Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Beschluss, 01. Aug. 2011 - L 6 R 334/11 B ER
Gericht
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 16.6.2011 aufgehoben: Der Antragsgegner wird verpflichtet, binnen Monatsfrist ab Zustellung dieses Beschlusses Klage zur Hauptsache zu erheben.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
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Mit Schreiben vom 22.9.2009 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit, dass aufgrund einer Verrechnung mit einer Forderung der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von 14.120 € die ab dem 1.10.2009 zu bewilligende Regelaltersrente um monatlich 40 € gekürzt werde. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass für den Fall, dass man die Verrechnungserklärung als rechtswidrig ansehe, die Möglichkeit bestehe, eine auf vollständige Auszahlung der Rente gerichtete sozialgerichtliche Leistungsklage zu erheben. Aufgrund dieser Verrechnungserklärung wurde dem Antragsgegner ab dem 1.10.2009 Regelaltersrente unter Abzug eines monatlichen Betrages von 40 € bewilligt.
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Dagegen erhob der Antragsgegner am 22.10.2009 beim Sozialgericht (SG) Koblenz Klage (S 5 R 924/09) und beantragte am gleichen Tag den Erlass einer einstweiligen Anordnung (S 5 R 940/09 R). Mit Beschluss vom 21.12.2009 verurteilte das SG die Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung, dem Antragsgegner die ab dem 1.10.2009 bewilligte Regelaltersrente bis zum Erlass eines Verwaltungsaktes über die Vornahme einer Verrechnung nach § 52 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) in ungekürzter Höhe auszuzahlen. Daraufhin erklärte der Antragsgegner die Klage am 3.3.2010 als erledigt.
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Am 16.9.2010 stellte die Antragstellerin beim SG Koblenz den Antrag, gemäß § 86 b Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 926 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) anzuordnen, dass der Antragsgegner binnen einer durch das Gericht zu bestimmenden Frist Klage erheben solle.
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Mit Beschluss vom 16.6.2011 lehnte das SG den Antrag ab. Zur Begründung führte es aus, der zulässige Antrag sei unbegründet, weil eine zu erhebende Klage des Antragsgegners nach derzeitigem Sachstand nicht zulässig sei.
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Am 18.7.2011 hat die Antragstellerin gegen diesen Beschluss Beschwerde erhoben.
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Zu deren Begründung hat sie vorgetragen, soweit das Erstgericht die Auffassung vertrete, dass die Begründetheit des Antrags an der fehlenden Zulässigkeit der Hauptsacheklage scheitere, könne man sich dieser Auffassung nicht anschließen. Die Zulässigkeit einer Hauptsacheklage werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass eine einstweilige Anordnung zu Gunsten des Antragsgegners ergangen sei, die beachtet werden müsse. Denn eine einstweilige Anordnung stehe in ihrer Wirkung einem rechtskräftigen Urteil nicht gleich. Der Begünstigte einer einstweiligen Anordnung habe daher ein fortbestehendes Interesse daran, zusätzlich ein entsprechendes Urteil zu seinen Gunsten zu erwirken. Dieses Ziel könne er nur durch eine Hauptsacheklage erreichen. Das Rechtschutzinteresse für eine derartige Klage sei daher uneingeschränkt zu bejahen. Die gegenteilige Auffassung des Erstgerichts werde in Rechtsprechung und Schrifttum nicht geteilt. Wäre sie zutreffend, so würde die Regelung des § 926 ZPO leer laufen, da sie gerade für Fallkonstellationen der vorliegenden Art geschaffen worden sei. Einstweilige Anordnungen ergingen in einem summarischen Verfahren ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung der ehrenamtliche Richter, unter Umständen sogar ohne Anhörung des Antragsgegners. Die Regelung des § 926 ZPO solle dem in einem Anordnungsverfahren unterlegenen Antragsgegner die Möglichkeit eröffnen, eine Nachprüfung der gegen ihn ergangenen Anordnung in einem Hauptverfahren zu erzwingen.
