Bundessozialgericht Beschluss, 06. Apr. 2011 - B 4 AS 188/10 B

bei uns veröffentlicht am06.04.2011

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. November 2010 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen eines von dem Kläger geltend gemachten Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung für die Zeit vom 1.3.2009 bis 31.8.2009.

2

Der Beklagte bewilligte dem Kläger für diesen Zeitraum weiterhin die Regelleistung sowie Kosten für Unterkunft und Heizung; die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung lehnte er jedoch ab (Bescheid vom 12.2.2009; Widerspruchsbescheid vom 30.3.2009). Nachdem der Kläger auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt hatte, dass er wegen der Kosten und "eindeutiger miserabler Verfassung seiner Gesundheit" auf eine mündliche Verhandlung verzichte, hat das SG die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen (Urteil vom 10.6.2010). Im Berufungsverfahren hat die zuständige Berichterstatterin den Kläger mit Schreiben vom 19.10.2010 darauf hingewiesen, dass der Senat nach den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen keinen Anlass zu weiteren Beweiserhebungen von Amts wegen sehe. Nach § 153 Abs 4 SGG könne er die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Diese Verfahrensweise sei aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt. Der Kläger hat daraufhin unter Hinweis auf die beim BSG anhängigen Verfahren B 4 AS 100/10 R und B 4 AS 138/10 R angeregt, die Entscheidung zurückzustellen (Schreiben vom 17.11.2010). Mit Beschluss vom 25.11.2010 hat das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

3

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Urteil des SG vom 10.6.2010 sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Mit Schreiben vom 24.6.2009 habe er sich hiermit einverstanden erklärt, sei aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertreten gewesen. Wäre er darüber belehrt worden, dass eine mündliche Verhandlung für ihn nicht mit Kosten verbunden sei, hätte er auf deren Durchführung bestanden. Seine Prozessbevollmächtigte habe gegenüber dem SG mit Schriftsatz vom 28.5.2010 angezeigt, dass er nunmehr anwaltlich vertreten sei. Ausweislich der richterlichen Verfügung vom 10.6.2010 sei diese Vertretungsanzeige jedoch erst zu den Akten gelangt, als der Rechtsstreit erstinstanzlich bereits entschieden worden sei. Auch der Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 25.11.2010 sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Nachdem er mit Schriftsatz vom 17.11.2010 angeregt habe, die beabsichtigte Entscheidung wegen anhängiger Verfahren beim BSG zurückzustellen, habe das LSG hierzu keine Stellung mehr genommen, sondern durch den streitgegenständlichen Beschluss entschieden. Er habe aber darauf vertrauen dürfen, dass es zu einem weiteren richterlichen Hinweis kommen würde, falls das LSG an der angekündigten Verfahrensweise festhalte. Die Entscheidung des LSG beruhe auf diesem Verfahrensfehler.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor, weil der Beschluss des LSG unter Verletzung des § 153 Abs 4 SGG und damit in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung(§ 33 SGG) ergangen ist. Das LSG durfte nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne ehrenamtliche Richter entscheiden, sondern hätte aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden müssen.

5

Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Voraussetzung für ein Vorgehen des LSG nach § 153 Abs 4 SGG ist also neben den Erfordernissen der Einstimmigkeit und der Ausübung des eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist. Zwar steht die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zurückzuweisen, im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden(BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7; BSG Beschluss vom 8.10.2010 - B 4 AS 59/10 B). Insofern kann allein der Vortrag des Klägers, er habe auf das Schreiben der Berichterstatterin beim LSG angeregt, wegen der beim BSG anhängigen Verfahren zum ernährungsbedingten Mehrbedarf die Entscheidung zurückzustellen, die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung nicht begründen. Die Einschätzung des LSG, nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden zu können, beruht jedoch deshalb auf einer groben Fehleinschätzung, weil es nicht ausreichend beachtet hat, dass (bereits) das SG ohne mündliche Verhandlung entschieden hatte, obwohl dies nicht zulässig war. Es liegt daher eine Konstellation vor, in der ausnahmsweise ein Verfahrensmangel des sozialgerichtlichen Klageverfahrens für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG bedeutsam bleibt.

6

Bei der Beurteilung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist zu beachten, dass diese das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ist (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33) und den Zweck verfolgt, dem Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihm den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Unter Beachtung der prozessrechtlichen Garantie des Art 6 Abs 1 EMRK (vgl hierzu auch Hauck in Hennig, SGG, § 124 RdNr 6, Stand September 2010) ist die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Entsprechend gilt der Grundsatz, dass von einer Verfahrensweise nach § 153 Abs 4 SGG in Fallgestaltungen abzusehen ist, in denen ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen(Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7; BSG Beschluss vom 14.4.2010 - B 8 SO 22/09 B - RdNr 6).

7

Zwar ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz für möglich gehalten worden, wenn in erster Instanz ein Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorliegt und ein Widerruf der Erklärung mangels wesentlicher Änderung der Verfahrenslage nicht in Betracht kommt (vgl BSG Beschluss vom 14.10.2005 - B 11a AL 45/05 B; BSG Beschluss vom 16.2.2007 - B 6 KA 60/06 B - RdNr 10). Es ist bereits zweifelhaft, ob die Mitteilung des Klägers gegenüber dem SG vom 24.6.2009 nach Eingang des Schreibens der neu beauftragten Bevollmächtigten des Klägers vom 28.5.2010 am 31.5.2010 noch als wirksame Einverständniserklärung angesehen werden konnte (vgl zum "Verbrauch" einer Einverständniserklärung bei einer Änderung der Prozess-, Beweis- oder Rechtslage BSG Urteil vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8; BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - RdNr 13), weil die Bevollmächtigte mit diesem Schreiben ihre Interessenvertretung des Klägers unter Beifügung einer Originalvollmacht angezeigt und eine weitere Begründung der Klage angekündigt hat. Gleichzeitig bat sie um Akteneinsicht in die Verwaltungs- sowie die Gerichtsakte.

8

Das SG hat aber jedenfalls ermessenswidrig gehandelt, indem es am 10.6.2010 durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, weil es auch bei Vorliegen einer Einverständniserklärung der Beteiligten im Ermessen des Gerichts liegt, ob es dennoch eine mündliche Verhandlung durchführt (BSG Urteil vom 21.2.1989 - 1 RA 65/88 - SozSich 1989, 313; BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Das Gericht muss sein Ermessen dahin ausüben, trotz vorliegender Einverständniserklärung aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, wenn eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach der Verfahrenslage höherrangige Prozessgrundrechte (zB den Anspruch auf rechtliches Gehör) verletzen würde (Hauck in Hennig, SGG, § 124 RdNr 43, Stand September 2010). Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Umstand, dass das Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom 28.5.2010 trotz Eingang am 31.5.2010 nach dem Inhalt des Vermerks des Kammervorsitzenden in erster Instanz vom 10.6.2010 erst nach der Entscheidung vom gleichen Tag zu den Akten gelangte, begründet ein Organisationsverschulden des Gerichts. Bei ordnungsgemäßer Prozessführung hätte das SG der Prozessbevollmächtigen Akteneinsicht gewähren und ausreichend Zeit zur Einarbeitung in den Sach- und Streitstand sowie für den bereits angekündigten ergänzenden Sachvortrag einräumen müssen. Mit der - ohne weiteren Hinweis an die Bevollmächtigte - erfolgten Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hat das SG pflichtwidrig gehandelt. Unter Berücksichtigung dieses Verfahrensverstoßes des SG durfte das LSG nicht von dem Grundsatz, dass im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens zumindest eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist, abweichen.

9

Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG wegen der fehlerhaften Besetzung der Richterbank einen absoluten Revisionsgrund(§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) anzunehmen, bei dem nähere Ausführungen zur Kausalität entbehrlich sind (vgl BSG Urteil vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13; BSG Beschluss vom 29.8.2006 - B 13 R 37/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10 mwN; BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - RdNr 17). Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

10

Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

Urteilsbesprechung zu Bundessozialgericht Beschluss, 06. Apr. 2011 - B 4 AS 188/10 B

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

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(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt. (2) Das Landessozialgericht
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Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfa

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Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,1.wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;2.wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Ges

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(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die

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(1) Jeder Senat wird in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig. § 12 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 5 gilt entsprechend. (2) In Senaten, die in Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsve

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(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Oktober 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1.1. bis 30.6.2005.

2

Die 1959 geborene Klägerin ist alleinstehend und bewohnt eine Ein-Zimmer-Wohnung, die durch zwei Gas-Einzelöfen und einen Heizlüfter im Bad beheizt wird. Im Oktober 2004 beantragte sie bei dem Beklagten die Gewährung von Alg II und legte dabei eine Bescheinigung ihrer Hausärztin vor, wonach bei ihr aufgrund eines Diabetes mellitus Typ I Krankenkost (Diabeteskost) erforderlich sei.

3

Mit Bescheid vom 13.11.2004 bewilligte der Beklagte Alg II von Januar bis Mai 2005 in Höhe von 794,56 Euro und für Juni 2005 in Höhe von 777,16 Euro, wobei er neben einem befristeten Zuschlag nach § 24 SGB II in Höhe von 134 Euro einen monatlichen Mehrbedarf von 25,56 Euro für kostenaufwändige Ernährung wegen Diabetes mellitus Typ I berücksichtigte. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass der Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung zu gering sei und ihr einschließlich Praxisgebühr und Zuzahlung monatliche Kosten in Höhe von mindestens 50 Euro entstünden. Mit Widerspruchsbescheid vom 4.2.2005 bewilligte der Beklagte daraufhin für die Zeit von Januar bis Mai 2005 monatlich 795,23 Euro und für Juni 2005 775,18 Euro. Den darüber hinausgehenden Widerspruch wies er als unbegründet zurück.

4

Am 1.3.2005 erhob die Klägerin Klage zum SG und begründete ihre Klage insbesondere damit, dass eine Anpassung des seit 1997 nicht erhöhten Mehrbedarfsbetrages zu erfolgen habe, die Regelleistung in Höhe von 345 Euro zu gering sei und zusätzliche Stromkosten von monatlich 11 Euro zu berücksichtigen seien, weil sie ihr Bad mit einem Heizlüfter beheize. Während des Klageverfahrens hat der Beklagte mit Änderungsbescheiden vom 4.3.2005, 7.9.2005 und 15.11.2005 zuletzt Leistungen für Januar und Februar in Höhe von monatlich 806,33 Euro, für März 689,26 Euro, für April 810,33 Euro, für Mai 802,82 Euro und für Juni 2005 782,72 Euro bewilligt. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Beklagte am 29.6.2006 ein Teilanerkenntnis abgegeben und sich bereit erklärt, der Klägerin über die mit Bescheid vom 15.11.2005 zuerkannten Leistungen hinaus für März 2005 Leistungen in Höhe von 795,23 Euro (gemäß dem Widerspruchsbescheid), für Mai 2005 in Höhe von 807,56 Euro und für Juni 2005 in Höhe von 784,46 Euro (gemäß dem Bescheid vom 4.3.2005) zu bewilligen. Dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen. Mit Urteil vom 29.6.2006 hat das SG die darüber hinausgehende Klage abgewiesen.

5

Mit Urteil vom 15.12.2006 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Die Klägerin habe nicht dargelegt, dass sie einen Bedarf habe, der in der Höhe erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweiche. Insofern werde auf die Entscheidungsgründe des SG verwiesen, wonach ein Mehrbetrag für kostenaufwändige Ernährung nach dem Krankheitsbild der Klägerin nicht gerechtfertigt sei und die Kosten für Arztbesuche und Zuzahlungen im Regelbetrag enthalten seien.

6

Auf die Revision der Klägerin hat das BSG mit Urteil vom 15.4.2008 - B 14/11b AS 3/07 R - das Urteil des LSG vom 15.12.2006 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, da es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen fehle, insbesondere für die von der Klägerin geltend gemachten Kosten für eine kostenaufwändige Krankenernährung gemäß § 21 Abs 5 SGB II.

7

Das LSG hat hierauf die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Außerdem hat das LSG ein gerichtliches Sachverständigengutachten bei dem Internisten Dr. S. eingeholt. Mit Urteil vom 23.10.2009 hat das LSG der Klägerin einen Anspruch auf Gewährung höherer Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung zugesprochen. Insoweit sei bei den Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) ein Anteil an den Stromkosten, der für eine angemessene Beheizung des Bades mittels des vorhandenen Heizlüfters erforderlich sei, ergänzend zu berücksichtigen. Der konkrete Stromverbrauch des Heizlüfters zur Beheizung des Bades - etwa über einen getrennten Zähler - werde nicht erfasst. Die vom SG berücksichtigte Betriebsdauer des Heizlüfters von einer halben Stunde täglich sei sehr knapp bemessen, weshalb zu Gunsten der Klägerin im Rahmen der Schätzung eine volle Stunde zugrunde gelegt werde. Insgesamt belaufe sich die der Klägerin zustehende Nachzahlung für Kosten der Unterkunft und Heizung für den streitgegenständlichen Zeitraum auf 60,69 Euro. Im Übrigen hat das LSG die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Es bestehe unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme kein Anspruch der Klägerin auf Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung. Wegen des Verbots der reformatio in peius verbleibe es jedoch bei dem von der Beklagten zuerkannten Mehrbedarf in Höhe von 25,56 Euro monatlich. Eine Verrechnung mit dem Nachzahlungsanspruch auf Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung komme nicht in Betracht.

8

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 21 Abs 5 SGB II. Das Tatbestandsmerkmal "medizinische Gründe" in § 21 Abs 5 SGB II umfasse auch nicht krankheitsbedingte und in der körperlichen Verfassung eines Menschen liegende Umstände, die ärztlich festgestellt werden könnten. Vorliegend bestehe ein erhöhter Grundumsatz bzw ein erhöhter Kalorienverbrauch, der zu einer finanziellen Mehrbelastung führe, welche die bereits monatlich gewährten 25,56 Euro deutlich übersteige. Weder der Wortlaut der Norm noch die Gesetzesbegründung würden die Beschränkung auf Gesundheitsschäden hergeben. Ausgehend von ihren Angaben, wonach sie bereits seit ihrer Kindheit habe sehr viel essen müssen, hätte das LSG eine individuelle Kaloriemetrie zur Ermittlung ihres erhöhten Grundbedarfs durchführen müssen. Der Hinweis des LSG auf die Regelleistung des § 20 Abs 1 SGB II gehe fehl, da ein pauschaler Regelleistungsbetrag nur den durchschnittlichen Bedarf decke. Die vorliegend erforderliche Vollkost lasse sich nicht aus dem Regelsatz finanzieren. Auch hierzu fehle es an Feststellungen des LSG. Es liege eine Verletzung des § 170 Abs 5 SGG vor, da das LSG insoweit entgegen der Rechtsprechung des BSG die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 1.10.2008 herangezogen und hieraus abgeleitet habe, dass Vollkost aus dem Regelsatz finanzierbar sei. Hilfsweise bestehe ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen Bedarfs, der nicht von den Leistungen nach § 20 SGB II erfasst werde, jedoch zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zwingend zu decken sei. Schließlich sei der vom LSG errechnete Betrag für die Leistungen für Unterkunft und Heizung wegen fehlerhafter Anwendung der Rundungsregel des § 41 Abs 2 SGB II um 1 Euro zu niedrig.

9

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Oktober 2009 abzuändern und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. Juni 2006 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung seiner Bescheide vom 13. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Februar 2005, dieser in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 4. März 2005, 7. September 2005 und 15. November 2005 zu verurteilen, ihr höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 zu gewähren.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie hat keinen Anspruch auf höhere Leistungen im streitigen Zeitraum vom 1.1. bis 30.6.2005.

12

1. Die Klägerin ist im streitigen Zeitraum vom 1.1. bis 30.6.2005 nach den Feststellungen des LSG leistungsberechtigt als erwerbsfähige Hilfebedürftige iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II(in der ab 1.1.2005 geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954). Damit hat sie Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 19 Satz 1 SGB II, idF des Gesetzes vom 24.12.2003, BGBl I 2954).

13

2. Die Klägerin hat weder wegen eines erhöhten Kalorienbedarfs noch aufgrund einer etwaigen Ernährung mit sog "Vollkost" einen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.

14

a) Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, erhalten nach § 21 Abs 5 SGB II einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Dieser ergänzt die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 21 SGB II idF des Gesetzes vom 24.12.2003, BGBl I 2954). Er umfasst Bedarfe, die nicht durch die Regelleistung abgedeckt sind (§ 21 Abs 1 SGB II).

15

Die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung ist kein abtrennbarer Teil der Regelung über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Die Gewährung des Mehrbedarfs allein kann damit nicht zulässiger Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein (BSG vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen).

16

b) Voraussetzung für die Gewährung des Mehrbedarfs ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine Ernährung erfordert, deren Kosten aufwändiger sind als dies für Personen ohne diese Einschränkung der Fall ist (BSG vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen; Düring in Gagel, SGB III mit SGB II, Stand Juli 2010, § 21 RdNr 19). Es muss also ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bestehenden oder drohenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer besonderen kostenaufwändigen Ernährung vorliegen. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor.

17

aa) Mit "medizinischen Gründen" sind nur krankheitsbedingte Gründe gemeint. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 21 Abs 5 SGB II bewusst an den Rechtszustand des § 23 Abs 4 BSHG angeknüpft. Danach war für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anzuerkennen. Nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Literatur war ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer drohenden oder bestehenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung tatbestandliche Voraussetzung für die Gewährung des Mehrbedarfs (Hofmann in: LPK-BSHG, 6. Aufl 2003, § 23 RdNr 28; vgl auch Behrend in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 43). Unter der Geltung des BSHG wurde die kostenaufwändige Ernährung gemäß § 23 Abs 4 BSHG deshalb auch als "Krankenkostzulage" bezeichnet(vgl Knopp/Fichtner, BSHG, 5. Aufl 1983, § 23 RdNr 22; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl 1997, § 23 RdNr 30; Schoch, Sozialhilfe, 3. Aufl 2001, S 167; Hofmann in LPK-BSHG, 6. Aufl 2003, § 23 RdNr 28; Linhart, BSHG § 23 RdNr 14 - Stand 39. EL, Juli 2004).

18

Wie in der früheren Sozialhilfe, dem Referenzsystem für das SGB II (BT-Drucks 15/1514 S 1), wollte der Gesetzgeber auch im Rahmen des Alg II einen Mehrbedarf wegen krankheitsbedingter kostenaufwändiger Ernährung vorsehen. In der Gesetzesbegründung ist unter Bezugnahme auf den Rechtszustand des BSHG zum Tatbestandsmerkmal "aus medizinischen Gründen" ausgeführt worden: "Wie in der Sozialhilfe ist auch im Rahmen des Arbeitslosengeldes II ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung vorgesehen. Hierbei ist eine Präzisierung dahin gehend vorgenommen worden, dass der Mehrbedarf nur bei Nachweis des Bedarfs aus medizinischen Gründen anzuerkennen ist. Zur Angemessenheit des Mehrbedarfs können die hierzu vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und an typisierbaren Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden." (BT-Drucks 15/1516, S 57).

19

Auch die vergleichende Betrachtung der Vorschriften des § 21 Abs 5 SGB II und des § 30 Abs 5 des SGB XII bestätigt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bestehenden oder drohenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer besonderen kostenaufwändigen Ernährung erforderlich ist. Die Definition des Kreises der Anspruchsberechtigten ist in § 21 Abs 5 SGB II zwar anders formuliert als in § 30 Abs 5 SGB XII, der dem früheren § 23 Abs 4 BSHG nachgebildet ist. Gemäß § 30 Abs 5 SGB XII in der ab 1.1.2005 gültigen Fassung des Gesetzes vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Hingegen sind auch anspruchsberechtigt erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer aufwendigen Ernährung bedürfen. Wie aufgezeigt, sollte nach der Gesetzesbegründung zu § 21 Abs 5 SGB II(BT-Drucks 15/1516, S 57) mit der Formulierung klargestellt werden, dass der Mehrbedarf nur bei Nachweis des Bedarfs aus medizinischen Gründen anzuerkennen sei.

20

Folglich hat der Gesetzgeber inhaltliche Unterschiede zwischen § 21 Abs 5 SGB II und § 30 Abs 5 SGB XII nicht beabsichtigt. Sinn und Zweck der Leistungen ist es in beiden Fällen, durch die krankheitsbedingte besondere Ernährung drohende oder bestehende Gesundheitsschäden abzuwenden oder zu verhindern (Lang/Knickrehm in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 21 RdNr 49 f; Düring in Gagel, SGB III mit SGB II, § 21 RdNr 31; O. Loose in GK-SGB II § 21 RdNr 32, 34; Münder in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 21 RdNr 25; Simon in: jurisPK-SGB XII, § 30 RdNr 92; vgl auch Behrend in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 43). Anspruchsvoraussetzung bei § 21 Abs 5 SGB II ist daher immer das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer drohenden oder bestehenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung. Dementsprechend hat auch das BSG bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 21 Abs 5 SGB II bislang stets von "Krankenernährung" oder "krankheitsbedingtem Mehrbedarf" gesprochen(BSG vom 15.4.2008 - B 14/11b AS 3/07 R) und ausgeführt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nur vorliegen, wenn eine oder mehrere Erkrankungen eine kostenaufwändige Ernährung bedingen (BSG vom 15.4.2008 - B 14/7b AS 58/06 R - SozR 4-4200 § 9 Nr 5; vgl auch BSG vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen).

21

bb) Der von der Klägerin behauptete erhöhte Kalorienbedarf ist nach den Feststellungen des LSG nicht auf eine Krankheit, also auf einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, zurückzuführen. Nach diesen Feststellungen liegen bei der Klägerin zwar verschiedene Krankheiten, insbesondere ein Diabetes mellitus Typ I vor; diese verursachen jedoch weder einen erhöhten Kalorienbedarf noch einen anderen Ernährungsmehrbedarf iS des § 21 Abs 5 SGB II. Das LSG hat den Sachverhalt vollständig und ausreichend ermittelt, indem es sachverständige Zeugenauskünfte sowie ein internistisches ärztliches Sachverständigengutachten eingeholt hat, um sich die erforderliche Sachkunde zu verschaffen. Damit hat das LSG von den Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung gestanden haben, Gebrauch gemacht (vgl BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 48/08 B; BSG vom 11.12.1969 - GS 2/68 - BSGE 30, 192, 205 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO). Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) liegt nicht vor.

22

Nach den Feststellungen, die das LSG nach ausreichenden Ermittlungen des Sachverhalts getroffen hat, liegen keine begründeten Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Krankenkost vor. Das LSG konnte nach der vorgenommenen eigenständigen Aufklärung des Sachverhalts und der Prüfung der Umstände des Einzelfalles dahinstehen lassen, ob die überarbeiteten, aktualisierten Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 1.10.2008 als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind (zum Meinungsstand siehe Düring in Gagel, SGB III mit SGB II, § 21 RdNr 40). Auch durch die aktuellen Empfehlungen wird die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltung und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, die Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts von Amts wegen aufzuklären ( § 20 SGB X bzw § 103 SGG ), nicht aufgehoben. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1.10.2008 zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (abgedruckt in NDV 2008, 503 ff) ersetzen nicht eine ggf erforderliche Begutachtung im Einzelfall.

23

Unabhängig von der in der Rechtsprechung umstrittenen Frage, ob die Empfehlungen 2008 als antizipiertes Sachverständigengutachten anzusehen sind (bejahend zB Sächsisches LSG vom 27.8.2009 - L 3 AS 245/08 - und vom 22.6.2009 - L 7 AS 250/08; Bayerisches LSG vom 23.4.2009 - L 11 AS 124/08; LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 9.3.2009 - L 8 AS 68/08; offen gelassen: LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.3.2010 - L 19 <20> AS 50/09 - und vom 4.10.2010 - L 19 AS 1140/10), können die Empfehlungen 2008 jedenfalls als Orientierungshilfe dienen und es sind weitere Ermittlungen im Einzelfall nur dann erforderlich, sofern Besonderheiten, insbesondere von den Empfehlungen abweichende Bedarfe, substantiiert geltend gemacht werden (so bereits zu den Empfehlungen 1997: BSG vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 64/06 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 2 S 7 f). Da die Empfehlungen des Deutschen Vereins keine Rechtsnormqualität aufweisen (BSG vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 32/06 R - BSGE 100, 83, 89 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 6 S 44 und - B 14/7b AS 64/06 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 2 S 6 f), gibt es auch keine Hinderungsgründe, die darin enthaltenen medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse auch mit den Ergebnissen der Amtsermittlung zu vergleichen bzw in diese einfließen zu lassen, wenn diese Zeiträume betreffen, die vor der Veröffentlichung der neuen Empfehlungen am 1.10.2008 lagen (so bereits Sächsisches LSG vom 26.2.2009 - L 2 AS 152/07; LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 9.3.2009 - L 8 AS 68/08). Wenn dann - wie vorliegend - nach dem Ergebnis der im Einzelfall durchgeführten Amtsermittlung eine Abweichung von den Empfehlungen nicht festzustellen ist (vgl zu diesem Gesichtspunkt auch BVerfG vom 20.6.2006 - 1 BvR 2673/05 - juris RdNr 19), ist eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht erforderlich.

24

cc) Da nur für eine krankheitsbedingt erforderliche kostenaufwändige Ernährung gemäß § 21 Abs 5 SGB II ein Mehrbedarf zu gewähren ist, hat das LSG zu Recht davon abgesehen, den individuell angemessenen Ernährungsbedarf bzw den tatsächlichen individuellen Grundumsatz und Kalorienbedarf der Klägerin zu ermitteln. Auf die Gewährung eines individuell angemessenen Bedarfs für Ernährung besteht kein Anspruch. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlich zulässigen System der Gewährung einer statistisch ermittelten Regelleistung als Festbetrag. Maßgeblich für die Bestimmung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs 5 SGB II sind in diesem System stets die im Einzelfall medizinisch begründeten tatsächlichen Kosten für eine besondere Ernährung, die von der Regelleistung nicht gedeckt ist. Für die allgemeine Kritik, eine ausgewogene Ernährung sei aus dem Regelsatz nicht zu finanzieren, ist § 21 Abs 5 SGB II jedoch kein Auffangtatbestand(Münder in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 21 RdNr 24).

25

dd) Die Ernährung mit einer sog "Vollkost" bei Diabetes mellitus I/II unterfällt nicht § 21 Abs 5 SGB II, da es sich nicht um eine Krankenkost handelt, auf die die Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt.

26

Die Vollkost ist jedoch aus der Regelleistung zu bestreiten. Auch insoweit gilt, dass für die allgemeine Kritik, eine ausgewogene Ernährung sei aus dem Regelsatz nicht zu finanzieren, § 21 Abs 5 SGB II kein Auffangtatbestand ist.

27

3. Der Sache nach ist das Begehren der Klägerin demnach darauf gerichtet, für ihren geltend gemachten individuellen Ernährungsbedarf eine höhere Regelleistung zu erstreiten. Dieses Begehren hat gleichfalls keinen Erfolg.

28

a) Im streitgegenständlichen Zeitraum besteht lediglich ein Anspruch auf eine monatliche Regelleistung in Höhe von 345 Euro. Zwar hat das BVerfG die Vorschriften über die Höhe der Regelleistung, ua die des § 20 Abs 2 Satz 1 SGB II, mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt. Daraus folgt aber nicht, dass einem Hilfebedürftigen ein höherer Anspruch auf Leistungen zusteht. Vielmehr gilt die Vorschrift des § 20 Abs 2 Satz 1 SGB II in der jeweils anzuwendenden Fassung bis zum 31.12.2010 fort. Der Gesetzgeber wurde lediglich verpflichtet, die Regelleistung für die Zukunft neu festzusetzen (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 ff - juris RdNr 210 ff; BVerfG vom 18.2.2010 - 1 BvR 1523/08; BVerfG vom 24.3.2010 - 1 BvR 395/09; BSG vom 17.6.2010 - B 14 AS 17/10 R). Folglich ist im vorliegenden Verfahren davon auszugehen, dass die der Klägerin im Jahre 2005 bewilligte Regelleistung in Höhe von 345 Euro für den hier streitigen Zeitraum hinzunehmen ist (vgl BSG vom 17.6.2010 - B 14 AS 17/10 R - juris RdNr 16).

29

b) Zudem hat das BVerfG ausgeführt, die Regelleistung reiche zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums aus: "Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro nach § 20 Abs 2 1. Halbsatz SGB II aF kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums weiter ist. So kommt beispielsweise eine Untersuchung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zu dem Ergebnis, dass die Beträge des § 2 Abs 2 Regelsatzverordnung für 'Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren' sowie für 'Beherbergungsdienstleistungen, Gaststättenbesuche' die Ernährung eines Alleinstehenden mit Vollkost decken können (vgl seine Empfehlungen zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe, 3. Aufl., sub III 2 )" (RdNr 152 des Urteils vom 9.2.2010).

30

c) Eine abweichende Bedarfsermittlung kommt nicht in Betracht. Nach dem Leistungssystem des SGB II ist eine individuelle Bedarfsermittlung bzw abweichende Bestimmung der Höhe der Regelleistung nicht vorgesehen (vgl dazu BSG 18.6.2008 - B 14 AS 22/07 R - BSGE 101, 70 76 f = SozR 4-4200 § 11 Nr 11 S 65 f). Dies gilt sowohl zu Gunsten wie auch zu Lasten des Grundsicherungsempfängers. Bei der Ernährung handelt es sich um einen Grundbedarf, der von der Regelleistung des § 20 Abs 1 SGB II gedeckt werden soll. Es ist konstitutiver Bestandteil des Systems des SGB II, eine abweichende Festsetzung der Bedarfe, wie sie § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII zulässt, gerade nicht vorzusehen. Folglich gestattet es das SGB II nicht, außerhalb von § 21 Abs 5 SGB II einen individuellen Ernährungsbedarf bedarfserhöhend geltend zu machen.

31

Der Verzicht auf eine individuelle Bedarfsbestimmung entspricht im Übrigen auch dem Sinn und Zweck, den der Gesetzgeber mit einer Pauschalierung der Regelleistung im SGB II verband. Die pauschalierte Regelleistung sollte gerade die Selbstverantwortung und Eigenständigkeit der Hilfeempfänger fördern (BSG SozR 4-4200 § 11 Nr 11 RdNr 24). Diese sind darauf angewiesen, mit dem in der Regelleistung pauschaliert enthaltenen Betrag ihre grundlegenden Bedürfnisse zu decken. Außerhalb der gemäß § 21 SGB II gewährten Mehrbedarfe und der gemäß § 23 Abs 3 SGB II aF - in der ab 1.1.2005 gültigen Fassung - gewährten einmaligen Leistungen sind monetäre Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Das System des SGB II ist insofern abschließend (vgl BSG vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 32/06 R - BSGE 100, 83, 91 = SozR 4-4200 § 20 Nr 6 S 45).

32

In diesem vom Gesetzgeber in zulässiger Weise gewählten System der pauschalierten Regelleistung ist weder - wie von der Klägerin begehrt - eine individuelle Kaloriemetrie vorzunehmen, noch durch eine isolierte Herausnahme und Überprüfung einzelner Bedarfspositionen zu prüfen, ob eine bestimmte individuell gewünschte Ernährungsweise von einer bestimmten Bedarfsposition der Regelleistung direkt erfasst und abgebildet wird. Das BVerfG hat hierzu im Urteil vom 9.2.2010, aaO, RdNr 205 ausgeführt: "Die Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag ist grundsätzlich zulässig. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Regelungen treffen (vgl BVerfGE 87, 234 <255 f>; 100, 59 <90>; 195 <205>). Dies gilt auch für Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Allerdings verlangt Art 1 Abs 1 GG , der die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme schützt, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall sichergestellt wird. Der Hilfebedürftige, dem ein pauschaler Geldbetrag zur Verfügung gestellt wird, kann über seine Verwendung im Einzelnen selbst bestimmen und einen gegenüber dem statistisch ermittelten Durchschnittsbetrag höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen ausgleichen. Dies ist ihm auch zumutbar. Dass sich der Gesamtbetrag aus statistisch erfassten Ausgaben in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zusammensetzt, bedeutet nicht, dass jedem Hilfebedürftigen die einzelnen Ausgabenpositionen und -beträge stets uneingeschränkt zur Verfügung stehen müssen. Es ist vielmehr dem Statistikmodell eigen, dass der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen vom statistischen Durchschnittsfall abweichen kann. Die regelleistungsrelevanten Ausgabepositionen und -beträge sind von vornherein als abstrakte Rechengrößen konzipiert, die nicht bei jedem Hilfebedürftigen exakt zutreffen müssen, sondern erst in ihrer Summe ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten sollen. Wenn das Statistikmodell entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben angewandt und der Pauschalbetrag insbesondere so bestimmt worden ist, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen möglich ist […], kann der Hilfebedürftige in der Regel sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestalten, dass er mit dem Festbetrag auskommt; vor allem hat er bei besonderem Bedarf zuerst auf das Ansparpotenzial zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten ist.“

33

Folglich ist nicht individuell zu ermitteln, ob eine bestimmte Ernährungsweise, die nicht von § 21 Abs 5 SGB II umfasst wird, sondern aus der Regelleistung zu bestreiten ist, im Einzelnen von der entsprechenden Bedarfsposition gedeckt wird. Denn es ist Sache des Hilfebedürftigen selbst, über die Verwendung des bewilligten Festbetrages im Einzelnen zu bestimmen und einen gegenüber dem statistisch ermittelten Durchschnittsbetrag höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen auszugleichen.

34

4. Ansprüche auf Gewährung einer von der Regelleistung abweichenden Leistung auf der Grundlage sonstiger Anspruchsgrundlagen bestehen gleichfalls nicht.

35

a) Die Klägerin kann keinen Anspruch aus einer entsprechenden Anwendung des § 73 SGB XII herleiten. Nach Satz 1 dieser Vorschrift können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Voraussetzung eines Anspruchs nach § 73 SGB XII ist nach der Rechtsprechung des 7b. Senats, der sich auch der 14. Senat des BSG angeschlossen hat, eine besondere Bedarfslage, die eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist. Zugleich muss auch der Bereich der Grundrechtsausübung tangiert sein (vgl BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242, 250 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1 RdNr 22 f; BSG vom 19.8.2010 - B 14 AS 13/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 19 f). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, weil es sich bei der Ernährung mit ausgewogener Mischkost bzw sog "Vollkost" um einen typischen, innerhalb des SGB II zu befriedigenden Bedarf handelt.

36

b) Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht im Hinblick auf die durch eine Anordnung des BVerfG im Urteil vom 9.2.2010 (aaO) geschaffene Härtefallregelung, die der Gesetzgeber mittlerweile mWv 3.6.2010 in § 21 Abs 6 SGB II geregelt hat(Gesetz vom 27.5.2010, BGBl I 671). Das BVerfG hat in seinem Urteil vom 9.2.2010 (insbesondere RdNr 207) klargestellt, dass der von ihm verfassungsrechtlich abgeleitete, zusätzliche Anspruch immer dann notwendig werde, wenn ein bestimmter fortlaufender atypischer Bedarf außerhalb der Regelleistung des § 20 SGB II nicht gedeckt werden könne. Nach den Feststellungen des LSG kann die Klägerin keinen derartigen besonderen Bedarf geltend machen.

37

5. Schließlich hat die Klägerin keinen Anspruch auf einen höheren Leistungsbetrag mit Rücksicht auf die fehlerhafte Anwendung der Rundungsregelung des § 41 Abs 2 SGB II durch das LSG. Hierbei geht der Senat davon aus, dass der Ansatz des LSG hinsichtlich der hier ausnahmsweise als KdU anteilig zu berücksichtigenden Stromkosten nicht zu beanstanden ist. Das LSG hat jedoch nicht beachtet, dass lediglich Endzahlbeträge der monatlichen Leistung nach § 41 Abs 2 SGB II zu runden sind, Zwischenberechnungsschritte aber von der Rundung ausgenommen sind(vgl BSG SozR 4-4200 § 24 Nr 3 RdNr 25).

38

Aus einer fehlerhaften Anwendung der Rundungsregelung folgt hier schon deshalb kein höherer Zahlbetrag, weil der Beklagte - wie bereits ausgeführt worden ist - bei der Leistungsbewilligung einen Betrag von monatlich 25,56 Euro für kostenaufwändige Ernährung in Ansatz gebracht hatte, auf den die Klägerin keinen Anspruch hatte. Zwar folgt hieraus nicht, dass die Bescheide durch den erkennenden Senat zu Lasten der Klägerin zu ändern waren, denn einer solchen Änderung steht das Verbot der reformatio in peius entgegen (vgl BSG vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 64/06 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 2 S 8; BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 48/08 R - BSGE 102, 274, 281 = SozR 4-4200 § 22 Nr 18 S 130). Da jedoch im Verfahren der Anspruch auf Alg II einschließlich der angemessenen KdU insgesamt streitig ist, kann die Klägerin einen höheren Zahlbetrag nur beanspruchen, wenn der Verfügungssatz der Bewilligung von Alg II sich insoweit der Höhe nach als unrichtig erweist. Insoweit ist die Höhe der Leistung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen.

39

Dem steht nicht entgegen, dass das BSG eine Beschränkung des Klagebegehrens auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bzw die Kosten für Unterkunft für zulässig erachtet hat (vgl BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 18), denn die Klägerin hat eine Beschränkung ihres Klagebegehrens nicht vorgenommen. Eine (Teil-)Bestandskraft ist hinsichtlich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich des zuerkannten Mehrbedarfs folglich nicht eingetreten.

40

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 2009 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung höherer Leistungen nach dem SGB II infolge eines vom Kläger geltend gemachten krankheitsbedingten Ernährungsmehrbedarfs in den Zeiträumen vom 1.12.2005 bis 30.6.2006 und 1.1.2007 bis 31.12.2007.

2

Die Agentur für Arbeit bewilligte dem Kläger im Dezember 2004 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1.1.2005 bis 30.4.2005. Ab dem 1.1.2005 war der Kreis K als zugelassener kommunaler Träger nach § 6a SGB II zuständiger Träger. Die Beklagte ist vom Kreis K durch Satzung gemäß § 6 Abs 2 S 1 SGB II iVm § 5 Abs 2 des Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16.12.2004 (AG SGB II NRW) zur Aufgabenerfüllung in eigenem Namen herangezogen. Sie lehnte den Fortzahlungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 20.4.2005 zunächst ganz ab und bewilligte auf den Widerspruch des Klägers mit Änderungsbescheid vom 5.7.2005 die Regelleistung nach dem SGB II zunächst für die Monate Mai bis Juli 2005 und mit Bescheid vom 22.7.2005 vom 1.8.2005 bis 31.12.2005. Mit Bescheid der Beklagten vom 20.12.2005 wurden dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelleistung) für den Zeitraum 1.1.2006 bis 30.6.2006 bewilligt.

3

Am 23.12.2005 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung eines krankheitsbedingten Mehrbedarfs nach § 21 Abs 5 SGB II. Er legte eine ärztliche Bescheinigung auf dem hierfür von der Verwaltung vorgesehenen Formular vor, wonach er an Hyperlipidämie, Hyperuricämie/Gicht sowie Hypertonie (kardiale/renale Ödeme) leide und auf lipidsenkende, purinreduzierte und natriumdefinierte Kost angewiesen sei. Der Kläger übergab der Beklagten in der Folge in einem versiegelten Umschlag ärztliche Unterlagen, welche diese verschlossen an den Amtsarzt Sch beim Kreis K weiterleitete. Nachdem der Amtsarzt der Beklagten mitgeteilt hatte, aus den ihm vorliegenden Unterlagen würden sich unter Berücksichtigung des üblicherweise zugrunde gelegten Begutachtungsleitfadens kein Mehrbedarf ergeben, lehnte diese den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 28.2.2006 ab. Der Kreis K wies den hiergegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.5.2006 zurück. Hiergegen erhob der Kläger Klage zum SG "wegen der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II § 21, ab Dezember 2005". Er benötige wegen der vorliegenden Erkrankungen kostenaufwändige Ernährung, was eine finanzielle Mehrbelastung darstelle. Er nahm zur Begründung außerdem Bezug auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (Stand 1997).

4

Mit Bescheid der Beklagten vom 3.1.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Kreises K vom 16.4.2007 wurde ein erneuter Antrag des Klägers auf Berücksichtigung eines krankheitsbedingten Ernährungsaufwandes vom 28.12.2006 abgelehnt. Hiergegen erhob der Kläger Klage zum SG. Mit Bescheid der Beklagten vom 15.12.2006 in der Gestalt eines weiteren Widerspruchsbescheids des Kreises K vom 16.4.2007 wurden dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (nur Regelleistung, ohne KdU) für den Zeitraum 1.1.2007 bis 31.12.2007 bewilligt. Hiergegen erhob der Kläger ebenfalls Klage zum SG mit dem Begehren, "Leistungen in gesetzlicher Höhe nach § 22 SGB II zu erbringen".

5

Das SG hat mit Urteilen vom 11.3.2008 die Klagen abgewiesen, da im Zeitraum 1.5.2005 bis 31.12.2007 kein Anspruch auf einen krankheitsbedingten Mehrbedarf bestehe. Die hiergegen am 26.6.2008 und 30.6.2008 eingelegten Berufungen hat das LSG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Mit Beschluss vom 22.7.2009 hat das LSG die Berufungen des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die begehrte Verpflichtung der Beklagten zur höheren Leistungsgewährung sei für die Zeiträume vom 1.5.2005 bis 30.11.2005 und 1.6.2006 bis 31.12.2006 unzulässig. Soweit der Kläger für die Zeit von Dezember 2005 bis Mai 2006 sowie ab dem 1.1.2007 höhere Leistungen begehre, seien die zulässigen Klagen unbegründet. Nach den Mehrbedarfsempfehlungen des Deutschen Vereins 2008 erforderten die beim Kläger bestehenden Erkrankungen - Hyperlipidämie, Hyperuricämie und Hypertonie - sämtlich lediglich eine Vollkost, deren Beschaffung keine erhöhten Kosten verursache. Zu diesem Ergebnis sei auch der von der Beklagten gehörte Arzt Sch gelangt, dessen Darlegungen der Senat urkundsbeweislich würdige.

6

Mit der hiergegen vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, durch die Mehrbedarfsempfehlungen des Deutschen Vereins werde die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltung und der Gerichte, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, nicht aufgehoben. Außerdem hätten die Mehrbedarfsempfehlungen des Deutschen Vereins (Stand 1997) Berücksichtigung finden müssen, da die überarbeiteten Empfehlungen erst nach dem vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum veröffentlicht worden seien. Nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins 1997 sei für die beim Kläger bestehenden Erkrankungen Hyperlipidämie, Hyperuricämie und Hypertonie ein krankheitsbedingter Mehrbedarf anzuerkennen. Aufgrund der divergierenden Ergebnisse der Mehrbedarfsempfehlungen 1997 und 2008 sei in jedem Fall eine Sachaufklärung im Einzelfall geboten, die auch die unterschiedlichen Auffassungen der Mehrbedarfsempfehlungen 1997 und 2008 miteinbeziehen und würdigen müsse. Nachdem das LSG offen gelassen habe, ob die Mehrbedarfsempfehlungen 2008 als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen seien und diese lediglich als Orientierungshilfe angesehen habe, habe das Gericht die in Anspruch genommene Sachkunde nachvollziehbar darlegen müssen.

7

Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 2009 und die Urteile des Sozialgerichts Duisburg vom 11. März 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide vom 22. Juli 2005, 20. Dezember 2005 und 8. Februar 2006, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2006 und vom 15. Dezember 2006 und 3. Januar 2007, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. April 2007 zu verurteilen, ihm für die Zeiträume vom 1. Dezember 2005 bis 30. Juni 2006 und vom 1. Januar 2007 bis 31. Dezember 2007 höhere Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch zu gewähren, unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet(§ 170 Abs 2 SGG). Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens sind Ansprüche auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in den Zeiträumen 1.12.2005 bis 30.6.2006 und 1.1.2007 bis 31.12.2007.

10

1. Die beklagte Stadt G ist im vorliegenden Fall passiv legitimiert. Die Stadt G ist gegenüber den Hilfebedürftigen im Außenverhältnis materiell zur Erbringung der Leistungen nach dem SGB II verpflichtet (§ 5 Abs 2 AG-SGB II NRW idF vom 16.12.2004, GVBl NRW 2004, 821 iVm § 6 Abs 2 S 1 SGB II, § 6a Abs 2 SGB II iVm § 1 Abs 1 Kommunalträger-Zulassungsverordnung idF vom 24.9.2004, BGBl I 2349; vgl auch BSG Urteil vom 15.4.2008 - B 14/7b AS 56/06 R - RdNr 15 f). Im sozialgerichtlichen Verfahren ist derjenige Rechtsträger passiv legitimiert, der auch materiell verpflichtet ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 69 RdNr 4),ohne dass an dieser Stelle erörtert werden muss, in welchem Umfang eine Heranziehung zur "Durchführung" der Aufgaben nach dem SGB II möglich ist (vgl Luthe in: Hauck/Noftz, SGB II, § 6 RdNr 16 Stand 37. Ergänzungslieferung VI/11; Rixen in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 6 RdNr 11).

11

2. Die Beteiligten haben den Streitgegenstand bereits im Verwaltungsverfahren in rechtlich zulässiger Weise getrennt, als die KdU gesondert behandelt wurden und daher in anderen Verfahren zu prüfen sind. Nachdem die Beklagte dem Kläger mit den Bewilligungsbescheiden vom 22.7.2005 und 20.12.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab 1.8.2005 bzw ab 1.1.2006 sowie mit Bewilligungsbescheid vom 15.12.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab 1.1.2007 jeweils nur in Form der Regelleistung bewilligt hatte und der Kläger in den laufenden Widerspruchsverfahren weiterhin einen krankheitsbedingten Mehrbedarf geltend machte, war es insoweit zulässig, dass der Kreis K in den laufenden Widerspruchsverfahren zunächst entschied, dass keine höhere Regelleistung zu gewähren war (Widerspruchsbescheide vom 19.5.2006 und 16.4.2007). Insbesondere ist der Antrag des Klägers vom 23.12.2005 auf Gewährung eines krankheitsbedingten Mehrbedarfs auch als Widerspruch gegen den Bescheid vom 20.12.2005 auszulegen, gerichtet auf Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im dortigen Bewilligungszeitraum 1.1.2006 bis 30.6.2006.

12

Die Entscheidungen der Verwaltung zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts können allerdings jeweils nicht in weitere unterschiedliche Streitgegenstände aufgespalten werden (vgl BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 9 mwN). Die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung ist kein abtrennbarer Teil der Regelung über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II und kann damit nicht allein Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein (Senatsurteil vom 10.5.2011 - B 4 AS 100/10 R, s auch BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R, jeweils zur Veröffentlichung vorgesehen). Daraus folgt für das vorliegende Verfahren, dass das Begehren des Klägers im Rahmen der jeweiligen Widerspruchsverfahren auf Gewährung eines krankheitsbedingten Mehrbedarfs gemeinsam mit der Regelleistung zu behandeln und insoweit auf die jeweiligen Bewilligungszeiträume (§ 41 Abs 1 S 4 SGB II) abzustellen und zu prüfen ist, ob in den hier streitigen Zeiträumen insgesamt Anspruch auf Gewährung einer höheren Leistung besteht (vgl BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - RdNr 14 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

13

3. a) Die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen (BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 9 mwN). Ob dem Kläger in den streitbefangenen Zeiträumen höhere Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, kann der Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht beurteilen. Es fehlen insoweit bereits Feststellungen zu den Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II(idF des Gesetzes vom 30.7.2004, BGBl I 2014) in den jeweiligen streitgegenständlichen Zeiträumen.

14

b) Auch zur Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Mehrbedarf wegen Krankenkost hat, fehlt es an ausreichenden Feststellungen. Die von dem Kläger erhobene Verfahrensrüge ist zulässig und begründet (§ 103 SGG).

15

Nach § 21 Abs 5 SGB II(idF des Gesetzes vom 24.12.2003, BGBl I 2954) erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Voraussetzung für die Gewährung des Mehrbedarfs ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine Ernährung erfordert, deren Kosten aufwändiger sind als dies für Personen ohne diese Einschränkung der Fall ist. Mit "medizinischen Gründen" sind nur krankheitsbedingte Gründe gemeint. Es muss ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bestehenden oder drohenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer besonderen kostenaufwändigen Ernährung vorliegen (s dazu das Urteil des Senats vom 10.5.2011 - B 4 AS 100/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch Düring in Gagel, SGB III mit SGB II, Stand Juli 2010, § 21 RdNr 19). Ob diese Voraussetzungen bei dem Kläger vorliegen, kann anhand der Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden.

16

Es liegt insoweit ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) vor. Das LSG hat von den Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung gestanden haben (vgl zu diesem Maßstab BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 48/08 B; BSG Beschluss des Großen Senats vom 11.12.1969 - GS 2/68 - BSGE 30, 192, 205 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO), keinen ausreichenden Gebrauch gemacht, indem zB sachverständige Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte des Klägers oder medizinische Sachverständigengutachten eingeholt wurden (vgl BSG Urteil vom 10.5.2011 - B 4 AS 100/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen).

17

Die Vorinstanzen sind vorliegend davon ausgegangen, dass zwar beim Kläger verschiedene Krankheiten vorliegen, diese jedoch keinen Mehrbedarf bedingen, ohne dass ausreichend deutlich ist, worauf diese Feststellungen bzw die Sachkunde beruht. Der Kläger hat angegeben, er leide an Hyperlipidämie, Hyperuricämie und Hypertonie und vorgetragen, ihm sei vom behandelnden Arzt lipidsenkende, purinreduzierte und natriumdefinierte Kost verordnet worden, was eine finanzielle Mehrbelastung darstelle. Er hat außerdem hausärztliche Bescheinigungen vorgelegt, wonach er Krankenkost benötige. Dieses Vorbringen ist ausreichend substantiiert, um die Verpflichtung zur Amtsermittlung auszulösen. Weder das SG noch das LSG haben den Kläger befragt, welche Krankheiten vorliegen und bei welchen Ärzten er in Behandlung ist. Der Kläger wurde auch nicht aufgefordert, seine behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden, damit die Gerichte sachverständige Zeugenauskünfte einholen können, nach denen dann zu entscheiden gewesen wäre, ob ggf medizinische oder ernährungswissenschaftliche Sachverständigengutachten einzuholen sind. Während des Verwaltungsverfahrens ist zwar eine amtsärztliche Stellungnahme eingeholt worden. Das vom LSG herangezogene Schreiben des Amtsarztes Sch vom 25.1.2006 ist nicht allein zur Überzeugungsbildung geeignet, weil es dort lediglich heißt, dass aufgrund vorliegender hausärztlicher Angaben die Gewährung eines Mehrbedarfs nach dem üblicherweise zugrunde gelegten Begutachtungsleitfaden nicht in Betracht komme. Mangels Mitteilung der Tatsachengrundlage ist die vom Amtsarzt Sch mitgeteilte Würdigung nicht nachvollziehbar.

18

Auch mit den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1.10.2008 (<vgl NDV 2008, 503 ff> Mehrbedarfsempfehlungen 2008) allein konnte das LSG die Frage nicht beantworten. Die Mehrbedarfsempfehlungen 2008 sind keine antizipierten Sachverständigengutachten, weshalb die Gerichte sie nicht in normähnlicher Weise anwenden können. Antizipierte Sachverständigengutachten geben über den konkreten Einzelfall hinaus die Erfahrungen und den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine bestimmte Frage wieder. Voraussetzung für eine gerichtliche Verwertung ist, dass das antizipierte Sachverständigengutachten auf wissenschaftlicher Grundlage von Fachgremien ausschließlich aufgrund der zusammengefassten Sachkunde und Erfahrung ihrer sachverständigen Mitglieder erstellt worden ist, dass es immer wiederkehrend angewendet und von Gutachtern, Verwaltungsbehörden, Versicherungsträgern, Gerichten sowie Betroffenen anerkannt und akzeptiert wird (BSG Urteil vom 2.5.2001 - B 2 U 24/00 R = SozR 3-2200 § 581 Nr 8 mwN; vgl auch Gusy, NuR 1987, 156 ff; Keller, SGb 2003, 254 ff; Siefert, ASR 2011, 45 ff).

19

Ob die Mehrbedarfsempfehlungen 2008 als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind, wird nicht einheitlich beantwortet (zum Meinungsstand siehe Düring in Gagel, SGB III mit SGB II, § 21 RdNr 40). Teilweise wird die Annahme eines antizipierten Sachverständigengutachtens befürwortet (vgl etwa LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 3.2.2009 - L 9 B 339/08 AS; LSG Mecklenburg-Vorpommern Beschluss vom 19.12.2008 - L 8 B 386/08), teilweise wird dies verneint (Krauß in Hauck/Noftz, § 21 RdNr 64, 36. Ergänzungslieferung V/11; Düring in Gagel, SGB III mit SGB II, § 21 RdNr 40, 40. Ergänzungslieferung November 2010; Siefert, ASR 2011, 45 <49>; Kohte in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, § 21 RdNr 17).

20

Die Mehrbedarfsempfehlungen 2008 sind schon ihrer Konzeption nach keine antizipierten Sachverständigengutachten. Sie erheben selbst nicht diesen Anspruch, indem sie zu Recht betonen, dass es auf den jeweiligen Einzelfall ankomme (zu diesem Aspekt vgl Krauß in Hauck/Noftz, § 21 RdNr 64, 36. Ergänzungslieferung V/1), dass insoweit die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltung bestehe, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 20 SGB X), dass der Katalog der Krankheiten in den Empfehlungen nicht abschließend sei, dass es bei der Bestimmung und Anerkennung eines Mehrbedarfs naturgemäß Beurteilungs- und Bewertungsdifferenzen in Wissenschaft und Praxis der Medizin gebe und dass sich ernährungswissenschaftliche und diätetische Anschauungen und Erkenntnisse wandeln könnten (vgl die Erläuterungen Löher, NDV 2008, 503 <504, 506, 509>). Die Verwaltung und die Gerichte dürfen daher die Aussagen in den Empfehlungen weder normähnlich anwenden noch als allgemeingültige Tatsachen heranziehen. Allgemeinkundige Tatsachen sind nur solche, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne Weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen unschwer überzeugen können oder auch solche, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde unterrichten kann (vgl BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R unter Hinweis auf BSG Urteil vom 5.3.2002 - B 2 U 27/01 R - ZfS 2002, 237).

21

Es fehlt außerdem an der immer wiederkehrenden Anwendung und langfristigen allgemeinen Akzeptanz der Empfehlungen. Dies ergibt sich schon aus der wechselvollen Entstehungsgeschichte der Mehrbedarfsempfehlungen, die binnen eines Jahrzehnts in der überarbeiteten Fassung zu deutlich geänderten Ergebnissen kommen und die erforderliche allgemeine Akzeptanz (noch) gar nicht entwickeln konnten. Bei der Erstellung der Mehrbedarfsempfehlungen, die schon im früheren Recht der Sozialhilfe nach § 23 Abs 4 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Anwendung fanden(vgl BSG Urteil vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 64/06 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 2 RdNr 25), haben Wissenschaftler aus medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Fachbereichen zusammengearbeitet. Die Mehrbedarfsempfehlungen wurden 1997 in überarbeiteter Form ausgegeben und sahen seinerzeit - unter Berufung auf eine einheitliche Auffassung der medizinischen Wissenschaft und auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse - medizinische Krankenkost für eine Reihe von Erkrankungen vor. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten zur Konkretisierung der Angemessenheit des Mehrbedarfs nach § 21 Abs 5 SGB II die Mehrbedarfsempfehlungen 1997 herangezogen werden(BT-Drucks 15/1516, S 57). Hierauf wurde den Mehrbedarfsempfehlungen 1997 zunächst der auch von der Beklagten angewandte "Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwändiger Ernährung (Krankenkostzulagen) gem. § 23 Abs 4 BSHG"(Verlag Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2002 ), entwickelt von Ärzten der kommunalen Gesundheitsämter, gegenübergestellt, der für deutlich weniger Erkrankungen Krankenkost anerkannte, und auf den das SG seine Entscheidung wesentlich stützte. Jedoch hat das BVerfG eine Abweichung von den Mehrbedarfsempfehlungen 1997 zu Lasten der Rechtsuchenden als begründungspflichtig angesehen und überdies ausgeführt, dass der auch von der Beklagten verwendete Begutachtungsleitfaden 2002 hierfür nicht ausreichend sei (BVerfG Beschluss vom 20.6.2006 - 1 BvR 2673/05 - RdNr 8 f; zur Kritik am Begutachtungsleitfaden s auch OVG Niedersachen Beschluss vom 13.10.2003 - 12 LA 385/03 = NDV-RD 2003, 130 m Anm Höft-Dzemski). Die überarbeiteten Mehrbedarfsempfehlungen 2008 sahen dann - wiederum unter Berufung auf eine einheitliche Auffassung der medizinischen Wissenschaft und auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse - für deutlich weniger Erkrankungen Krankenkost vor, als die Mehrbedarfsempfehlungen 1997.

22

Auch durch die überarbeiteten, aktualisierten Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 1.10.2008 wird deshalb die Verpflichtung der Verwaltung und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, die Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts von Amts wegen aufzuklären (§ 20 SGB X bzw § 103 SGG), nicht aufgehoben. Mithin haben die Instanzgerichte jeweils den genauen krankheitsbedingten Mehrbedarf der Kläger im Einzelnen aufzuklären (so bereits BSG Urteil vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 32/06 R - BSGE 100, 83 = SozR 4-4200 § 20 Nr 6 und BSG Urteil vom 15.4.2008 - B 14/11b AS 3/07 R). Dies haben die Vorinstanzen nicht in ausreichendem Maße getan.

23

Die Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1.10.2008 ersetzen daher nicht allein eine ggf erforderliche Begutachtung im Einzelfall, sondern dienen nur als Orientierungshilfe, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 10.5.2011 - B 4 AS 100/10 R, zur Veröffentlichung vorgesehen; Behrend in jursPK-SGB II, 3. Aufl 2011, § 21 RdNr 64). Sie stehen nicht am Anfang, sondern erst am Ende der von Amts wegen durchzuführenden Einzelfallermittlungen und können insbesondere zu einem Abgleich mit den Ergebnissen der Amtsermittlung führen. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind dann ggf weitere Ermittlungen medizinischer und ggf ernährungswissenschaftlicher Art (vgl dazu BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen) entbehrlich, wenn die Ergebnisse der individuellen behördlichen und gerichtlichen Amtsermittlungen keine Abweichungen von den Empfehlungen des Deutschen Vereins erkennen lassen. Da die Empfehlungen des Deutschen Vereins keine Rechtsnormqualität aufweisen (Senatsurteil vom 10.5.2011 - B 4 AS 100/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen, so auch bereits BSG Urteile vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 32/06 R - BSGE 100, 83, 89 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 6 S 44 und - B 14/7b AS 64/06 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 2 S 6 f), gibt es keine Hinderungsgründe, die darin enthaltenen medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse mit den Ergebnissen der Amtsermittlung zu vergleichen bzw in diese einfließen zu lassen, wenn der streitgegenständliche Zeitraum vor der Veröffentlichung der neuen Empfehlungen am 1.10.2008 lag. Auch dies hat der Senat bereits entschieden (Urteil vom 10.5.2011, aaO).

24

4. Das LSG wird auch den Kreis K am Verfahren zu beteiligen haben. Soweit ein Vorverfahren stattfindet, ist Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (§ 95 SGG). Entgegen den Ausführungen des LSG hat nicht die Beklagte, sondern jeweils der Kreis K die Widerspruchsbescheide erlassen (§ 6 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB II idF des Gesetzes vom 30.7.2004, BGBl I 2014). Eine Entscheidung kann nur einheitlich gegenüber der Beklagten und dem Leistungsträger, dem Kreis K, ergehen.

25

Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Jeder Senat wird in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig. § 12 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 5 gilt entsprechend.

(2) In Senaten, die in Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2) entscheiden, wirken die für Angelegenheiten der Sozialversicherung berufenen ehrenamtlichen Richter mit.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die Vorschriften über Urteile gelten entsprechend.

(2) Die Beteiligten können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden. Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt.

(3) Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen.

(4) Wird mündliche Verhandlung beantragt, kann das Gericht in dem Urteil von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Gerichtsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Tatbestand

1

Im Streit sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe.

2

Den am 7.1.2004 gestellten Antrag des Klägers, Mietrückstände zu übernehmen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 19.1.2004; Widerspruchsbescheid vom 14.2.2005). Die hiergegen erhobene Klage mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, die Mietrückstände betreffend die Wohnung in der K. Straße in Darmstadt für den Zeitraum vom 1.1.2001 bis 29.2.2004 in Höhe von 6.581,78 Euro und Gerichtskosten in Höhe von 651,65 Euro zu übernehmen, wies das Sozialgericht (SG) Darmstadt ab (Urteil vom 29.2.2008). In dem sich anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger seine Klage "auf alle VA bzw Bescheide, die vor dem 30. Juni 2003 ergangen sind", erweitert und "eine Kostenerstattung von 4.000 Euro für einen Umzug; und noch einmal 5.000 Euro für einen weiteren Umzug" sowie einen "60-prozentigen Zuschlag, den zwei alleinerziehende Erwachsene erhalten", beantragt. Des weiteren hat er beantragt festzustellen, welcher Anteil seines damaligen Einkommens von 986,73 Euro für den Regelbedarf und welcher Anteil als Kosten für die Unterkunft hätte verwendet werden müssen.

3

Dem Hinweis des Hessischen Landessozialgerichts (LSG), dass die Möglichkeit bestehe, nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden(Verfügung vom 13.2.2009), hat der Kläger mit einem am 5.3.2009 eingegangenen Schreiben ausdrücklich widersprochen. Das LSG hat (dennoch) die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen und hinsichtlich der Übernahme von Mietschulden auf die Entscheidungsgründe des SG Bezug genommen. Hinsichtlich der übrigen Berufungsanträge sei die Berufung unzulässig. Diese Anträge seien weder Gegenstand des Verwaltungsverfahrens noch des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens gewesen. Es handele sich insoweit um eine unzulässige Klageänderung gemäß § 153 Abs 1 in Verbindung mit § 99 Abs 1 und 2 SGG. Weder habe die Beklagte in die Klageänderung eingewilligt, noch sei diese sachdienlich.

4

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger einen Verfahrensfehler. Er habe mit Schriftsatz vom 18.4.2009 eine Klageerweiterung vorgenommen. Das LSG habe deshalb unter Beachtung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren und unter Beachtung von Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG entscheiden dürfen, sondern über die neu gestellten Anträge mündlich verhandeln müssen, um ihm insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen und die Sache im Rahmen der Amtsermittlungspflicht mit ihm zu erörtern.

Entscheidungsgründe

5

Die Beschwerde ist unzulässig. Sie genügt nicht den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 in Verbindung mit § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Der Kläger macht mit seiner Beschwerde zunächst geltend, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein, weil das LSG ermessensfehlerhaft durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden habe.

6

Die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, ist zwar unter Beachtung des nach Art 6 Abs 1 EMRK anerkannten Rechts auf (mindestens) eine mündlichen Verhandlung eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Wenn allerdings - wie hier - erstinstanzlich schon eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist, muss ein Beschwerdeführer zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Verfahrensmangels konkret darlegen, weshalb auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG eine erneute mündliche Verhandlung vor dem LSG zwingend durchzuführen ist. Hierfür genügt es nicht, allein auf die vorgenommene Klageerweiterung zu verweisen. Zwar kann das LSG verpflichtet sein, eine erneute mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn das Berufungsgericht über einen Anspruch erstmals entscheiden muss, zB weil sich der Streitgegenstand durch Klageänderung (§ 99 SGG) wesentlich verändert hat und sich das Berufungsgericht deshalb erstmals in der Berufungsinstanz mit neuen Rechts- und Tatsachenfragen konfrontiert sieht, weil den Beteiligten anderenfalls (ohne eine erneute mündliche Verhandlung) die Möglichkeit genommen würde, ihren Standpunkt zum geänderten oder erweiterten Streitgegenstand in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl BVerwG Buchholz 401.9 Beiträge Nr 40). Das LSG hat aber gerade nicht über die erstmals in der Berufungsinstanz geltend gemachten Ansprüche in der Sache entschieden, sondern die Berufung mangels zulässiger Klageerweiterung als unzulässig verworfen. Der Kläger hätte deshalb zur Bezeichnung des Verfahrensmangels darlegen müssen, weshalb das LSG auch unter Berücksichtigung dieser besonderen Konstellation verpflichtet gewesen wäre, erneut mündlich zu verhandeln. Hierzu wäre insbesondere erforderlich gewesen, die Voraussetzungen für eine zulässige Klageänderung aufzuzeigen, diese auf den konkreten Einzelfall zu übertragen und sich mit der vom LSG hierzu vertretenen Rechtsauffassung auseinanderzusetzen.

7

Der behauptete Verfahrensfehler, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann, ist bzgl des Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ebenfalls nicht substantiiert dargelegt. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG muss - außer bei absoluten Revisionsgründen, um die es sich vorliegend nicht handelt - die Möglichkeit bestehen, dass das LSG ohne den behaupteten Verfahrensmangel zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte gelangen können. Hierzu hätte der Kläger zumindest vortragen müssen, welche korrigierten Anträge gestellt bzw wie sie formuliert worden wären, wenn das LSG in einer mündlichen Verhandlung bei entsprechender Erörterung der Sach- und Rechtslage auf eine sachdienliche Antragstellung hingewirkt hätte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des erst vor dem LSG geäußerten umfassenden Begehrens, das den Eindruck rechtsmissbräuchlichen Verhaltens erwecken könnte, weil das LSG nach der Vorstellung des Klägers alle bisherigen Entscheidungen überprüfen sollte. Ob der Kläger ausreichend dargetan hat, dass das LSG das rechtliche Gehör verletzt hat oder unfair verfahren ist, ist damit nicht entscheidungserheblich.

8

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Thüringer Landessozialgerichts vom 21. Januar 2010 in Gestalt des Urteils vom 27. April 2010 - L 2 R 238/10 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger, dem die Beklagte aufgrund eines Herstellungsanspruchs freiwillige Beiträge erstattet hat, begehrt auch die Zahlung von Zinsen.

2

Dem Antrag des Klägers auf Erstattung freiwillig entrichteter Beiträge von Januar 1992 bis Dezember 2004 entsprach die Beklagte in voller Höhe "im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aufgrund eines Beratungsmangels" (Bescheid vom 25.1.2005). Der Widerspruch mit dem Begehren, den Erstattungsbetrag (9479,53 Euro) zu verzinsen (4479,14 Euro bis zum 31.3.2005), blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19.5.2005).

3

Das SG Gotha hat die Klage auf Verurteilung zur Zahlung der Zinsen sowie die hilfsweise erhobene Klage auf Feststellung eines Anspruchs auf die gesetzlichen Verzugszinsen abgewiesen (Urteil vom 22.1.2007). Ein Amtshaftungsanspruch sei mit der Klage nicht zweifelsfrei geltend gemacht worden. Daher sei es nicht erforderlich gewesen, diesen Teil des Rechtsstreits abzutrennen und an das Zivilgericht zu verweisen.

4

Im Berufungsverfahren hat der Senatsvorsitzende dem Kläger mit Schreiben vom 13.1.2009 mitgeteilt, dass für in die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit fallende Ansprüche beabsichtigt sei, durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden. Soweit der Kläger Amtshaftungsansprüche verfolge, sei beabsichtigt, den Rechtsstreit abzutrennen und an das Landgericht (LG) Erfurt zu verweisen. Mit weiterem Schreiben vom 23.1.2009 hat der Senatsvorsitzende auf den Schriftsatz des Klägers vom 16.1.2009 mitgeteilt, für die ausdrücklich erst im Berufungsverfahren geltend gemachten Amtshaftungsansprüche werde an der Absicht der Trennung und Verweisung des Rechtsstreits an das LG Erfurt festgehalten.

5

Mit Beschluss vom 21.1.2010 hat das Thüringer LSG die Berufung des Klägers unter Auferlegung einer Missbrauchsgebühr von 600 Euro zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen noch auf die hilfsweise begehrte Feststellung eines solchen Anspruchs. Der Kläger könne einen Zinsanspruch nicht aus einer direkten bzw analogen Anwendung von § 44 Abs 1 SGB I bzw von § 27 Abs 1 SGB IV oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen herleiten, weil die freiwilligen Beiträge zu Recht entrichtet worden seien. Da das SG die behaupteten Anspruchsgrundlagen als öffentlich-rechtlich qualifiziert habe, sei das LSG an die vom SG angenommene Zulässigkeit des Rechtswegs zur Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Eine Verweisung des Rechtsstreits wegen des (auch) geltend gemachten Amtshaftungsanspruchs dürfe nicht erfolgen. Über solche Ansprüche dürfe ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit nicht entscheiden, denn nach § 17 Abs 2 Satz 2 GVG bleibe Art 34 Satz 3 GG unberührt. Rechtfertigten die übrigen Anspruchsgrundlagen kein stattgebendes Urteil, so sei die Klage als unbegründet abzuweisen; eine Verweisung sei nicht zulässig (Hinweis ua auf Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 51 RdNr 41).

6

Der Antrag des Klägers auf Ergänzung des Beschlusses vom 21.1.2010 um die Verweisung des Rechtsstreits wegen des Schadensersatzanspruchs nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften an das LSG blieb erfolglos (Thüringer LSG, Urteil vom 27.4.2010 - L 2 R 238/10). Zur Begründung heißt es, der angefochtene Beschluss habe keinen vom Kläger erhobenen Anspruch iS von § 140 Abs 1 SGG übergangen, sondern "ausgeführt, dass die auch auf Amtshaftung gestützte Klage als unbegründet abgewiesen wird, wenn die sonstigen Anspruchsgrundlagen kein stattgebendes Urteil rechtfertigen und … darauf hingewiesen, dass eine Verweisung an das LG Erfurt nicht zulässig ist."

7

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Divergenz. Er beantragt die Aufhebung der ihm auferlegten Verschuldenskosten und trägt vor:

8

Das LSG habe den Rechtsstreit hinsichtlich des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs an das LG Erfurt verweisen oder den Rechtsstreit gemäß § 159 Abs 1 SGG an das SG zurückverweisen müssen. Durch die unterbliebene Verweisung seien § 17 Abs 2 Satz 2 GVG iVm Art 34 Satz 3 GG und das Grundrecht des Klägers auf den gesetzlichen Richter(Art 101 Abs 1 Satz 2 GG, § 16 GVG, Art 87 Abs 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen) verletzt worden. Das LSG habe zudem den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 GG) missachtet, weil es nicht ohne erneute Anhörung des Klägers gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG über die Berufung insgesamt hätte entscheiden dürfen. Im Fall einer erneuten Anhörung wäre nicht auszuschließen gewesen, dass die Entscheidung anders ausgefallen wäre. Durch die vom LSG gewählte Verfahrensweise liege eine zur Rechtsprechung des BSG vom 16.3.2006 (B 4 RA 24/05 B) divergierende Entscheidung vor, die die Zulassung der Revision rechtfertige. Der Kläger hält ferner vier Fragen für grundsätzlich bedeutsam.

9

II. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

10

1. Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2, § 62 SGG) in Ausprägung der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG gerügt(§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

11

Er beanstandet mit Recht, dass das LSG über seine Berufung entschieden hat, ohne ihn erneut gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG vor der Beschlussfassung gemäß Satz 1 dieser Vorschrift angehört zu haben.

12

a) Gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs(Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl Senatsbeschluss vom 29.8.2006 - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 5; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN).

13

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert(vgl zB Senatsbeschluss vom 15.7.2009 - B 13 RS 46/09 B - Juris RdNr 9; Senatsurteil vom 17.8.2000 - B 13 RJ 69/99 R - Juris RdNr 16 mwN; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 153 RdNr 20). Insoweit gilt Entsprechendes wie für den sog Verbrauch einer Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG (BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8).

14

Die Prozesssituation ändert sich auch dann entscheidungserheblich, wenn das LSG seine gegenüber den Beteiligten in einem entscheidungserheblichen Punkt geäußerte Rechtsauffassung ändert (vgl für das Verfahren nach § 124 Abs 2 SGG bereits BSG SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 8). Die Beteiligten müssen dann vor der Beschlussfassung gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG erneut Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

15

b) Indem das LSG entgegen der mit Anhörungsschreiben vom 13.1. und 23.1.2009 gegenüber den Beteiligten angekündigten Verfahrensweise - den Amtshaftungsanspruch abzutrennen und an das Zivilgericht zu verweisen - die Berufung durch Beschluss gleichwohl insgesamt zurückgewiesen hat, ohne den Kläger über die geänderte Rechtsauffassung vor der Beschlussfassung zu informieren und ihn erneut anzuhören, hat es gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verstoßen. Dies war verfahrensfehlerhaft, ungeachtet der Frage, ob die vom LSG angekündigte Verfahrensweise rechtens gewesen wäre.

16

Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des LSG war für den Kläger nicht vorhersehbar, dass das LSG entgegen eigener Ankündigung über die Berufung ohne teilweise Verweisung des Rechtsstreits an das Zivilgericht entscheiden werde. Mit einem solchen Prozessverlauf musste der Kläger nicht rechnen. Durch den zweimaligen, eine Verweisung ankündigenden Hinweis des Senatsvorsitzenden hatte sich dieser (vorläufig) rechtlich festgelegt. Diese verlautbarte Rechtsauffassung entsprach der des Klägers, so dass dieser insoweit auf einen Verfahrensausgang in seinem Sinne vertrauen durfte. Genau das Gegenteil hat das LSG entschieden.

17

c) Bei einer Verletzung des § 153 Abs 4 SGG sind keine näheren Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers erforderlich. Wenn das LSG nur nach einer - unterbliebenen - erneuten Anhörungsmitteilung im gewählten vereinfachten Beschlussverfahren hätte entscheiden dürfen, bedarf es keiner Prüfung, was der Kläger auf den gebotenen schriftlichen Hinweis zur geänderten Rechtsmeinung oder in einer mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte. Es handelt sich um einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, denn die Verletzung des § 153 Abs 4 SGG führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des LSG ohne ehrenamtliche Richter(vgl Senatsbeschluss vom 29.8.2006 - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 40; BSG vom 8.11.2001 - B 11 AL 37/01 R - Juris RdNr 15; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 10).

18

d) Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen hebt der Senat gemäß § 160a Abs 5 SGG den angefochtenen Beschluss auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.

19

2. Der Senat kann daher offen lassen, ob weitere der gerügten Verfahrensmängel vorliegen; darauf kommt es hier nicht mehr entscheidend an. Gleichwohl weist er, ohne damit abschließend alle denkbaren Alternativen aufzeigen zu wollen, auf Folgendes hin:

20

a) Das SG hat im Urteil vom 22.1.2007 nicht über einen Anspruch nach § 839 BGB iVm Art 34 GG entschieden, weil es den Antrag des Klägers so ausgelegt hat, dass sich daraus "noch kein Anspruch (gemeint: keine Geltendmachung eines Anspruchs) aus Amtspflichtverletzung" ergab. Damit hat das SG die geltend gemachten Ansprüche aber nicht vollends erfasst.

21

Denn zum einen hat sich der Kläger in der Klageschrift vom 28.5.2005 (erstinstanzlich hat er sich nicht weiter geäußert) durchaus auch auf einen "Schadensersatzanspruch nach bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen (§§ 812, 823 BGB)" bezogen und lediglich um Hinweis des Gerichts gebeten, falls nach dessen Ansicht "nicht die Beklagte, sondern die Bundesrepublik Deutschland nach den Grundsätzen der Amtshaftung (§ 839 BGB) zuständig sein" sollte.

22

Zum anderen hätte das SG selbst dann prüfen müssen, ob es über einen Amtshaftungsanspruch zu entscheiden hatte, wenn der Kläger diesen nicht ausdrücklich benannt hätte. Denn zwar oblag es nach der auch im sozialgerichtlichen Verfahren maßgebenden Dispositionsmaxime (s Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 60 RdNr 3) diesem, welche "Ansprüche" er nach § 123 SGG "erheben" wollte. Damit war jedoch nicht in sein Belieben gestellt, auf welche materiell-rechtlichen Vorschriften er sein Begehren stützen wollte, vielmehr ist hiermit nur gesagt, dass er den Streitgegenstand bestimmt, also den Lebenssachverhalt und dasjenige, was er auf dessen Grundlage als gerichtliche Entscheidung anstrebt ("prozessualer Anspruch"; vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 95 RdNr 5): Der Kläger hat die Fakten zu liefern, die rechtliche Subsumtion ist Sache des Gerichts ("da mihi factum, dabo tibi ius"; "iura novit curia"; vgl insoweit auch zB BSG vom 28.3.2000, BSGE 86, 78, 79 f = SozR 3-1300 § 111 Nr 8 S 27).

23

Das LSG ist (unter Berufung auf Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 51 RdNr 41; dieser wiederum unter Hinweis auf Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl 2007, § 17 GVG RdNr 7) davon ausgegangen, ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit habe eine sowohl auf Amtshaftung wie auf sozialrechtliche Ansprüche gestützte Klage nicht - auch nicht teilweise - an das zuständige LG zu verweisen, sondern lediglich über die Anspruchsgrundlagen außerhalb der Amtshaftung zu entscheiden. Diese Verfahrensweise entspricht einer verbreiteten Rechtsansicht, die zur Begründung anführt, dass einerseits das GVG keine Teilverweisung kenne und andererseits einer Verweisung des gesamten Rechtsstreits (Streitgegenstands) der Grundsatz entgegenstehe, dass eine solche nicht erfolgen dürfe, wenn das angerufene Gericht zumindest für einen Teil der einschlägigen materiellen Ansprüche zuständig sei (s insgesamt zB BVerwG vom 15.12.1992 - 5 B 144/91, NVwZ 1993, 358 mwN sowie vom 19.11.1997 - 2 B 178/96; vgl auch BSG vom 28.3.2000, BSGE 86, 78, 79 f = SozR 3-1300 § 111 Nr 8 S 26 f; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl 2010, § 17 GVG - kommentiert bei § 41 VwGO - RdNr 54; Rennert in Eyermann/ Fröhler, VwGO, 13. Aufl 2010, § 41/§§ 17-17b GVG RdNr 20; Ehlers in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand 2010, § 41/§ 17 GVG RdNr 39).

24

Die geschilderte Ansicht wäre mit der Regelung des § 17b Abs 1 Satz 2 GVG vereinbar. Dieser ist zu entnehmen, dass auch eine Klageerhebung beim unzuständigen Gericht die Rechtshängigkeit mit den dazugehörigen Wirkungen (zB Hemmung der Verjährung: § 204 Abs 1 Nr 1 BGB)eintreten lässt. Dies gilt jedoch auch für eine vor dem SG erhobene Amtshaftungsklage und ebenso dann, wenn die Klage daneben auf weitere materielle Ansprüche gestützt wird (§ 213 BGB). So dürfte zwar im Fall des Klägers an sich bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG die dreijährige Verjährungsfrist für den Amtshaftungsanspruch (§ 195 iVm § 199 Abs 1 BGB) abgelaufen gewesen sein; diese war jedoch durch die Erhebung der Klage vor dem SG gehemmt. Würde das sozialgerichtliche Verfahren rechtskräftig beendet, hätte der Kläger danach sechs Monate Zeit, um Amtshaftungsklage vor dem LG zu erheben, ohne dass die Hemmung der Verjährung enden würde (§ 204 Abs 2 Satz 1 BGB). Die Rechtskraft der klageabweisenden Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren stände einer derartigen Klage nicht entgegen (Rennert in Eyermann/Fröhler, VwGO, 13. Aufl 2010, § 41/§§ 17-17b GVG RdNr 20). Unentschieden kann hier bleiben, ob es dem Kläger auf der Grundlage der geschilderten Rechtsansicht freistünde, bereits während des sozialgerichtlichen Verfahrens vor dem LG zu klagen (so Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 51 RdNr 41; Zimmermann in Münchener Komm zur ZPO, 3. Aufl 2008, § 17 GVG RdNr 11), oder er daran durch die anderweitige Rechtshängigkeit der Sache (§ 17 Abs 1 Satz 2 GVG) gehindert wäre.

25

Würde man diese Rechtsansicht zugrunde legen, hätte das LSG, wenn auch verfahrensfehlerhaft, im Ergebnis richtig entschieden.

26

b) Die unter a) aufgezeigte Lösungsmöglichkeit kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn das LSG nicht schon kraft eigener Kompetenz verpflichtet wäre, über den Amtshaftungsanspruch des Klägers materiell zu entscheiden. Gemäß § 202 SGG iVm § 17a Abs 5 GVG hat das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht zu prüfen, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Griffe diese Bindungswirkung hier ein, so würde diese auch dann gelten, wenn das Klagebegehren auf Amtshaftung gerichtet ist. Unter diesen Umständen hätte das LSG über den Amtshaftungsanspruch ausnahmsweise im sozialgerichtlichen Verfahren zu entscheiden (vgl BSG SozR 4-1720 § 17a Nr 1 RdNr 6; dieser Rechtsprechung folgend: Schleswig-Holsteinisches LSG vom 7.1.2005 - L 3 AL 72/04 - Juris RdNr 19; LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.3.2009 - L 7 AS 75/08 - Juris RdNr 24; BSG SozR 4-2500 § 132a Nr 2 RdNr 35). Für die Bindungswirkung nach § 17a Abs 5 GVG wäre allerdings von vornherein kein Raum, wenn das SG unter Missachtung von § 17a Abs 3 Satz 2 GVG trotz einer Rüge des fehlerhaften Rechtswegs zur Sache entschieden hätte(vgl dazu BGH vom 18.9.2008 - V ZB 40/08 - NJW 2008, 3572, 3573; BVerwG vom 28.1.1994 - 7 B 198/93 - DVBl 1994, 762 f mwN), wovon wohl hier nicht auszugehen sein dürfte.

27

Vorliegend ist problematisch, ob die Berufung des Klägers, über die das LSG zu befinden hat, sich in Bezug auf den auch mit der Klage geltend gemachten Amtshaftungsanspruch "gegen eine Entscheidung in der Hauptsache" richtet oder ob diese nur die sozialrechtlichen Anspruchsgrundlagen des Klagebegehrens erfasst. Denn das SG ist - wie bereits unter a) dargelegt - fehlerhaft davon ausgegangen, dass kein Amtshaftungsanspruch geltend gemacht worden sei, und hat die Klage daher allein nach Prüfung sozialrechtlicher Anspruchsgrundlagen abgewiesen.

28

In der Rechtsprechung des BSG ist eine "Entscheidung in der Hauptsache" iS von § 17a Abs 5 GVG selbst dann angenommen worden, wenn das SG die auf Amtshaftung gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen hat, mithin nicht in der Hauptsache über den Amtshaftungsanspruch entschieden hat, weil es die Klage aus einem anderen Grund als dem des Rechtswegs (mangels Vorverfahrens) für unzulässig gehalten hat. Danach trifft die Vorinstanz nur dann keine Entscheidung in der Hauptsache iS von § 17a Abs 5 GVG, wenn sie die Unzulässigkeit der Klage mit der fehlenden Rechtswegzuständigkeit begründet(vgl BSG SozR 4-1720 § 17a Nr 1 RdNr 5; ferner BSG SozR 4-2500 § 132a Nr 2 RdNr 35).

29

Im Übrigen ist eine "Entscheidung in der Hauptsache" angenommen worden, wenn das erstinstanzliche Gericht den Rechtsweg ausdrücklich oder auch nur stillschweigend - durch Sachentscheidung - bejaht hat (stRspr, BGHZ 127, 297, 300; BGH vom 18.9.2008 - V ZB 40/08 - NJW 2008, 3572, 3573 mwN; BAGE 92, 1, 3; BVerwG vom 22.11.1997 - 2 B 104/97 - BayVBl 1998, 603 mwN; zustimmend Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl 2010, § 17 RdNr 47). Das Verbot der Prüfung des Rechtswegs durch das Rechtsmittelgericht soll selbst dann gelten, wenn sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch die Beteiligten die sich aus dem Sachverhalt im Hinblick auf die Zulässigkeit des Rechtswegs ergebenden Rechtsfragen übersehen bzw diese rechtsfehlerhaft beantwortet haben (BGH vom 18.9.2008 - V ZB 40/08 - NJW 2008, 3572, 3573; zustimmend Lückemann in Zöller, ZPO, 28. Aufl 2010, § 17a GVG RdNr 18; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 31. Aufl 2010, § 17a GVG RdNr 24; kritisch dazu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 69. Aufl 2011, § 17a GVG RdNr 20; vgl auch Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl 2010 § 17a GVG - kommentiert bei § 41 VwGO - RdNr 44).

30

Das LSG wird daher zu prüfen haben, ob das SG im vorliegenden Fall eine "Entscheidung in der Hauptsache" iS von § 17a Abs 5 GVG getroffen hat. Sollte das LSG zu dieser Auffassung gelangen, hätte es kraft eigener Kompetenz über den Amtshaftungsanspruch zu entscheiden.

31

Eine Verletzung von § 17 Abs 2 Satz 2 GVG, wonach Art 34 Satz 3 GG unberührt bleibt, läge dann nicht vor. Letztere Vorschrift verbietet lediglich, den ordentlichen Rechtsweg von vornherein auszuschließen; das Verbot einer durch allgemeine Verfahrensvorschriften ausnahmsweise begründeten Zuständigkeit ist darin nicht enthalten (BSG SozR 4-1720 § 17a Nr 1 RdNr 8; BAG vom 14.12.1998 - 5 AS 8/98 - AP Nr 38 zu § 17a GVG - Juris RdNr 18). Auch das Recht des Klägers auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) wäre dann nicht verletzt.

32

3. Da die Beschwerde bereits aus den unter 1. dargelegten Gründen erfolgreich ist, kann dahinstehen, ob - wie der Kläger zusätzlich geltend macht - die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder eine Divergenz vorliegt.

33

4. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
2.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist;
3.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
4.
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat;
5.
wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
6.
wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Thüringer Landessozialgerichts vom 21. Januar 2010 in Gestalt des Urteils vom 27. April 2010 - L 2 R 238/10 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger, dem die Beklagte aufgrund eines Herstellungsanspruchs freiwillige Beiträge erstattet hat, begehrt auch die Zahlung von Zinsen.

2

Dem Antrag des Klägers auf Erstattung freiwillig entrichteter Beiträge von Januar 1992 bis Dezember 2004 entsprach die Beklagte in voller Höhe "im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aufgrund eines Beratungsmangels" (Bescheid vom 25.1.2005). Der Widerspruch mit dem Begehren, den Erstattungsbetrag (9479,53 Euro) zu verzinsen (4479,14 Euro bis zum 31.3.2005), blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19.5.2005).

3

Das SG Gotha hat die Klage auf Verurteilung zur Zahlung der Zinsen sowie die hilfsweise erhobene Klage auf Feststellung eines Anspruchs auf die gesetzlichen Verzugszinsen abgewiesen (Urteil vom 22.1.2007). Ein Amtshaftungsanspruch sei mit der Klage nicht zweifelsfrei geltend gemacht worden. Daher sei es nicht erforderlich gewesen, diesen Teil des Rechtsstreits abzutrennen und an das Zivilgericht zu verweisen.

4

Im Berufungsverfahren hat der Senatsvorsitzende dem Kläger mit Schreiben vom 13.1.2009 mitgeteilt, dass für in die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit fallende Ansprüche beabsichtigt sei, durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden. Soweit der Kläger Amtshaftungsansprüche verfolge, sei beabsichtigt, den Rechtsstreit abzutrennen und an das Landgericht (LG) Erfurt zu verweisen. Mit weiterem Schreiben vom 23.1.2009 hat der Senatsvorsitzende auf den Schriftsatz des Klägers vom 16.1.2009 mitgeteilt, für die ausdrücklich erst im Berufungsverfahren geltend gemachten Amtshaftungsansprüche werde an der Absicht der Trennung und Verweisung des Rechtsstreits an das LG Erfurt festgehalten.

5

Mit Beschluss vom 21.1.2010 hat das Thüringer LSG die Berufung des Klägers unter Auferlegung einer Missbrauchsgebühr von 600 Euro zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen noch auf die hilfsweise begehrte Feststellung eines solchen Anspruchs. Der Kläger könne einen Zinsanspruch nicht aus einer direkten bzw analogen Anwendung von § 44 Abs 1 SGB I bzw von § 27 Abs 1 SGB IV oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen herleiten, weil die freiwilligen Beiträge zu Recht entrichtet worden seien. Da das SG die behaupteten Anspruchsgrundlagen als öffentlich-rechtlich qualifiziert habe, sei das LSG an die vom SG angenommene Zulässigkeit des Rechtswegs zur Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Eine Verweisung des Rechtsstreits wegen des (auch) geltend gemachten Amtshaftungsanspruchs dürfe nicht erfolgen. Über solche Ansprüche dürfe ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit nicht entscheiden, denn nach § 17 Abs 2 Satz 2 GVG bleibe Art 34 Satz 3 GG unberührt. Rechtfertigten die übrigen Anspruchsgrundlagen kein stattgebendes Urteil, so sei die Klage als unbegründet abzuweisen; eine Verweisung sei nicht zulässig (Hinweis ua auf Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 51 RdNr 41).

6

Der Antrag des Klägers auf Ergänzung des Beschlusses vom 21.1.2010 um die Verweisung des Rechtsstreits wegen des Schadensersatzanspruchs nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften an das LSG blieb erfolglos (Thüringer LSG, Urteil vom 27.4.2010 - L 2 R 238/10). Zur Begründung heißt es, der angefochtene Beschluss habe keinen vom Kläger erhobenen Anspruch iS von § 140 Abs 1 SGG übergangen, sondern "ausgeführt, dass die auch auf Amtshaftung gestützte Klage als unbegründet abgewiesen wird, wenn die sonstigen Anspruchsgrundlagen kein stattgebendes Urteil rechtfertigen und … darauf hingewiesen, dass eine Verweisung an das LG Erfurt nicht zulässig ist."

7

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Divergenz. Er beantragt die Aufhebung der ihm auferlegten Verschuldenskosten und trägt vor:

8

Das LSG habe den Rechtsstreit hinsichtlich des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs an das LG Erfurt verweisen oder den Rechtsstreit gemäß § 159 Abs 1 SGG an das SG zurückverweisen müssen. Durch die unterbliebene Verweisung seien § 17 Abs 2 Satz 2 GVG iVm Art 34 Satz 3 GG und das Grundrecht des Klägers auf den gesetzlichen Richter(Art 101 Abs 1 Satz 2 GG, § 16 GVG, Art 87 Abs 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen) verletzt worden. Das LSG habe zudem den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 GG) missachtet, weil es nicht ohne erneute Anhörung des Klägers gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG über die Berufung insgesamt hätte entscheiden dürfen. Im Fall einer erneuten Anhörung wäre nicht auszuschließen gewesen, dass die Entscheidung anders ausgefallen wäre. Durch die vom LSG gewählte Verfahrensweise liege eine zur Rechtsprechung des BSG vom 16.3.2006 (B 4 RA 24/05 B) divergierende Entscheidung vor, die die Zulassung der Revision rechtfertige. Der Kläger hält ferner vier Fragen für grundsätzlich bedeutsam.

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II. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

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1. Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2, § 62 SGG) in Ausprägung der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG gerügt(§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

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Er beanstandet mit Recht, dass das LSG über seine Berufung entschieden hat, ohne ihn erneut gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG vor der Beschlussfassung gemäß Satz 1 dieser Vorschrift angehört zu haben.

12

a) Gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs(Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl Senatsbeschluss vom 29.8.2006 - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 5; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN).

13

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert(vgl zB Senatsbeschluss vom 15.7.2009 - B 13 RS 46/09 B - Juris RdNr 9; Senatsurteil vom 17.8.2000 - B 13 RJ 69/99 R - Juris RdNr 16 mwN; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 153 RdNr 20). Insoweit gilt Entsprechendes wie für den sog Verbrauch einer Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG (BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8).

14

Die Prozesssituation ändert sich auch dann entscheidungserheblich, wenn das LSG seine gegenüber den Beteiligten in einem entscheidungserheblichen Punkt geäußerte Rechtsauffassung ändert (vgl für das Verfahren nach § 124 Abs 2 SGG bereits BSG SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 8). Die Beteiligten müssen dann vor der Beschlussfassung gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG erneut Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

15

b) Indem das LSG entgegen der mit Anhörungsschreiben vom 13.1. und 23.1.2009 gegenüber den Beteiligten angekündigten Verfahrensweise - den Amtshaftungsanspruch abzutrennen und an das Zivilgericht zu verweisen - die Berufung durch Beschluss gleichwohl insgesamt zurückgewiesen hat, ohne den Kläger über die geänderte Rechtsauffassung vor der Beschlussfassung zu informieren und ihn erneut anzuhören, hat es gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verstoßen. Dies war verfahrensfehlerhaft, ungeachtet der Frage, ob die vom LSG angekündigte Verfahrensweise rechtens gewesen wäre.

16

Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des LSG war für den Kläger nicht vorhersehbar, dass das LSG entgegen eigener Ankündigung über die Berufung ohne teilweise Verweisung des Rechtsstreits an das Zivilgericht entscheiden werde. Mit einem solchen Prozessverlauf musste der Kläger nicht rechnen. Durch den zweimaligen, eine Verweisung ankündigenden Hinweis des Senatsvorsitzenden hatte sich dieser (vorläufig) rechtlich festgelegt. Diese verlautbarte Rechtsauffassung entsprach der des Klägers, so dass dieser insoweit auf einen Verfahrensausgang in seinem Sinne vertrauen durfte. Genau das Gegenteil hat das LSG entschieden.

17

c) Bei einer Verletzung des § 153 Abs 4 SGG sind keine näheren Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers erforderlich. Wenn das LSG nur nach einer - unterbliebenen - erneuten Anhörungsmitteilung im gewählten vereinfachten Beschlussverfahren hätte entscheiden dürfen, bedarf es keiner Prüfung, was der Kläger auf den gebotenen schriftlichen Hinweis zur geänderten Rechtsmeinung oder in einer mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte. Es handelt sich um einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, denn die Verletzung des § 153 Abs 4 SGG führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des LSG ohne ehrenamtliche Richter(vgl Senatsbeschluss vom 29.8.2006 - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 40; BSG vom 8.11.2001 - B 11 AL 37/01 R - Juris RdNr 15; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 10).

18

d) Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen hebt der Senat gemäß § 160a Abs 5 SGG den angefochtenen Beschluss auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.

19

2. Der Senat kann daher offen lassen, ob weitere der gerügten Verfahrensmängel vorliegen; darauf kommt es hier nicht mehr entscheidend an. Gleichwohl weist er, ohne damit abschließend alle denkbaren Alternativen aufzeigen zu wollen, auf Folgendes hin:

20

a) Das SG hat im Urteil vom 22.1.2007 nicht über einen Anspruch nach § 839 BGB iVm Art 34 GG entschieden, weil es den Antrag des Klägers so ausgelegt hat, dass sich daraus "noch kein Anspruch (gemeint: keine Geltendmachung eines Anspruchs) aus Amtspflichtverletzung" ergab. Damit hat das SG die geltend gemachten Ansprüche aber nicht vollends erfasst.

21

Denn zum einen hat sich der Kläger in der Klageschrift vom 28.5.2005 (erstinstanzlich hat er sich nicht weiter geäußert) durchaus auch auf einen "Schadensersatzanspruch nach bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen (§§ 812, 823 BGB)" bezogen und lediglich um Hinweis des Gerichts gebeten, falls nach dessen Ansicht "nicht die Beklagte, sondern die Bundesrepublik Deutschland nach den Grundsätzen der Amtshaftung (§ 839 BGB) zuständig sein" sollte.

22

Zum anderen hätte das SG selbst dann prüfen müssen, ob es über einen Amtshaftungsanspruch zu entscheiden hatte, wenn der Kläger diesen nicht ausdrücklich benannt hätte. Denn zwar oblag es nach der auch im sozialgerichtlichen Verfahren maßgebenden Dispositionsmaxime (s Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 60 RdNr 3) diesem, welche "Ansprüche" er nach § 123 SGG "erheben" wollte. Damit war jedoch nicht in sein Belieben gestellt, auf welche materiell-rechtlichen Vorschriften er sein Begehren stützen wollte, vielmehr ist hiermit nur gesagt, dass er den Streitgegenstand bestimmt, also den Lebenssachverhalt und dasjenige, was er auf dessen Grundlage als gerichtliche Entscheidung anstrebt ("prozessualer Anspruch"; vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 95 RdNr 5): Der Kläger hat die Fakten zu liefern, die rechtliche Subsumtion ist Sache des Gerichts ("da mihi factum, dabo tibi ius"; "iura novit curia"; vgl insoweit auch zB BSG vom 28.3.2000, BSGE 86, 78, 79 f = SozR 3-1300 § 111 Nr 8 S 27).

23

Das LSG ist (unter Berufung auf Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 51 RdNr 41; dieser wiederum unter Hinweis auf Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl 2007, § 17 GVG RdNr 7) davon ausgegangen, ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit habe eine sowohl auf Amtshaftung wie auf sozialrechtliche Ansprüche gestützte Klage nicht - auch nicht teilweise - an das zuständige LG zu verweisen, sondern lediglich über die Anspruchsgrundlagen außerhalb der Amtshaftung zu entscheiden. Diese Verfahrensweise entspricht einer verbreiteten Rechtsansicht, die zur Begründung anführt, dass einerseits das GVG keine Teilverweisung kenne und andererseits einer Verweisung des gesamten Rechtsstreits (Streitgegenstands) der Grundsatz entgegenstehe, dass eine solche nicht erfolgen dürfe, wenn das angerufene Gericht zumindest für einen Teil der einschlägigen materiellen Ansprüche zuständig sei (s insgesamt zB BVerwG vom 15.12.1992 - 5 B 144/91, NVwZ 1993, 358 mwN sowie vom 19.11.1997 - 2 B 178/96; vgl auch BSG vom 28.3.2000, BSGE 86, 78, 79 f = SozR 3-1300 § 111 Nr 8 S 26 f; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl 2010, § 17 GVG - kommentiert bei § 41 VwGO - RdNr 54; Rennert in Eyermann/ Fröhler, VwGO, 13. Aufl 2010, § 41/§§ 17-17b GVG RdNr 20; Ehlers in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand 2010, § 41/§ 17 GVG RdNr 39).

24

Die geschilderte Ansicht wäre mit der Regelung des § 17b Abs 1 Satz 2 GVG vereinbar. Dieser ist zu entnehmen, dass auch eine Klageerhebung beim unzuständigen Gericht die Rechtshängigkeit mit den dazugehörigen Wirkungen (zB Hemmung der Verjährung: § 204 Abs 1 Nr 1 BGB)eintreten lässt. Dies gilt jedoch auch für eine vor dem SG erhobene Amtshaftungsklage und ebenso dann, wenn die Klage daneben auf weitere materielle Ansprüche gestützt wird (§ 213 BGB). So dürfte zwar im Fall des Klägers an sich bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG die dreijährige Verjährungsfrist für den Amtshaftungsanspruch (§ 195 iVm § 199 Abs 1 BGB) abgelaufen gewesen sein; diese war jedoch durch die Erhebung der Klage vor dem SG gehemmt. Würde das sozialgerichtliche Verfahren rechtskräftig beendet, hätte der Kläger danach sechs Monate Zeit, um Amtshaftungsklage vor dem LG zu erheben, ohne dass die Hemmung der Verjährung enden würde (§ 204 Abs 2 Satz 1 BGB). Die Rechtskraft der klageabweisenden Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren stände einer derartigen Klage nicht entgegen (Rennert in Eyermann/Fröhler, VwGO, 13. Aufl 2010, § 41/§§ 17-17b GVG RdNr 20). Unentschieden kann hier bleiben, ob es dem Kläger auf der Grundlage der geschilderten Rechtsansicht freistünde, bereits während des sozialgerichtlichen Verfahrens vor dem LG zu klagen (so Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 51 RdNr 41; Zimmermann in Münchener Komm zur ZPO, 3. Aufl 2008, § 17 GVG RdNr 11), oder er daran durch die anderweitige Rechtshängigkeit der Sache (§ 17 Abs 1 Satz 2 GVG) gehindert wäre.

25

Würde man diese Rechtsansicht zugrunde legen, hätte das LSG, wenn auch verfahrensfehlerhaft, im Ergebnis richtig entschieden.

26

b) Die unter a) aufgezeigte Lösungsmöglichkeit kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn das LSG nicht schon kraft eigener Kompetenz verpflichtet wäre, über den Amtshaftungsanspruch des Klägers materiell zu entscheiden. Gemäß § 202 SGG iVm § 17a Abs 5 GVG hat das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht zu prüfen, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Griffe diese Bindungswirkung hier ein, so würde diese auch dann gelten, wenn das Klagebegehren auf Amtshaftung gerichtet ist. Unter diesen Umständen hätte das LSG über den Amtshaftungsanspruch ausnahmsweise im sozialgerichtlichen Verfahren zu entscheiden (vgl BSG SozR 4-1720 § 17a Nr 1 RdNr 6; dieser Rechtsprechung folgend: Schleswig-Holsteinisches LSG vom 7.1.2005 - L 3 AL 72/04 - Juris RdNr 19; LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.3.2009 - L 7 AS 75/08 - Juris RdNr 24; BSG SozR 4-2500 § 132a Nr 2 RdNr 35). Für die Bindungswirkung nach § 17a Abs 5 GVG wäre allerdings von vornherein kein Raum, wenn das SG unter Missachtung von § 17a Abs 3 Satz 2 GVG trotz einer Rüge des fehlerhaften Rechtswegs zur Sache entschieden hätte(vgl dazu BGH vom 18.9.2008 - V ZB 40/08 - NJW 2008, 3572, 3573; BVerwG vom 28.1.1994 - 7 B 198/93 - DVBl 1994, 762 f mwN), wovon wohl hier nicht auszugehen sein dürfte.

27

Vorliegend ist problematisch, ob die Berufung des Klägers, über die das LSG zu befinden hat, sich in Bezug auf den auch mit der Klage geltend gemachten Amtshaftungsanspruch "gegen eine Entscheidung in der Hauptsache" richtet oder ob diese nur die sozialrechtlichen Anspruchsgrundlagen des Klagebegehrens erfasst. Denn das SG ist - wie bereits unter a) dargelegt - fehlerhaft davon ausgegangen, dass kein Amtshaftungsanspruch geltend gemacht worden sei, und hat die Klage daher allein nach Prüfung sozialrechtlicher Anspruchsgrundlagen abgewiesen.

28

In der Rechtsprechung des BSG ist eine "Entscheidung in der Hauptsache" iS von § 17a Abs 5 GVG selbst dann angenommen worden, wenn das SG die auf Amtshaftung gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen hat, mithin nicht in der Hauptsache über den Amtshaftungsanspruch entschieden hat, weil es die Klage aus einem anderen Grund als dem des Rechtswegs (mangels Vorverfahrens) für unzulässig gehalten hat. Danach trifft die Vorinstanz nur dann keine Entscheidung in der Hauptsache iS von § 17a Abs 5 GVG, wenn sie die Unzulässigkeit der Klage mit der fehlenden Rechtswegzuständigkeit begründet(vgl BSG SozR 4-1720 § 17a Nr 1 RdNr 5; ferner BSG SozR 4-2500 § 132a Nr 2 RdNr 35).

29

Im Übrigen ist eine "Entscheidung in der Hauptsache" angenommen worden, wenn das erstinstanzliche Gericht den Rechtsweg ausdrücklich oder auch nur stillschweigend - durch Sachentscheidung - bejaht hat (stRspr, BGHZ 127, 297, 300; BGH vom 18.9.2008 - V ZB 40/08 - NJW 2008, 3572, 3573 mwN; BAGE 92, 1, 3; BVerwG vom 22.11.1997 - 2 B 104/97 - BayVBl 1998, 603 mwN; zustimmend Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl 2010, § 17 RdNr 47). Das Verbot der Prüfung des Rechtswegs durch das Rechtsmittelgericht soll selbst dann gelten, wenn sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch die Beteiligten die sich aus dem Sachverhalt im Hinblick auf die Zulässigkeit des Rechtswegs ergebenden Rechtsfragen übersehen bzw diese rechtsfehlerhaft beantwortet haben (BGH vom 18.9.2008 - V ZB 40/08 - NJW 2008, 3572, 3573; zustimmend Lückemann in Zöller, ZPO, 28. Aufl 2010, § 17a GVG RdNr 18; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 31. Aufl 2010, § 17a GVG RdNr 24; kritisch dazu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 69. Aufl 2011, § 17a GVG RdNr 20; vgl auch Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl 2010 § 17a GVG - kommentiert bei § 41 VwGO - RdNr 44).

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Das LSG wird daher zu prüfen haben, ob das SG im vorliegenden Fall eine "Entscheidung in der Hauptsache" iS von § 17a Abs 5 GVG getroffen hat. Sollte das LSG zu dieser Auffassung gelangen, hätte es kraft eigener Kompetenz über den Amtshaftungsanspruch zu entscheiden.

31

Eine Verletzung von § 17 Abs 2 Satz 2 GVG, wonach Art 34 Satz 3 GG unberührt bleibt, läge dann nicht vor. Letztere Vorschrift verbietet lediglich, den ordentlichen Rechtsweg von vornherein auszuschließen; das Verbot einer durch allgemeine Verfahrensvorschriften ausnahmsweise begründeten Zuständigkeit ist darin nicht enthalten (BSG SozR 4-1720 § 17a Nr 1 RdNr 8; BAG vom 14.12.1998 - 5 AS 8/98 - AP Nr 38 zu § 17a GVG - Juris RdNr 18). Auch das Recht des Klägers auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) wäre dann nicht verletzt.

32

3. Da die Beschwerde bereits aus den unter 1. dargelegten Gründen erfolgreich ist, kann dahinstehen, ob - wie der Kläger zusätzlich geltend macht - die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder eine Divergenz vorliegt.

33

4. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.