Sozialgericht Aachen Urteil, 12. Jan. 2016 - S 18 SB 6/15
Gericht
Tenor
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 20.
3Seine gesetzlichen Vertreter (Eltern) beantragten für den am 00.00.0000 geborenen Kläger am 02.07.2014 u. a. die Feststellung eines GdB.
4Zur Begründung wiesen sie auf eine Sehbehinderung des Klägers hin und fügten einen Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde der Universitätsklinik der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule Aachen (RWTH) (Uniklinik Aachen) vom 17.12.2013 bei.
5Der Beklagte holte eine erste gutachterliche Stellungnahme des Facharztes für Augen-heilkunde Prof. Dr. C. sodann einen weiteren Arztbrief der Uniklinik Aachen vom 16.09.2014 und eine zweite Stellungnahme des Prof. Dr.Certram ein. Nach einer zusätzlichen gutachterlichen Stellungnahme der Sozialmedizinerin Achten stellte er mit Bescheid vom 14.11.2014 bei dem Kläger einen GdB von 20 fest.
6Hiergegen legte der Kläger am 24.11.2014 durch seine gesetzliche Vertreterin Widerspruch ein. Da der Visus binokular nur 0,1 betrage sei allein deshalb der Tabelle der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) zufolge ein GdB von 70 festzustellen. Hinzu trete ein Nystagmus des Klägers.
7Der Widerspruch wurde mit Widerspruchbescheid der Bezirksregierung Münster vom 08.12.2014 als unbegründet zurückgewiesen.
8Hiergegen hat der Kläger durch seine Bevollmächtigten am 05.01.2015 Klage erhoben. Nach den Visuswerten wie sie im Bericht der Uniklinik Aachen vom 16.09.2014 ausgewiesen seien, betrage der GdB unter Berücksichtigung des Teils B Nr. 4 der Anlage 2 zur Versorgungsmedizin-Verordnung nach der Tabelle der DOG 60. Diese sei der Feststellung auch zugrunde zu legen, da eine Ausnahme für Kleinkinder nicht festgehalten worden sei. Soweit auf eine altersrelative Sehschärfenminderung abgestellt werde, führe dies dazu, dass bei Kleinstkindern beispielsweise nie ein GdB von 100 festgestellt werden könne.
9Die Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
10den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 14.11.2014 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 08.12.2014 zu verpflichten, bei dem Kläger einen höheren Grad der Behinderung als 20 ab Antragstellung festzustellen.
11Die Vertreterin der Beklagten beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie bezieht sich insbesondere auf die im Laufe des Verfahrens abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen ihres ärztlichen Dienstes. Wenn auch bei augengesunden Kindern bis mindestens zum sechsten Lebensjahr das Sehvermögen noch nicht 1,0 betrage, sondern sich die Sehschärfe noch ausbilde, sei die MdE Tabelle der DOG in Nr. 4.3 der Anlage 2 zur Versorgungsmedizin-Verordnung nicht anwendbar. Denn diese gehe von einem Normalvisus von 1,0 aus. Andernfalls liege beispielsweise bei jedem einjährigen Kind trotz normaler Entwicklung der Augenfunktion ein GdB von 40 vor.
14Das Gericht hat gem. §§ 103, 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines unter dem 02.07.2015 erstellten schriftlichen Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. X. Unter dem 12.10.2015 hat der Sachverständige auf Aufforderung des Ge-richts eine ergänzende schriftliche Stellungnahme zu seinem Gutachten abgegeben. Während er zunächst unter einfacher Subsumtion der jeweils dokumentierten Visuswerte unter die "MdE-Tabelle der DOG einen sich von 70 (Februar 2014) auf 50 (ab Januar 2015) verringernden GdB befürwortet hat, hat er in seiner ergänzenden Stellungnahme den GdB ab der Geburt des Klägers mit 20 eingeschätzt.
15Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und die Ge-richtsakte verwiesen.
16Entscheidungsgründe:
17Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGG) ist unbegründet.
18Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 14.11.2014 in Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 08.12.2014 nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert. Der Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von über 20.
19I. Anspruchsgrundlage für die Feststellung von Behinderungen und des Grades der Be-hinderung ist § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB-IX). Gem. § 69 SGB IX hat die Behörde auf einen entsprechenden Antrag des Behinderten bzw. dessen gesetzlicher Vertreter das Vorliegen einer Behinderung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und den Grad der Behinderung – nach Zehnergraden abgestuft und nur soweit ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt – festzustellen. Gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
20Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) tatrichterliche Aufgabe. Bei der Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen hat das Gericht grundsätzlich ärztliches Fachwissen heranzuziehen (BSG, Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - m. w. N.; Urteil vom 29.11.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 f; Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - BSGE 62, 209, 212 f = SozR 3870 § 3 Nr. 26 S 83; Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - aaO Rn. 23 m.w.N; Urteil vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 2/12 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 16, Rn. 28). Bei der Be-messung des GdB kommt es indessen nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Das Tatsachengericht hat über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Für die Feststellung des GdB sind nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX in diesem Zusammenhang seit dem 01.01.2009 die Bewertungsmaßstäbe der aufgrund der Ermächtigung in § 30 Abs. 16 des Bundes-versorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I Seite 2412) in der Fassung der Fünften Änderungs-Verordnung vom 11.10.2012 (BGBl. I Seite 2122) mit deren Anlage zu § 2 - "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG), maßgebend. Die darin niedergelegten Bewertungen beruhen auf dem aktuellen medizinischen Erkenntnisstand. Sie bilden den maßgeblichen Anhalt zur Ermittlung des GdB und zur Auslegung des § 2 SGB IX. Die VMG dienen damit der gleichmäßigen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Schwerbehindertenrechts wie dies zuvor die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" - AHP – getan haben und entfalten, wie schon die AHP, im Charakter eines antizipierten Sachverständigengutachtens normähnliche Wirkung (vgl. BSG SozR 3-3100 § 30 Nr. 22, SozR 3-3870 § 4 Nr. 19 und SozR 4-3250 § 69 Nrn. 2 und 9 sowie BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6)
21Bei ihrer Anwendung gilt Grundsatz der sogenannten objektiven Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 01.03.1989 – 2 RU 42/88), d. h. wenn sich nicht mit Sicherheit, d. h. zweifelsfrei feststellen lässt, dass die in den VMG typisierten Teilhabebeeinträchtigungen vorhanden sind, ist die Klage abzuweisen. Dies ist Gegenstand tatrichterlicher Überzeugungsbildung (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 2/12 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 16, Rn. 42).
22II. Unter Beachtung dieser rechtlichen Bestimmungen und Beurteilungsmaßstäbe ist bei dem Kläger vom Zeitpunkt der Antragstellung am 02.07.2014 bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als einzige Gesundheitsstörung eine Funktionsstörung der Augen festzustellen, für die sich kein höherer GdB als 20 objektivieren lässt.
23Gem. Ziff. 4 VMG umfasst die Sehbehinderung alle Störungen des Sehvermögens, die durch ein morphologisches Korrelat erklärbar sind. Für die Beurteilung ist in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend. Die Sehschärfe ist grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) nach DIN 58220 zu bestimmen; Abweichungen hiervon sind jedoch in Ausnahmefällen – etwa bei Kleinkindern, zu denen der am 15.12.2012 geborene Kläger zu zählen ist – zulässig. Die Grundlage für die Bestimmung die Beurteilung des GdB bei Herabsetzung der Sehschärfe bildet die MdE-Tabelle aus dem Jahr 1981, die in Ziff. 4.3 VMG mit dem Hinweis enthalten ist, dass die augenärztliche Untersuchung die Prüfung der einäugigen und beidäugigen Sehschärfe umfasst (S. 1) und dass, sind die Ergebnisse beider Prüfungsarten unterschiedlich, bei der Bewertung die beidäugige Sehschärfe als Sehschärfenwert des besseren Auges anzusetzen ist.
24Der Kläger leidet an einem kongenitalen, feinen, mittelgroßen Pendelnystagmus, der mit einer Verringerung der Sehschärfe einhergeht. Relevante weitere Auswirkungen des Nys-tagmus werden durch den Sachverständigen Prof. Dr. X nicht festgestellt
25Bestimmungen des Visus mittels des kleinst- und kleinkindgerechten sog. Cardiff-Tests (pereferential looking test, Prüfung der Gittersehschärfe) (s. zu dessen Entwicklung: Adoh/ Woodhouse et. al.: The Cardiff Test: A New Visual Acuity Test for Toddlers and Children with Intellectual Impairment. A Preliminary Report in: Optometry and Vision Science, Vol. 69 No. 6 (1992), pp. 427-432) sind bei dem Kläger im Alter von 12 Monaten (Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde der RWTH Aachen vom 17.12.2013 – nur binokular), 21 Monaten (Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde der RWTH Aachen vom 16.09.2014), 25 Monaten (Untersuchungsbericht der Klinik für Augenheilkunde der RWTH Aachen vom 12.01.2015) und 2,5 Jahren (Untersuchung des Sachverständigen Prof. Dr. X vom 30.06.2015 – nur binokular) durchgeführt worden. In der gutachterlichen Untersuchung des Sachverständigen ist zudem erstmals ein sog. Lea Test (Symbole) eingesetzt worden.
261. In Anwendung der "MdE Tabelle" der DOG resultierten im Verlauf tendenziell abnehmende GdB-Äquivalente von 70 (Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde der RWTH Aachen vom 17.12.2013) bis 5-10 (Untersuchungsbericht vom 12.01.2015 und Cardiff-Testergebnis vom 30.06.2015). Der bei deutlich voneinander abweichenden Visuswerten im Cardiff-Test ei-nerseits und im Lea-Test andererseits durch den Sachverständigen eingeschätzte Visus von 0,2 bds. zum Untersuchungszeitpunkt Ende Juni 2015 würde übertragen auf die "MdE-Tabelle" der DOG einen GdB von 50 bedeuten.
27Ob die in Ziff. 4.3 VMG aufgenommene Tabelle für die Bestimmung des GdB bei Kleinkindern Anwendung finden kann bzw. muss wird von den Beteiligten unterschiedlich gesehen. Soweit der Kammer ersichtlich ist diese Frage bislang kein Rechtsprechungsgegenstand gewesen.
282. Nach Auffassung der Kammer kann die "MdE-Tabelle" der DOG nicht ohne weiteres auf Kleinkinder angewendet werden. Bereits dargelegt worden ist, dass gem. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX Menschen behindert sind, wenn u. a. ihre körperliche Funktion ( ) von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Ge-sellschaft beeinträchtigt ist. Die Relation des tatsächlichen zum lebensaltertypischen Zu-stand ist dabei nicht nur für das Vorliegen einer Behinderung schlechthin, sondern auch für deren Grad maßgeblich. Dies ergibt sich bereits aus dem systematischen Zusammenhang mit § 69 Abs. 1 SGB IX. Danach ist in Bezug auf die vorliegende Behinderung eine nach Zehnergeraden abgestufte Feststellung zu treffen, die sich an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft orientiert (S. 4). Diese Auswirkungen sind gem. § 2 Abs. 1 Abs. 1 SGB IX aber von einem Vergleich zum lebensaltertypsischen Zustand nicht zu lösen, der hiernach in die Teleologie eines graduell präzisierten Ausgleiches finaler Teil-habebeeinträchtigungen integriert ist. Teil A Ziff. 2 lit. c) VMG bestätigt dies. Der GdB (nicht nur die Feststellung einer Behinderung an sich) setzt danach stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern ( ) zu beachten (S. 2).
29Daher führt die Argumentation der Kläger-Bevollmächtigten nicht weiter, wenn sie darauf verweisen, Ziff. 4(.3) VMG sehe keine Ausnahme in Bezug auf die Bestimmung vor, dass Grundlage für die Beurteilung des GdB in Bezug auf die Sehschärfe die "MdE-Tabelle der DOG" ist, soweit diese alters- bzw. entwicklungsbedingte Minderungen der Sehschärfe bei Kleinkindern nicht bedenkt. Denn allgemeine Grundsätze diktieren gerade eine abweichende Bewertung des GdB. Auch der Umstand, dass insbesondere in den ersten Lebensmonaten die Feststellung eines (hohen) GdB jedenfalls abseits einer organisch offenliegenden Blindheit kaum möglich erscheint vermag unter der gesetzlichen Zielsetzung des Ausgleiches nur altersuntypischer Teilhabebeeinträchtigungen über die voranliegende Feststellung des GdB nicht die Anwendung der "MdE Tabelle der DOG" auf Kleinkinder vorzugeben, wie die Bevollmächtigten des Klägers meinen.
30Die Tabelle in Ziff. 4.3 VMG geht von einem Normal-, d.h. von einem alterstypischen kor-rigierten Visus von 0,8-1,0 (GdB 0) aus. Eine solche Sehschärfe hat jedoch auch ein au-gengesundes Kind im Alter des Klägers (zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung drei Jahre) zweifellos nicht. Es existiert keine altersrelative Bestimmung des Normalvisus an dem Wert 1,0. Nach der Leitlinie 26 a der DOG (Amblyopie) (S. 2-4, Tabelle zum Normvisus bei Säuglingen und Kleinkindern) hat ein gesundes Neugeborenes einen Visus von 0,01, einen Monat später von 0,02 (im pereferential looking test), mit 12 Monaten sind 0,25 und mit 3 Jahren 0,5 altersentsprechend (im Symbol-Test-vgl. Lea-Symbole). Mit 4 Jahren wird im Symbol-Test und im Test mit Landolt- Ringen Einzelprototypen eine Sehschärfe von 0,8 – 1,0 erzielt. Bei alterseingeschränkten Anwendung der "MdE Tabelle der DOG" wäre danach z. B. bei einem gesunden einjährigen Kind ein GdB von 40 festzustellen. Erst bei Kindern ab 6 Jahren betrachtet man nach der Leitlinie 26a der DOG, S. 2, bestkorrigierte Visuswerte von 0,8 oder weniger (Einzelsehzeichnen) als subnormal.
313. Die Sehschärfe bleibt danach – wie vom Sachverständigen in seiner ergänzenden Stellungnahme geschehen – in Relation zum für das Lebensalter typischen Zustand zu beurteilen. Dabei sind Normbandbreiten unter Berücksichtigung der Art des jeweils durchgeführten Sehtest zu berücksichtigen; eine DIN Normierung (der DOG) für die Be-stimmung der Sehschärfe bei Kleinkindern kann von Ziff. 4 VMG nicht in Bezug genommen werden.
32Bei der Bestimmung des GdB orientiert sich die Kammer unter Berücksichtigung dessen an Ziff. 4.3 der VMG unter der Maßgabe, dass der altersentsprechende Visus ins Verhältnis zur tatsächlichen Sehschärfe des Klägers gesetzt wird. Hiernach lässt sich unter Beachtung der Entwicklung der Sehschärfe des Klägers mit der zutreffenden Einschätzung des Sachverständigen in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.10.2015 ein höherer GdB des Klägers als 20 vom Zeitpunkt der Antragstellung beim Beklagten am 02.07.2014 bis zum Tag der mündlichen Verhandlung nicht feststellen.
33a) Am 17.12.2013, im Alter von 12 Monaten, erreichte der Kläger im Cardiff-Test eine bi-nokular gemessene Sehschärfe von 0,1. Monukular konnte der Visus bei seitengleicher Abwehr gegen eine Okklusion nicht erhoben werden. Der Normalvisus nach der Leitlinie 26a der DOG beträgt in diesem Alter 0,25. Hiernach lässt eine relative Sehkraft von 0,4 bds. (0,1./. 0.25) annehmen, so dass in Anlehnung an die "MdE Tabelle der DOG" ein GdB 20 resultiert. Allerdings ist der in der Leitlinie 26a der DOG angegebene Wert das Normergebnis eines auf Lea-Symbole übertragbaren Tests (Lithander`s Kolt-Test oder Hamburger H-Test). Da mit dem Cardiff-Test die Gittersehschärfe geprüft wird und nach den Darlegungen des Sachverständigen diese bei Patienten mit Nystagmus besser als die mit einem Normseh-zeichen geprüfte Sehschärfe ist, ist diese Aussage zunächst zwar zu relativieren. Mit den weiteren Ausführungen des Sachverständigen lässt sich eine – zwar gleichfalls nur annäherungsweise – Bestimmung der Sehschärfe über das Ergebnis des Cardiff-Tests jedoch erzielen, indem man das Ergebnis mit den Werten vergleicht, die die Arbeitsgruppe, die den Test entwickelt hat (s. Adoh und Margaret et. al. a.a.O.) für augengesunde Klein-kinder beschreibt (Folgeveröffentlichung von Adoh/ Woodhouse, The Cardiff Acuity Test Used for Measuring Visual Acuity Development in Toddlers, in: Vision Research Vol. 34, No. 4 (1994), pp. 555-560; ferner: Rosenfield/ Logan, Science, Techniques and Clinical Ma-nagement, 2. Aufl. 2004, S. 447; Dietze, Die optometrische Untersuchung, 2. Aufl. 2008, S. 41, Tab. 3.3; Kaufmann, Strabismus, 4. Aufl. 2012, S. 102). Hiernach liegt der Normbereich für das Alter von 12 bis 17,9 Monaten binokular bei 0,125 bis 0,5. Nach dem Mittelwert von 0,19 ergäbe sich allerdings eine relative Sehkraft des Klägers sogar von rund 0,526 bds., einem GdB von nur 10 entsprechend. Dabei ist die Ansetzung des Mittelwertes bereits günstig, weil mit fortschreitendem Alter die (Gitter)sehschärfe besser wird und der Kläger am Untersuchungstag des 17.12.2013 gerade 1 Jahr alt war und daher im jüngeren Bereich der Referenzaltersgruppe lag.
34Ein weiterer Cardiff-Test wurde am 16.09.2014 durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger 21 Monate alt. Hier lag der der Visus binokuar bei 0,16 und monokular rechts bei 0,16, links bei 0,1. Ein normaler Visus nach der Leitlinie 26a der DOG ist nicht zu bezeichnen, da nach dem Eintrag für das Alter von 12 Monaten erst für das Alter von 3 Jahren wieder die Sehschärfe eines augengesunden Kindes dargestellt wird. Der Normalvisus der Referenzaltersgruppe von 18-23,9 Monaten ausgengesunder Kinder im Cardiff-Test liegt binokular bei 0,25 bis 0,8 (Mittelwert 0,525) bzw. monukular bei 0,176-0,75 (Mittelwert 0,463). Die Sehschärfe des Klägers beträgt in Relation dazu 0,346 (0,16./. 0,463) rechts und 0,216 (0,1./.0,463) links. Dies entspricht in Anlehnung an die "MdE-Tabelle der DOG" einem GdB von "schwach" 30.
35Am 20.01.2015, im Alter von 25 Monaten, erreichte der Kläger im Cardiff-Test eine Seh-schärfe von links und rechts je 0,6, binokular indes von 0,8. Aufgrund der Lücke zwischen 12 Monaten und 3 Jahren und eines differenten Referenztests erscheint die Tabelle für Visuswerte augengesunder Kinder der DOG in der Leitlinie 26a wiederrum nicht sinnvoll, wenngleich festgehalten werden kann, dass hiernach sich der Visus mit 3 Jahren erst auf 0,5 entwickelt hat. Den Normvisus der Referenzaltersgruppe augengesunder Kinder im Cardiff-Test betrachtend ergibt sich folgende Annäherung: Im Alter von 24-29,9 Monaten beträgt der Normalvisus binokular 0,4-0,8 (Durchschnitt 0,6), monokular 0,286-1,0 (Durchschnitt 0,643). Ein GdB des Klägers lässt sich hier nicht erkennen.
36Im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung des Sachverständigen Prof. Dr. X am 30.06.2015 - zu diesem Zeitpunkt war der Kläger 2,5 Jahre alt - wurde erstmals ein Sym-bol-Test (Lea (LH)- Test) mit dem Kläger durchgeführt. Der (Fern)visus wurde dabei bi-nokular mit 0,2 bzw. monokular rechts mit 0,06 und links mit 0,08 gemessen. Der Normalwert nach der Leitlinie der DOG 26a ließe sich aus den Eintragungen für 12 Monate und 3 Jahre als Referenzgrößen mit den Darlegungen Prof. Dr. X auf 0,4375 taxieren. Daran gemessen beträgt die altersrelative Sehkraft des Klägers – ausgehend von der Betrachtung der monokularen Werte unter Beachtung des Satzes 2 der Ziff. 4.3 VMG - rechts von 0,137 und links von 0,457. Unter Rückgriff auf die "MdE-Tabelle der DOG" entspricht dies einem GdB von 30. Mit der Tabelle in der Leitlinie 26a der DOG die bds. Sehschärfe betrachtend, ergibt sich unter Beachtung der Wertungen der "MdE-Tabelle der DOG" hingegen ein GdB zwischen 10 und 20 bei einer relativen Sehkraft von 0,457 (0,2./.0,457). Bei dem Kläger ist die binokulare Sehschärfe signifikant besser.
37Hinzu tritt, dass der Sachverständige darauf hinweist, dass die Sehschärfe möglicherweise unterschätzt, der GdB insofern überschätzt werde, weil der LH-Test mit dem Kläger in der gutachterlichen Untersuchung erstmalig durchgeführt worden ist. Es sei nicht auszu-schließen, dass sich bei einer Vertrautheit mit diesem Test infolge länger anhaltender Konzentration bessere Werte ergäben. Andererseits werde bei einem Nystagmus mit längeren Testzeiten die Sehschärfe etwas überschätzt. In summa geht der Sachverständige von einer Sehschärfe von 0,2 binokular aus. Dies entspräche einer altersrelativen Sehkraft von 0,457 bzw. einem GdB von 10-20 (s.o).
38Im ebenfalls nochmals durchgeführten Cardiff-Test, in dem der Sachverständige einzig den binokularen Visus gemessenen hat, ergab sich ein Wert von 0,6. Für die Referenzalters-gruppe von 30-36 Monaten wird eine Normalwertspanne von 0,5 bis 1,0 (Mittelwert 0,75) beschrieben. Bei einer relativen Sehschärfenminderung von 0,8 lässt sich hieraus kein GdB des Klägers ableiten.
39b) Nach alledem lässt sich ein höherer GdB als 20 nicht objektivieren.
40aa) Der klinische Eindruck in der Untersuchung des Sachverständigen steht damit in Ein-klang. Der Kläger war visuell interessiert an Lichtern, an Gesichtern, an buntem Spielzeug und Rasseln. Er nahm Blickkontakt auf, fand Dinge auf dem Boden und spielte unter visueller Kontrolle. Große Bilder erkannte er gut, bei kleinen Bildern verwechselte er dargebotene Tiere. Anamnestisch beschrieb die Mutter des Klägers Probleme beim Erkennen größerer Gegenstände in der Ferne, während in der Nähe zum Teil auch kleine Dinge erkannt würden.
41bb) Die Kammer hält es unter Bezugnahme auf Teil A Ziff. 2 f) S. 3-5 VMG für geboten, den streitgegenständlichen Zeitraum vom 02.07.2014 (Antragstellung) bis zum 12.01.2016 (Tag der mündlichen Verhandlung) einheitlich unter Beachtung des durchschnittlichen Ausmaßes der Beeinträchtigung im Verlauf zu betrachten und zu bewerten. Bereits die Bandbreite als normal zu bezeichnender Visuswerte im Verlauf der Reifung der kleinkindlichen Sehbahn bis ca. zum 6. Lebensjahr und die Einschränkungen einer genauen Untersuchung (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 27. November 2013 – L 15 BL 4/11 –, Rn. 56, juris; vgl. auch Dietze, Die optometrische Untersuchung, 2. Aufl. 2008, S. 41 unter Hinweis darauf, dass etwa Motivation und Kooperation z. T. erhebliche Unterschiede bedingen) legt die Beachtung einer Entwicklung nahe. Die Bewertung des GdB anhand eines einzelnen Sehtestergebnisses bis zum nächsten ist hingegen nicht zutreffend. Vorliegend ist im Verlauf zu erkennen, dass die Entwicklung/ Verbesserung der Sehschärfe des Klägers durch die Reifung der Sehbahn grob der eines augengesunden Kindes entspricht, der Visus aber im Querschnitt dahinter – nicht mehr als etwa 5/12 bds. - zurückbleibt.
42III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.
(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.
(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.
(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.
(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.