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Auf Nachfrage des Senats hat der Antragsteller mitgeteilt, dass er fortlaufend Altersrente in ungekürzter Höhe an den Antragsgegner zahle, dies jedoch nur bis zum Ende des Beschwerdeverfahrens. Im Falle der Erfolglosigkeit der Beschwerde werde die Verrechnung zum nächstmöglichen Zeitpunkt wieder aufgenommen. Die einstweilige Anordnung habe nur vorläufigen Regelungscharakter bis zu einer Hauptsacheentscheidung und werde dann gegenstandslos, wenn eine Hauptsacheentscheidung nicht mehr angestrebt werde und von ihm auch nicht erzwungen werden könne.
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Der Antragsteller beantragt,
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den Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 16.6.2011 aufzuheben und anzuordnen, dass der Antragsgegner binnen einer durch das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmenden Frist Klage in der Hauptsache zu erheben habe.
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Der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Er hat erwidert, ihm dürfe keine Frist zur Klageerhebung gesetzt werden, da eine solche Klage nicht zulässig wäre. Es liege kein Verwaltungsakt vor, gegen den er sich mit einer Anfechtungsklage zur Wehr setzen könne. Die Antragstellerin habe ausreichend Gelegenheit besessen, einen Verwaltungsakt zu erlassen, hiervon jedoch keinen Gebrauch gemacht. Außerdem bestehe kein Rechtschutzbedürfnis, da die Regelaltersrente ungekürzt ausgezahlt werde. Eine Feststellungsklage wäre gegenüber der Anfechtungsklage subsidiär. Im Übrigen habe er zeitgleich mit dem Antrag Klage erhoben, diese jedoch nach Erlass des Beschlusses zurückgenommen.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
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Der Antrag der Antragstellerin nach § 86 Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 926 Abs 1 ZPO, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des SG Koblenz vom 16.6.2011 anzuordnen, dass der Antragsgegner binnen einer nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmenden Frist Klage in der Hauptsache zu erheben habe, ist zulässig und begründet.
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Gemäß § 926 Abs. 1 ZPO hat das Arrestgericht auf Antrag ohne mündliche Verhandlung bei fehlender Anhängigkeit der Hauptsache anzuordnen, dass die Partei, die den Arrestbefehl erwirkt hat, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben hat. Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, so ist gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung auf Antrag die Aufhebung des Arrestes durch ein Urteil auszusprechen.
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Sinn und Zweck der Regelung des § 926 ZPO ist es, dem in einem Anordnungsverfahren Unterlegenen die Möglichkeit zu eröffnen, eine Nachprüfung der gegen ihn ergangenen Anordnung in einem Hauptverfahren zu erzwingen. Durch die Möglichkeit der Fristsetzung zur Klageerhebung soll der Unterlegene vor einer zu langen Bindung an eine Entscheidung, die im Hauptsacheverfahren noch nicht überprüft worden ist, geschützt werden (Keller in Meyer- Ladewig, SGG, 9. Auflage, Rdnr 48 zu § 86 b; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage, Rdnr. 15).
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Die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 926 Abs 1 ZPO liegen vor. Der Antragsgegner hat einen Arrestbefehl (hier: einstweilige Anordnung) durch das Arrestgericht (hier: SG Koblenz) erwirkt und anschließend die Hauptsache für erledigt erklärt. Der geforderten fehlenden Rechtshängigkeit steht der Fall gleich, dass -wie vorliegend- eine erhobene Klage wieder zurückgenommen wurde (Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Auflage, § 926 Rdnr. 10).
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Die fehlende Rechtshängigkeit eines Hauptsacheverfahrens hat zur Folge, dass die zwischen den Beteiligten streitige Frage der Rechtmäßigkeit der mit Schreiben vom 22.9.2009 von der Antragstellerin erklärten Verrechnung durch die Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt worden ist. Denn mit einem Eilverfahren kann grundsätzlich nur eine vorläufige, jedoch keine endgültige Regelung getroffen werden. In dem im Verfahren S 5 R 940/09 ER ergangenen Beschluss ist eine Erledigung nicht etwa mit der Beendigung des Hauptsacheverfahrens, sondern (lediglich) im Falle des Erlasses eines Verwaltungsaktes über die Vornahme einer Verrechnung vorgesehen, obwohl die Rechtsfrage der Erforderlichkeit eines Verwaltungsaktes angesichts der zwischen dem 4. und dem 13. Senat des BSG zu Tage getretenen Unterschiede in der Bewertung der Verrechnungserklärung (z.B. Urteil des 4. Senats vom24.7.2003 - B 4 RA 60/02 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 1; z.B. Urteil des 13. Senats vom 27.3.2007 - B 13 RJ 43/05 R) höchst umstritten ist und die höchstrichterliche Klärung der Streitfrage durch den Großen Senats des BSG in der Sache B 13 R 76/09 R noch aussteht. Obwohl eigentlich nur eine vorläufige Regelung zu treffen gewesen wäre, entfaltet die vom SG getroffene Regelung faktisch eine Wirkung, die einer dauerhaften Regelung gleichkommt. Vor einer zu langen Bindung an eine Eilentscheidung, die in einem Hauptsacheverfahren noch nicht überprüft worden ist, soll ein Unterlegener jedoch gerade geschützt werden.
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Der Antragsgegner hat binnen der vom Senat nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmten Frist eine Leistungsklage in der Hauptsache zu erheben. Dieser Verpflichtung kann nicht entgegengehalten werden, zeitgleich mit dem Eilantrag sei bereits eine Leistungsklage erhoben worden. Denn die Rechtshängigkeit jener Klage (§ 94 SGG) endete mit Klagerücknahme. Als echte Leistungsklage im Sinne des § 54 V SGG ist eine Bindung an die in § 87 SGG normierten Fristen nicht gegeben. Der auf ungekürzte Auszahlung der Altersrente gerichteten Leistungsklage kann auch das Rechtschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden. Die erlassene einstweilige Anordnung hat nur vorläufigen Regelungscharakter und entfaltet grundsätzlich nur bis zu einer Hauptsacheentscheidung bzw. bis zum Abschluss eines Beschwerdeverfahrens seine Wirkung. Der Antragsteller hat schließlich auf Nachfrage des Senats auch deutlich gemacht, dass er Altersrente nur bis zum Ende des Beschwerdeverfahrens in ungekürzter Höhe an den Antragsgegner zahle, im Falle der Erfolglosigkeit der Beschwerde jedoch die Verrechnung zum nächstmöglichen Zeitpunkt wieder aufnehme. Der Antragsgegner besitzt daher ein Interesse daran, durch eine Hauptsacheklage zusätzlich zur einstweiligen Anordnung ein entsprechendes Urteil zu seinen Gunsten zu erwirken.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 Abs 2 SGG).
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Der für eine Geldleistung zuständige Leistungsträger kann mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers dessen Ansprüche gegen den Berechtigten mit der ihm obliegenden Geldleistung verrechnen, soweit nach § 51 die Aufrechnung zulässig ist.
(1) Ist die Hauptsache nicht anhängig, so hat das Arrestgericht auf Antrag ohne mündliche Verhandlung anzuordnen, dass die Partei, die den Arrestbefehl erwirkt hat, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben habe.
(2) Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, so ist auf Antrag die Aufhebung des Arrestes durch Endurteil auszusprechen.
Wird während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert, so wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens; er ist der Stelle, die über den Widerspruch entscheidet, unverzüglich mitzuteilen.
(1) Ist die Hauptsache nicht anhängig, so hat das Arrestgericht auf Antrag ohne mündliche Verhandlung anzuordnen, dass die Partei, die den Arrestbefehl erwirkt hat, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben habe.
(2) Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, so ist auf Antrag die Aufhebung des Arrestes durch Endurteil auszusprechen.
Durch die Erhebung der Klage wird die Streitsache rechtshängig. In Verfahren nach dem Siebzehnten Titel des Gerichtsverfassungsgesetzes wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens wird die Streitsache erst mit Zustellung der Klage rechtshängig.
(1) Die Klage ist binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben. Die Frist beträgt bei Bekanntgabe im Ausland drei Monate. Bei einer öffentlichen Bekanntgabe nach § 85 Abs. 4 beträgt die Frist ein Jahr. Die Frist beginnt mit dem Tag zu laufen, an dem seit dem Tag der letzten Veröffentlichung zwei Wochen verstrichen sind.
(2) Hat ein Vorverfahren stattgefunden, so beginnt die Frist mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids.
Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters können vorbehaltlich des § 160a Abs. 1 dieses Gesetzes und des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.