Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Sept. 2010 - VIII ZB 14/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung von 744,10 € nebst Zinsen in Anspruch. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil vom 11. August 2008 ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 14. August 2008 zugestellt worden.
- 2
- Mit Schriftsatz vom 15. September 2008, beim Landgericht eingegangen am selben Tag, einem Montag, hat die Klägerin Berufung eingelegt. Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 14. November 2008 hat sie die Berufung mit Schriftsatz vom 14. November 2008 begründet. Dieser Schriftsatz trägt den Eingangsstempel des Landgerichts vom (Montag) 17. November 2008.
- 3
- Nach einem Hinweis des Gerichts auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28. November 2008, bei Gericht eingegangen am selben Tag, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Rechtfertigung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs hat sie vorgetragen und durch die eidesstattlichen Versicherungen ihres Prozessbevollmächtigten sowie dessen als Bote eingesetzten Mitarbeiters H. folgendes glaubhaft gemacht:
- 4
- Am 14. November 2008 gegen 15.00 Uhr habe ihr Prozessbevollmächtigter dem Boten den an das Landgericht adressierten Schriftsatz mit der Berufungsbegründung in dieser Sache sowie einen weiteren Schriftsatz an das im selben Ort gelegene Amtsgericht in einer Insolvenzangelegenheit übergeben. Der Bote habe die Kanzlei mit den beiden in Fensterkuverts "eingetüteten" Schriftsätzen kurze Zeit später im Beisein ihres Prozessbevollmächtigten verlassen. Zuvor sei er von diesem ermahnt worden, darauf zu achten, dass er persönlich jeden der beiden Umschläge nur in den Briefkasten des in der Adresse aufgeführten Gerichts einwerfe. Ihr Prozessbevollmächtigter habe sich vergewissert, dass sich der Bote H. der Tragweite des richtigen Zugangs bewusst gewesen sei. Der Bote H. sei seit dem 1. Dezember 2007 in dessen Kanzlei tätig und seither für sämtliche Botengänge zuständig, und zwar sowohl für sämtliche Gerichts- und Behördenpost als auch für Wege zu Banken einschließlich der Einzahlung und Entgegennahme von Geldern. Der Mitarbeiter H. sei in jeder Hinsicht zuverlässig und arbeite insbesondere im Rahmen der Botengänge fehlerfrei.
- 5
- Am Morgen des 17. November 2008 habe der Bote ihrem Prozessbevollmächtigten bestätigt, dass er die Schriftsätze ordnungsgemäß eingeworfen habe. Nachdem ihr Prozessbevollmächtigter durch das Berufungsgericht auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung aufmerksam gemacht worden sei, habe er den Boten H. nochmals befragt. Auf Nachhaken habe der Bote ihm erklärt, dass er sich "ziemlich sicher" sei, den Schriftsatz in den richtigen Briefkasten geworfen zu haben, nunmehr aufgrund des Stempelaufdrucks vom 17. November 2008 jedoch nicht mehr "hundertprozentig sicher" sei, ob er den Schriftsatz in den richtigen Briefkasten eingeworfen habe. Da der in der Insolvenzangelegenheit an das Amtsgericht gerichtete Schriftsatz dort mit dem Datum vom 14. November 2008 abgestempelt worden sei, sei nicht auszuschließen , dass der Bote H. trotz seiner bisherigen einjährigen fehlerfreien Botentätigkeit den Schriftsatz für das Landgericht versehentlich in den Briefkasten des Amtsgerichts eingeworfen habe.
II.
- 6
- Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe nicht die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung am 14. November 2008 nachweisen können.
- 7
- Wiedereinsetzung könne der Klägerin nicht gewährt werden. Soweit die Klägerin den Wiedereinsetzungsantrag damit begründe, dem ansonsten zuverlässigen Boten als Anwaltsgehilfen ihres Prozessbevollmächtigten sei ein Fehler unterlaufen, fehle es an einem glaubhaft gemachten Vorbringen zu der erforderlichen regelmäßigen Überwachung desselben.
III.
- 8
- Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde. Sie macht geltend, das Berufungsgericht habe die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts hinsichtlich der Organisation seiner Kanzlei in Bezug auf die Übermittlung ausgehender Schriftsätze an die örtlichen Gerichte durch einen Boten überspannt. Die Wiedereinsetzung scheitere nicht am Fehlen eines glaubhaft gemachten Vorbringens der Klägerin in Bezug auf eine regelmäßige Überwachung des Boten durch ihren Prozessbevollmächtigten. Einer solchen Überwachung bedürfe es jedenfalls dann nicht, wenn - wie hier - der Bote über den Zeitraum eines Jahres alle ihm aufgetragenen Botengänge fehlerfrei ausgeführt habe, sein Aufgabenkreis auch die Übermittlung der für die ortsansässigen Gerichte bestimmten Schriftstücke umfasst habe und er im konkreten Fall lediglich unmissverständlich formulierte Anweisungen auszuführen gehabt habe.
IV.
- 9
- Das Rechtsmittel hat Erfolg.
- 10
- 1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht auf einer Würdigung, die der Klägerin den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt den Anspruch der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 69, 381, 385; 88, 118, 123 f.; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2004 - II ZB 18/03, NJW-RR 2005, 75 unter II 2).
- 11
- 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
- 12
- Der Klägerin ist auf ihr rechtzeitig angebrachtes Gesuch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts beruht die Fristversäumung nach den glaubhaft gemachten Angaben der Klägerin nicht auf einem - ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbaren - Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten , sondern allein auf einer fehlerhaften Erledigung der dessen Büropersonal zulässigerweise übertragenen Aufgabe.
- 13
- Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist einer Partei grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine geschulte und zuverlässige Kanzleikraft einen fristwahrenden Schriftsatz versehentlich beim falschen Gericht einwirft (Senatsbeschluss vom 11. September 2007 - VIII ZB 114/05, FamRZ 2008, 142 Rn. 8). Bei dem Botengang handelt es sich um eine einfache Tätigkeit, mit der ein Rechtsanwalt auch einen Auszubildenden oder einen zuverlässigen Praktikanten betrauen darf, sofern von der beauftragten Person eine gewissenhafte Ausführung des Auftrags erwartet werden kann (Senatsbeschluss vom 11. September 2007 - VIII ZB 114/05, aaO Rn. 10 mwN). Dies war hier der Fall. Nach dem durch eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin glaubhaft gemachten Vortrag hat der Bote H. sich in der bis dahin einjährigen Tätigkeit in dessen Kanzlei als zuverlässig erwiesen und fehlerfrei alle Botengänge einschließlich der Überbringung von Post zu Gerichten und Behörden ausgeführt. Danach war der Mitarbeiter H. eine für einfache Tätigkeiten wie Botengänge geeignete Person, bei der sich der Prozessbevollmächtigte der Kläge- rin darauf verlassen durfte, dass er den ihm übertragenen Botengang zuverlässig erledigen werde. Zudem war der Bote von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin unmittelbar vor Ausführung des Botengangs nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der fristwahrende Schriftsatz für das Berufungsgericht nur in den Nachtbriefkasten des Landgerichts einzuwerfen sei. Damit fehlt es an einem Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten. Ein Verschulden allein des Boten H. bei der Beförderung des Briefes ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht anzulasten (BGH, Urteil vom 2. November 2006 - III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 7).
- 14
- 3. Die angefochtene Entscheidung ist somit aufzuheben. Da weitere Feststellungen entbehrlich sind, ist der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gemäß §§ 233, 234 ZPO zu gewähren. Ball Dr. Hessel Dr. Schneider Dr. Fetzer Dr. Bünger
AG Peine, Entscheidung vom 11.08.2008 - 18 C 13/08 -
LG Hildesheim, Entscheidung vom 30.12.2008 - 7 S 194/08 -
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(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.
(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass
- 1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, - 2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, - 3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und - 4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.
(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken.
(2) Auf die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und auf die Anfechtung der Entscheidung sind die Vorschriften anzuwenden, die in diesen Beziehungen für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Der Partei, die den Antrag gestellt hat, steht jedoch der Einspruch nicht zu.
(3) Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar.
(4) Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
(1) Die von dem Bevollmächtigten vorgenommenen Prozesshandlungen sind für die Partei in gleicher Art verpflichtend, als wenn sie von der Partei selbst vorgenommen wären. Dies gilt von Geständnissen und anderen tatsächlichen Erklärungen, insoweit sie nicht von der miterschienenen Partei sofort widerrufen oder berichtigt werden.
(2) Das Verschulden des Bevollmächtigten steht dem Verschulden der Partei gleich.
War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.
(1) Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde einzuhalten.
(2) Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist.
(3) Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.