 6z L 968/11 -, vom 27. März 2013 - 6z L 313/13 - und vom 15. Oktober 2014 - 6z L 1403/14 -, www.nrwe.de, mit weiteren Nachweisen; Berlin, in: Bahro/ Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 4. Auflage 2003, § 21 VergabeVO, Rdnr. 1 ff.
8Gemessen an diesen Überlegungen sind die Voraussetzungen für eine Zulassung nach § 15 VergabeVO vorliegend nicht dargetan.
9Die Zulassung gemäß § 15 VergabeVO kommt unter anderem in Betracht, wenn nachgewiesen wird, dass eine Krankheit mit Tendenz zur Verschlimmerung vorliegt, die dazu führen wird, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft die Belastungen des Studiums in diesem Studiengang nicht durchgestanden werden können (Ziffer 1.1 der von der Beklagten verwendeten Fallgruppen). Insoweit ist als Nachweis ein fachärztliches Gutachten vorzulegen, das zu diesen Kriterien hinreichend Stellung nimmt und Aussagen über Entstehung, Schwere, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung sowie eine eingehende Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs enthält.
10Der Antragsteller hat nicht nachgewiesen, dass ein Härtefall im Sinne der Fallgruppe 1.1 vorliegt. Die von ihm mit den Bewerbungsunterlagen eingereichten ärztlichen Stellungnahmen belegen zwar, dass der Antragsteller an einer gravierenden Erkrankung (hyperkaliämische periodische Paralyse) leidet, die im Allgemeinen durch einen progredienten Verlauf gekennzeichnet ist. Die in den Stellungnahmen enthaltenen Erklärungen zur prognostizierten Entwicklung der Arbeits- und Studierfähigkeit des Antragstellers und mithin zu der (entscheidenden) Frage, inwieweit er die Belastungen des Studiums der Humanmedizin auch bei einer späteren Studienzulassung noch würde durchstehen können, reichen für die Feststellung eines Härtefalls im Sinne der Fallgruppe 1.1 indes (noch) nicht aus.
11Die Stellungnahme des Facharztes PD Dr. med. X. (Bundeswehrkrankenhaus V. ) vom 22. Januar 2015 enthält vorwiegend allgemeine Angaben zu der in Rede stehenden Krankheit. In Bezug auf den Antragsteller wird zwar in pauschaler Form eine Verschlimmerungstendenz postuliert. Detaillierte Angaben zu der erwartbaren Entwicklung gerade im Falle des Antragstellers macht der Facharzt, der den Antragsteller im Übrigen wohl gar nicht selbst untersucht oder behandelt hat, hingegen nicht.
12Für die Stellungnahme des Facharztes Dr. med. H.--°°° vom 2. April 2015 gilt ähnliches. Auch hier werden vor allem die Erkrankung des Antragstellers und ihre Auswirkungen beschrieben, wobei allerdings unklar bleibt, ob es sich bei Herrn Dr. H.--°°° um den behandelnden Arzt des Antragstellers handelt. Das Gericht teilt jedenfalls die Auffassung der Antragsgegnerin, dass die Angaben zum voraussichtlichen weiteren Verlauf der Erkrankung und zur Entwicklung der Studierfähigkeit letztlich nicht für die Annahme eines Härtefalles ausreichen. Die – für den Härtefallantrag entscheidende – These des Facharztes, dass die befürchteten myopathischen Veränderungen und die damit einhergehende Muskelschwäche im Falle des Antragstellers um das 25. Lebensjahr herum zu erwarten sind, wird nicht hinreichend begründet. Die These basiert nach der Erklärung des Arztes auf dem Umstand, dass bei dem Vater des Antragstellers die in Rede stehenden Symptome etwa 15 bis 20 Jahre nach Krankheitsbeginn aufgetreten sind. Um die Stichhaltigkeit dieser Schlussfolgerung überprüfen zu können, wäre es indes erforderlich zu wissen, wann die Krankheit bei dem Antragsteller begonnen hat – die Angabe „seit dem Kindesalter“ ist insoweit wenig aussagekräftig –, ob der Krankheitsverlauf bei ihm mit demjenigen seines Vaters vergleichbar ist, ob auch bei seinem Vater das erwähnte Medikament „Diamox“ gut wirkt oder gewirkt hat, welche Symptome bei dem Vater des Antragstellers im Alter von 30 Jahren aufgetreten sind etc. Der Stellungnahme vom 2. April 2015 ist aber noch nicht einmal zu entnehmen, ob Herr Dr. H.--°°° den Krankheitsverlauf des Vaters des Antragstellers aus eigener Anschauung kennt, also dessen behandelnder Arzt ist.
13Das Gericht verkennt nicht, dass eine exakte Vorhersage der zukünftigen gesundheitlichen Entwicklung eines Patienten wegen des stets individuellen Verlaufs einer jeden Erkrankung häufig kaum möglich sein wird. Dennoch erfordert § 15 VergabeVO, dass der Facharzt eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Prognose abgibt und diese eingehend begründet. Denn die Antragsgegnerin und auch das Gericht sind im Interesse der Chancengleichheit der Mitbewerber um einen Medizinstudienplatz gehalten, die ihnen vorgelegten ärztlichen Atteste kritisch zu hinterfragen. Entscheidend ist daher, dass diejenigen Symptome, die für das Absolvieren des Studiums von besonderer Bedeutung sind und die Wahrscheinlichkeit ihres künftigen Auftretens im Gutachten konkret benannt werden. Angaben zu der Frage, welche Symptome zu welchem Zeitpunkt in der Zukunft nach statistischen Erkenntnissen oder nach der Erfahrung des Arztes mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, ob sie in massiver, die Unterbrechung des Studiums erzwingender Form und für einen mehr als unerheblichen Zeitraum einzutreten pflegen, inwieweit sie durch eine Therapie gelindert werden können und worauf die Prognose beruht, sind unverzichtbar, um die Voraussetzungen des Härtefalltatbestands feststellen und diejenigen Studienbewerber herausfiltern zu können, bei denen eine sofortige Zulassung zur Wahrung der Chancengleichheit geboten ist.
