Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 09. Nov. 2016 - 2 L 10/15
Gericht
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Aufhebung einer den Beigeladenen erteilten Baugenehmigung.
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Sie ist Eigentümerin des Grundstücks K-Straße 4a in A-Stadt (Flurstück 58/3 der Flur A der Gemarkung A-Stadt), welches mit einer Doppelhaushälfte bebaut ist. Westlich des Grundstücks unmittelbar angrenzend an das Grundstück der Klägerin liegt das Grundstück der Beigeladenen G-Straße 22 (Flurstück 57 der Flur A der Gemarkung A-Stadt).
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Der ehemalige Rat des Stadtbezirks Süd der Stadt A. erteilte mit Datum vom 14.09.1979 für das seit dem Jahre 2010 nunmehr im Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück die Zustimmung zur Errichtung eines "Bungalows" und einer Garage. Gemäß dem bautechnischen Erläuterungsbericht sollte "die Bebauung der Laube in einer Länge von 12,20 m und einer Breite von 5,60 m als Grenzbebauung erfolgen". Der "Bungalow" wurde im Jahre 1980 errichtet. Mitte der 1990er Jahre stand das Gebäude für 2 bis 3 Jahre leer. Danach wurde es vermietet und einige Zeit zu Dauerwohnzwecken genutzt. Bevor die Beigeladenen es erwarben, stand der "Bungalow" seit 2008 leer.
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Mit Datum vom 27.03.2012 beantragten die Beigeladenen die Erteilung einer Baugenehmigung zur Nutzungsänderung eines Bungalows in ein Wohnhaus und zur Errichtung eines Anbaus für die Ergänzung der Wohnfläche. Die Vermessung des geplanten Baugrundstücks ergab, dass der in Rede stehende "Bungalow" abweichend von der mit Datum vom 14.09.1979 erteilten Zustimmung sich mit der östlichen Außenwand des bestehenden "Bungalows" mit 0,25 m auf dem benachbarten Grundstück der Klägerin befand. Gemäß den von den Beigeladenen eingereichten Bauvorlagen sollte die östliche Außenwand des bestehenden "Bungalows" daher so zurückgebaut werden, dass sie sich mit einem Abstand von 9 cm auf dem Grundstück der Beigeladenen befinde solle. Außerdem sollte das in der östlichen Außenwand vorhandene Fenster mit Mauerwerk verschlossen und als Brandwand ausgebildet werden. Mit Datum vom 06.06.2012 erteilte die Beklagte den Beigeladenen die hier strittige Baugenehmigung. Nach den Bauvorlagen soll das vorhandene Gebäude zur Wohnung mittels eines Anbaus umgenutzt und vergrößert werden. Der Anbau an den bestehenden Altbestand (Grundfläche von 71,49 m²) umfasst eine Grundfläche von 48,51 m² und hält von der Grundstücksgrenze der Klägerin einen Abstand von 3 m ein. Das genehmigte Wohnhaus (Altbestand und Anbau) umfasst eine Grundfläche von 120 m² und einen Bruttorauminhalt von 423,62 m³. Für den Dachaufbau des vorhandenen Altbestands war eine Kunststoffabdichtung und Flachdachdämmung von ca. 16 cm Höhe in den Bauvorlagen vorgesehen.
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Gegen die mit Datum vom 06.06.2012 erteilte Baugenehmigung legte die Klägerin erfolglos Widerspruch ein und hat am 13.12.2013 Klage beim Verwaltungsgericht erhoben. Die Klägerin hat vorgetragen, die im Gesetz vorgesehenen Abstandsflächen seien einzuhalten, da das Gebäude als komplett neues Bauvorhaben zu bewerten sei. Der Bestandschutz für das Altgebäude sei mit der Nutzungsänderung von Wochenendnutzung zu Dauerwohnnutzung entfallen.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 06.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 aufzuheben.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Bestandschutz für den zu DDR-Zeiten mit Zustimmung des Rates des Stadtbezirks Süd der Stadt A. errichteten "Bungalow" sei entgegen der Auffassung der Klägerin weder aufgrund der seit 1995 formell illegal geänderten Nutzung zum Dauerwohnen noch aufgrund des Auszugs der letzten Mieterin Ende Juli 2008 erloschen. Die Wohnnutzung des baulich unveränderten "Bungalows" wäre auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt geltenden Landesbauordnung genehmigungsfähig gewesen. Durch die geringfügige Änderung des Daches des Bestandsgebäudes seien die Belange der Klägerin an ausreichender Belichtung, Belüftung und Besonnung ihres Wohngebäudes bzw. der geschützten Wohnbereiche nicht nachteilig betroffen. Dies gelte auch für den Anbau, der die erforderliche Abstandsfläche zum Grundstück der Klägerin einhalte. Das Gebot der Rücksichtnahme sei ebenfalls nicht verletzt.
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Die Beigeladenen haben beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie haben die Ansicht vertreten, der "Altbungalow" unterliege weiterhin dem Bestandschutz. Beide Teile fügten sich in die nähere Umgebung ein und verletzten nicht das Gebot der Rücksichtnahme.
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Mit Urteil vom 05.12.2014 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
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Dem Vorhaben der Beigeladenen ständen weder bauplanungsrechtliche noch bauordnungsrechtliche Vorschriften, die dem Schutz der klagenden Nachbarin dienten, entgegen. Die Klägerin könne nicht mit Erfolg einwenden, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen mit dem Teil des Gebäudes, welcher direkt an der Grenze zum Grundstück der Klägerin errichtet sei, gegen § 6 Abs. 5 BauO LSA verstoße. Gegenstand der Baugenehmigung sei eine Nutzungsänderung, welche die Genehmigungsfrage nicht neu aufwerfe. Eine Nutzungsänderung sei nur dann abstandsflächenbeachtlich, wenn die neue Nutzung vom Bestandschutz nicht mehr gedeckt sei und wenn sie im Verhältnis zur bisherigen Nutzung zu nachteiligen Auswirkungen auf die Nachbargrundstücke in einem der durch die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften geschützten Belange führen könne. Die nunmehr beabsichtigte Nutzungsänderung in eine Dauerwohnnutzung habe auf keinen der durch die Abstandsvorschriften geschützten Belange nachteiligere Auswirkungen als die bisherige Nutzung als Wochenendhaus. Im Hinblick auf das Gebäude im ursprünglichen Bestand ändere sich – auch unter Berücksichtigung der geringfügigen Dacherhöhung – weder im Hinblick auf die Belichtung noch die Belüftung noch die Besonnung noch den Brandschutz noch auf den Wohnfrieden etwas.
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Selbst wenn man annehme, der Altbestand und der Anbau bildeten eine Einheit und beide Baumaßnahmen müssten als komplett neues Bauvorhaben gewertet werden, bliebe es hinsichtlich der Abstandsvorschriften dabei, dass Altbestand und Anbau als getrennte Bauvorhaben anzusehen seien.
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Das Bauvorhaben der Beigeladenen halte sich zwar nicht in jeder Hinsicht innerhalb des vorgegebenen Umgebungsrahmens gleichwohl verstoße weder die geringfügige Dacherhöhung noch der Altbestand noch der genehmigte Anbau gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
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Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat die Klägerin rechtzeitig Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Mit Beschluss vom 27.04.2016 hat der Senat die Berufung zugelassen.
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Zur Begründung der Berufung macht die Klägerin geltend: Die von der Beklagten genehmigte neue Grenzwand verletze die gem. § 6 Abs. 1 BauO LSA vor den Außenwänden von Gebäuden freizuhaltenden Abstandsflächen. Die Beigeladenen könnten sich insoweit nicht auf Bestandschutz berufen. Für das Gebäude sei im Jahre 1979 eine Zustimmung als "Bungalow" zur Wochenendnutzung erteilt worden. So sei das Gebäude auch ursprünglich genutzt worden. Mitte der 90er Jahre, nachdem die Klägerin das Nachbargrundstück erworben hatte, habe das Gebäude aber 2-3 Jahre leer gestanden und sei dann zu Dauerwohnzwecken genutzt worden. Mit diesem Übergang zur Dauerwohnnutzung sei der Bestandschutz für die Wochenendhausnutzung entfallen. Darüber hinaus habe das Gebäude bei der Erteilung der Genehmigung vier Jahre leer gestanden. Werde eine baurechtlich genehmigte Nutzung eines Gebäudes für mehr als ein Jahr nicht ausgeübt, sei nach Ablauf des zweiten Jahres die wiederaufgenommene Nutzung nicht mehr vom Bestandschutz gedeckt, wenn Umstände vorlägen, aus denen nach der Verkehrsauffassung geschlossen werden könnte, mit der Wiederaufnahme sei nicht mehr zu rechnen. Des Weiteren könne eine Änderung des Bausubstanz zum Verlust des Bestandschutzes führen. Werde ein bestehendes Gebäude, welches die geltenden Abstandsflächen nicht einhalte, baulich – wie hier – durch einen Anbau verändert, sei abstandflächenrechtlich eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes vorzunehmen. Durch den Anschluss des Neubaus an die Dachkonstruktion des Altbestands und den Rückbau der Grenzwand sei es zu Eingriffen in die Statik des alten Gebäudes gekommen. Die bauliche Veränderung sei in einem solchen Fall nur dann zulässig, wenn auch der Altbestand nach geltendem Abstandsflächenrecht genehmigungsfähig sei. Dies sei offensichtlich nicht der Fall. Auch die "Altsubstanz" im Grenzbereich stelle ein neues Gebäude dar, das aufgrund von Dämmmaßnahmen auf beiden Seiten je ca. 24 cm breiter und insgesamt mindestens um 20 cm höher geworden sei.
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Der Neubau füge sich auch nicht im Hinblick auf die überbaute Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung ein und verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Der Neubau sei in die Ruhezone im rückwärtigen Bereich der Grundstücke hineingebaut worden.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 05.12.2014 – 4 A 352/13 MD – abzuändern und die Baugenehmigung vom 06.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2014 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie macht geltend: Der Bestandschutz für den zu "DDR-Zeiten" mit Zustimmung des Rates des Stadtbezirks Süd der Stadt A. errichteten "Bungalow" sei entgegen der Auffassung der Klägerin weder aufgrund der seit 1995 formell illegal geänderten Nutzung (Dauerwohnen) noch aufgrund des Auszuges der letzten Mieterin Ende Juli 2008 erloschen. Die Nutzung des zu "DDR-Zeiten" genehmigten und errichteten "Bungalows" sei gerade nicht für einen längeren Zeitraum unterbrochen worden. Nach der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung finde das vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Zeitmodell für Fälle, in denen es um die Frage der Beendigung materiellen Bestandschutzes einer baulichen Anlage durch Nutzungsunterbrechung gehe, jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die bisherige Nutzung baurechtlich genehmigt worden sei. Die landesrechtlichen Vorschriften über die Geltungsdauer einer Baugenehmigung könnten auf den Fall einer Nutzungsunterbrechung nicht analog angewendet werden, insbesondere weil eine bereits ausgeführte Baugenehmigung einen weitergehenden Vertrauensschutz gewähre als eine Baugenehmigung, deren Ausführung sich verzögere. Danach komme nur ein Rückgriff auf die allgemeine Regelung des Verwaltungsverfahrensgesetzes in Frage. Nach § 1 Abs. 1 VwVfG LSA i. V. m. § 43 Abs. 2 VwVfG bleibe ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt sei. Diese Regelung bestimme den Schutz, den das Vertrauen in den Fortbestand der durch die Baugenehmigung eingeräumten Rechtsposition genieße und damit den Inhalt des Eigentums. Die Tatbestands- und Feststellungswirkung der Baugenehmigung bleibe nach der Errichtung des Gebäudes erhalten und gewährleiste den rechtlichen Bestand des ausgeführten Vorhabens und seiner Nutzung. Dies gelte grundsätzlich auch für die Dauer der Nichtausübung der genehmigten Nutzung. Unstreitig wäre eine Wohnnutzung des baulich unveränderten "Bungalows" 1995 auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt geltenden Landesbauordnung unter Beachtung der Vorschriften zum baulichen Brandschutz (Schließen des Fensters in der östlichen Außenwand) genehmigungsfähig gewesen. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei ein eindeutiger und dauerhafter Verzichtswille des Grundstückseigentümers zum Zeitpunkt der Prüfung des Bauantrags durch die untere Bauaufsichtsbehörde und der Erteilung der Baugenehmigung für das streitige Bauvorhaben im Jahr 2012 nicht erkennbar.
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Selbst wenn durch die baulichen Änderungen des "Bungalows" – geringfügige Änderung des Daches, des Rückbaus der Grenzwand zugunsten der Klägerin und der Errichtung eines Anbaus – die Genehmigungsfrage neu aufgeworfen worden wäre und bei der Prüfung des Bauantrags eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes als Einheit vorzunehmen gewesen wäre, hätte dies keine Auswirkungen auf die einzuhaltenden Abstände. Durch die geringfügige Änderung des Daches des Bestandsgebäudes seien die Belange der Klägerin an ausreichender Belichtung, Belüftung und Besonnung ihres Wohngebäudes bzw. der geschützten Wohnbereiche nicht unzumutbar betroffen. Dies gelte auch für den Anbau, der die erforderliche Abstandsfläche zum Grundstück der Klägerin einhalte und sich nordwestlich des Grundstücks der Klägerin insbesondere auch nordwestlich ihres Wohngebäudes befinde. Die Belange des Brandschutzes seien durch das Schließen der Öffnung in der östlichen Außenwand des Bestandsgebäudes und das Rückversetzen dieser östlichen Außenwand auf das Baugrundstück der Beigeladenen sogar verbessert worden. Die östliche Außenwand entspreche nunmehr den Anforderungen an eine Brandwand.
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Die Beigeladenen beantragen ebenfalls,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verweisen auf die Gründe des verwaltungsgerichtliche Urteils und auf die Berufungserwiderung der Beklagten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung ist zulässig und begründet.
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Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 06.06.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren eigenen Rechten (§ 113 Abs.1 S. 1 VwGO).
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Gegenstand des Baugenehmigungsverfahrens ist die Änderung einer baulichen Anlage im Sinne von § 58 Abs. 1 BauO LSA.
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Der Bauherr hat hier zwar eine Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung für einen Bungalow und die Errichtung eines Anbaus beantragt und die Beklagte hat auch eine entsprechende Baugenehmigung erteilt. Zuzugeben ist auch, dass der Bauherr "Herr" des Vorhabensbegriffs ist und prinzipiell frei bestimmen kann, was Gegenstand seines Bauantrags sein soll. Begrenzt wir diese Freiheit aber dort, wo ein nach natürlicher Betrachtungsweise einheitliches Vorhaben in selbständig – faktisch oder normativ – nicht "lebensfähige" Teile aufgespalten werden soll (Dirnberger: in Jäde/Dirnberger u.a. BauO LSA, Kom. Loseblatt, § 58 RdNr.18).
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Das Vorhaben der Beigeladenen kann weder faktisch noch normativ in zwei Bauvorhaben, nämlich in eine Nutzungsänderung eines Bestandbungalows und in die Errichtung eines Anbaus, aufgeteilt werden. Nach § 2 Abs. 2 BauO LSA sind Gebäude selbständig nutzbare, überdeckte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen. Der bauordnungsrechtliche Gebäudebegriff ist insoweit ein Unterfall, der vom allgemeinen Begriff der baulichen Anlage mitumfasst wird. Dies schließt es aus, unselbständige Teile einer baulichen Anlage als Gebäude zu qualifizieren. Als Abgrenzungskriterium eignet sich insoweit das Kriterium der selbständigen Benutzbarkeit (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.12.1995 – 4 B 345/95 –, Juris RdNr. 4).
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Aufgrund der funktionalen Verbindung des Altbaus und des Anbaus kann hier nicht von zwei selbständigen Gebäuden, sondern nur von einem einheitlichen Gebäude ausgegangen werden. Nach den genehmigten Bauvorlagen sind Altbestand und Anbau nicht selbstständig nutzbar. Schon aufgrund der Integration zwischen dem Anbau und dem grenzständigen Gebäude in einen neuen Baukörper und aufgrund der inneren Raumaufteilung kann keine Rede davon sein, dass das Gebäude (Altbungalow) in seinen ursprünglichen Dimensionen und seiner Gestalt erhalten bleibt. Das einheitliche Gebäude besitzt nur einen Eingang. Im Altbestand befinden sich Wohn- und Schlafzimmer, Bad/WC sowie ein Hauswirtschaftsraum; im Anbau, der durch eine Tür vom Altbestand zu erreichen ist, liegt das Kinderzimmer und die Küche. Selbst wenn die Statik des Altbestandes durch den Anbau unverändert geblieben sein sollte, ändert dies nichts daran, dass wegen der übrigen baulichen Veränderungen ein Neubau errichtet werden soll, durch den die bauliche Substanz wesentlich verändert wird. Der genehmigte Anbau kann auch nicht als optisch selbständig bewertet werden. Allein der Umstand, dass er den Grenzabstand zum klägerischen Grundstück einhält, vermittelt nicht den Eindruck seiner Selbständigkeit von dem Bestandsbau.
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Die baulichen Änderungen beschränken sich nicht lediglich auf unwesentliche Änderungen, Instandsetzungsarbeiten oder zu vernachlässigende Erweiterungen. Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 17.03.1999 – A 2 S 123/97 –, n. v.) liegt ein möglicherweise vorliegender Bestandschutz bei einer Veränderung der Bausubstanz eines Wochenendhauses bereits dann nicht mehr vor, wenn die Grundfläche eines Anbaus mehr als die Hälfte der Grundfläche des Altbestandes ausmacht. Nach den genehmigten Bauvorlagen beträgt hier die Grundfläche des Anbaus 48,51 m² und die des Altbestandes 71,49 m².
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Mit den zur Genehmigung gestellten Baumaßnahmen wird die Genehmigung für die Änderung einer baulichen Anlage beantragt und damit ein mit dem früheren Vorhaben nicht mehr identischer Baukörper geschaffen, der auch äußerlich neu gestaltet wird. Dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, dass auch die Grenzwand zur Klägerin hin neu errichtet worden ist.
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Die Erteilung der Baugenehmigung verstößt gegen die gemäß § 62 BauO LSA zu prüfende Vorschrift des § 6 BauO LSA, wonach vor den Außenwänden von oberirdischen Gebäuden Abstandsflächen einzuhalten sind (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BauO LSA). Die Tiefe der Abstandsflächen bemisst sich nach der Wandhöhe und beträgt in der Tiefe grundsätzlich 0,4 der Wandhöhe – 0,4 H –, mindestens 3 m (§ 6 Abs. 4 und 5 Satz 1 BauO LSA). Das Vorderhaus (ehemaliger "Bungalow") der Beigeladenen hält den sich hieraus zum klägerischen Grundstück ergebenden Abstand nicht ein.
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Die Einhaltung des erforderlichen Abstandes ist auch nicht nach planungsrechtlichen Vorgaben (§ 6 Abs. 1 Satz 3 BauO LSA) oder deshalb entbehrlich, weil im Sinne der Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt rechtlich gesichert wäre, dass das Grundstück der Klägerin nicht überbaut wird.
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Wenn bestehende Gebäude, die die nach geltendem Recht einzuhaltenden Abstandsflächen nicht wahren, baulich geändert werden, ist abstandsflächenrechtlich eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes als Einheit vorzunehmen. Dies gilt auch dann, wenn die Änderung für sich genommen abstandsflächenneutral ist.
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Eine bauliche Veränderung ist in einem solchen Fall nur dann zulässig, wenn auch der Altbestand nach geltendem Abstandsflächenrecht genehmigungsfähig ist (so auch Sächs.OVG, Beschl. v. 25.03.2009 – 1 B 250/08 –, Juris RdNr. 8; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.01.2012 – 2 S 50.10 –, Juris RdNr. 10, jeweils m.w.N.).
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Entgegen der Rechtsauffassungen der Beklagten, des Verwaltungsgerichts und der Beigeladenen ist die Frage der Einhaltung der Abstandflächen erneut zu überprüfen, ohne dass es darauf ankommt, ob das Bauvorhaben in abstandflächenrechtlicher Hinsicht im Vergleich zum vorhandenen Baubestand nachteiligere Wirkungen für den Nachbarn mit sich bringt. Die dafür vom Verwaltungsgericht zur Begründung herangezogenen Rechtsgrundsätze gelten nicht für den vorliegenden Sachverhalt einer Änderung der baulichen Substanz. Sie beziehen sich vielmehr auf den Fall der Nutzungsänderung eines ursprünglich legalen Bauvorhabens. In einem solchen Fall wird die Abstandsfrage nur dann neu aufgeworfen, wenn die Nutzungsänderung vom Bestandsschutz nicht mehr gedeckt ist und auf wenigstens einen durch die Abstandvorschriften geschützten Belang nachteiligere Auswirkungen als die bisherige Nutzung hat (vgl. OVG NW, Urt. v. 15.05.1997 – 11 A 7224/95 –, Juris RdNr. 10).
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Der Nachbar kann sich grundsätzlich gegen jede Unterschreitung der Mindestabstandsfläche zur Wehr setzen, ohne den Nachweis einer gerade dadurch hervorgerufenen tatsächlichen Beeinträchtigung führen zu müssen. Die Abstandsvorschriften nehmen den Ausgleich der nachbarlichen Interessen in abstrakt - genereller Weise vor und legen zentimeterscharf fest, was dem Nachbarn an heranrückender Bebauung zuzumuten ist, ohne auf die Verhältnisse im Einzelfall abzustellen, insbesondere ohne nach Lage und Zuschnitt der einzelnen Grundstücke zu differenzieren. Derartige Besonderheiten können nur bei der Erteilung einer Abweichung nach § 66 BauO LSA im Einzelfall eine Rolle spielen.
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Die Beigeladenen können sich in diesem Verfahren nicht darauf berufen, dass ihnen hinsichtlich der Abstandsflächen des § 6 Abs. 1, 4 und 5 BauO LSA eine Abweichung nach § 66 BauO LSA zu erteilen sei. Im hier strittigen Baugenehmigungsverfahren wurde hinsichtlich der nachbarlichen Situation zum Grundstück der Klägerin hin weder eine Abweichungsentscheidung beantragt noch wurde eine solche von der Beklagten erteilt. Sowohl die Beigeladenen als auch die Beklagte sind bisher davon ausgegangen, dass eine Abweichungsentscheidung nicht erforderlich sei.
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Bei dieser Rechtslage kommt es nicht darauf an, ob die strittige Baugenehmigung – wie von der Klägerin geltend gemacht – auch gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3; § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und über die Abwendungsbefugnis folgen aus den § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
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Annotations
(1) Dieses Gesetz gilt für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden
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des Bundes, der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, - 2.
der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände, der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts, wenn sie Bundesrecht im Auftrag des Bundes ausführen,
(2) Dieses Gesetz gilt auch für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der in Absatz 1 Nr. 2 bezeichneten Behörden, wenn die Länder Bundesrecht, das Gegenstände der ausschließlichen oder konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes betrifft, als eigene Angelegenheit ausführen, soweit nicht Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten. Für die Ausführung von Bundesgesetzen, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassen werden, gilt dies nur, soweit die Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates dieses Gesetz für anwendbar erklären.
(3) Für die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder gilt dieses Gesetz nicht, soweit die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden landesrechtlich durch ein Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt ist.
(4) Behörde im Sinne dieses Gesetzes ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.
(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.
(2) Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.
(3) Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Kosten sind die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens.
(2) Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines Rechtsbeistands, in den in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nummer 3 und 3a genannten Angelegenheiten auch einer der dort genannten Personen, sind stets erstattungsfähig. Soweit ein Vorverfahren geschwebt hat, sind Gebühren und Auslagen erstattungsfähig, wenn das Gericht die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig erklärt. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können an Stelle ihrer tatsächlichen notwendigen Aufwendungen für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen den in Nummer 7002 der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz bestimmten Höchstsatz der Pauschale fordern.
(3) Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nur erstattungsfähig, wenn sie das Gericht aus Billigkeit der unterliegenden Partei oder der Staatskasse auferlegt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.
(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.
(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.