14Vgl. nur VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 15. Oktober 2014 - 6z L 1403/14 -, juris, und Urteil vom 17. August 2015 - 6z K 3872/14 -.
15Diesen Anforderungen genügt das vorgelegte Attest des Neurologen Dr. med. H.--°°° letztlich nicht.
16Dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht in der Lage ist, eine Ausbildung oder Berufstätigkeit – etwa in einem medizinnahen Beruf – auch nur vorübergehend aufzunehmen und damit die Wartezeit sinnvoll zu überbrücken, hat der Antragsteller nicht ernsthaft geltend gemacht. Auch insoweit bedürfte es im Übrigen konkreter Ausführungen in einer fachärztlichen Stellungnahme. Warum der Antragsteller den körperlichen Belastungen des vorklinischen und des klinischen Teils eines Medizinstudiums gewachsen sein, aber jegliche andere vernünftige Beschäftigung für ihn ausscheiden soll, legen die vorgelegten Atteste nicht hinreichend dar.
17Die Kammer weist vorsorglich darauf hin, dass etwaige weitere, erst im Klage- oder Antragsverfahren eingereichte oder noch einzureichende Unterlagen im gerichtlichen Verfahren nicht berücksichtigt werden können. Denn die für das Auswahl- und Verteilungsverfahren maßgeblichen Daten müssen in Bezug auf das Wintersemester spätestens bis zum 31. Juli vorliegen (§ 3 Abs. 7 Satz 2 VergabeVO). Die Vorschrift statuiert eine gesetzliche Ausschlussfrist, so dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin über einen Zulassungsantrag auch vom Gericht ausschließlich anhand derjenigen Unterlagen zu prüfen ist, die innerhalb der Bewerbungs- bzw. Nachfrist des § 3 Abs. 2 und 7 VergabeVO bei der Antragsgegnerin vorgelegen haben.
18Dem Antragsteller steht aber selbstverständlich die Möglichkeit offen, sich mit einer entsprechend ergänzten ärztlichen Stellungnahme im Auswahlverfahren zu einem zukünftigen Studiensemester erneut zu bewerben.
19Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
20Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 52 Abs. 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes und entspricht der Praxis des erkennenden Gerichts in Verfahren der vorliegenden Art.
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(1) Auf Antrag kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint.
(2) Für den Erlaß einstweiliger Anordnungen ist das Gericht der Hauptsache zuständig. Dies ist das Gericht des ersten Rechtszugs und, wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht. § 80 Abs. 8 ist entsprechend anzuwenden.
(3) Für den Erlaß einstweiliger Anordnungen gelten §§ 920, 921, 923, 926, 928 bis 932, 938, 939, 941 und 945 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
(4) Das Gericht entscheidet durch Beschluß.
(5) Die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 gelten nicht für die Fälle der §§ 80 und 80a.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 3 der Zivilprozessordnung:
- 1.
über die Anordnung eines Arrests, zur Erwirkung eines Europäischen Beschlusses zur vorläufigen Kontenpfändung, wenn keine Festgebühren bestimmt sind, und auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sowie im Verfahren über die Aufhebung, den Widerruf oder die Abänderung der genannten Entscheidungen, - 2.
über den Antrag auf Zulassung der Vollziehung einer vorläufigen oder sichernden Maßnahme des Schiedsgerichts, - 3.
auf Aufhebung oder Abänderung einer Entscheidung auf Zulassung der Vollziehung (§ 1041 der Zivilprozessordnung), - 4.
nach § 47 Absatz 5 des Energiewirtschaftsgesetzes über gerügte Rechtsverletzungen, der Wert beträgt höchstens 100 000 Euro, und - 5.
nach § 148 Absatz 1 und 2 des Aktiengesetzes; er darf jedoch ein Zehntel des Grundkapitals oder Stammkapitals des übertragenden oder formwechselnden Rechtsträgers oder, falls der übertragende oder formwechselnde Rechtsträger ein Grundkapital oder Stammkapital nicht hat, ein Zehntel des Vermögens dieses Rechtsträgers, höchstens jedoch 500 000 Euro, nur insoweit übersteigen, als die Bedeutung der Sache für die Parteien höher zu bewerten ist.
(2) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 52 Absatz 1 und 2:
- 1.
über einen Antrag auf Erlass, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung oder § 114 der Finanzgerichtsordnung, - 2.
nach § 47 Absatz 6, § 80 Absatz 5 bis 8, § 80a Absatz 3 oder § 80b Absatz 2 und 3 der Verwaltungsgerichtsordnung, - 3.
nach § 69 Absatz 3, 5 der Finanzgerichtsordnung, - 4.
nach § 86b des Sozialgerichtsgesetzes und - 5.
nach § 50 Absatz 3 bis 5 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes.