Bundesgerichtshof Beschluss, 13. Dez. 2005 - VI ZB 52/05

published on 13/12/2005 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 13. Dez. 2005 - VI ZB 52/05
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Amtsgericht Riedlingen, 1 C 392/04, 22/03/2005
Landgericht Ravensburg, 6 S 15/05, 04/07/2005

Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
VI ZB 52/05
vom
13. Dezember 2005
in dem Rechtsstreit
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. Dezember 2005 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge,
Stöhr und Zoll

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Ravensburg vom 4. Juli 2005 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen. Beschwerdewert: 802,50 €

Gründe:

I.

1
Der Kläger hat gegen das seine Klage abweisende Urteil des Amtsgerichts vom 22. März 2005, das seinem Prozessbevollmächtigten am 24. März 2005 zugestellt worden ist, am Montag, dem 25. April 2005, Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 25. Mai 2005 wies der Vorsitzende der Berufungskammer den Kläger darauf hin, dass die Berufung nicht innerhalb der am 24. Mai 2005 endenden Berufungsbegründungsfrist begründet worden sei. Mit einem am 6. Juni 2005 bei Gericht eingegangenen Schreiben berief sich der Klägervertreter darauf, dass er am 20. Mai 2005 einen Antrag auf Verlängerung der Beru- fungsbegründungsfrist um einen Monat gestellt habe. Er beantragte außerdem vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuches trug er unter anwaltlicher Versicherung vor, dass er am 20. Mai 2005 den Antrag auf Fristverlängerung zusammen mit anderer Geschäftspost zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr in den Briefkasten eingeworfen habe. Der Verlängerungsantrag müsse bei der Post oder im Bereich des Gerichts abhanden gekommen sein. Einer Rückfrage bei Gericht, ob die Verlängerung bewilligt werde, habe es nicht bedurft, da darauf bei einem begründeten ersten Antrag ohne weiteres vertraut werden dürfe. Dem Schreiben war in der Anlage ein Fristverlängerungsantrag vom 20. Mai 2005 beigefügt, in dem der Klägervertreter wegen der derzeitigen Arbeitsüberlastung infolge einer Häufung von Gerichtsterminen und Fristsachen die Verlängerung der am 24. Mai 2005 ablaufenden Berufungsbegründungsfrist um einen Monat beantragt hat. Die Berufungsbegründungsschrift ging am 8. Juni 2005 beim Landgericht ein.
2
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 4. Juli 2005 den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen schuldhafter Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe, nachdem er an einem Freitagabend den Schriftsatz zur Post gebracht habe, gewusst, dass am Montag, dem 23. Mai 2005 eine Sachbearbeitung beim Rechtsmittelgericht faktisch ausgeschlossen sei. Damit sei der vorletzte Tag der Frist erreicht worden. Da gegen Fristende die Sorgfaltspflichten des Anwalts zunähmen, hätte der Prozessbevollmächtigte des Klägers spätestens am Morgen des 24. Mai 2005 beim Prozessgericht nachfragen müssen, ob sein Antrag vorliege und ob er bearbeitet werde. Den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hat das Berufungsgericht mit Verfügung vom 22. Juni 2005 als unzulässig verworfen.
3
Der Beschluss vom 4. Juli 2005 ist dem Klägervertreter am 7. Juli 2005 zugestellt worden. Der Kläger hat dagegen am 3. August 2005 Rechtsbeschwerde eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist um zwei Monate mit Schriftsatz vom 16. September 2005, eingegangen am 21. September 2005, begründet.

II.

4
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß den §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238, 574 Abs. 1 Satz 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (vgl. §§ 574 ff. ZPO). Sie ist auch begründet und führt zu einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht (§ 577 Abs. 4 ZPO).
5
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Zugang zu den in den Gerichtsordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise, erschwert werden. Eine solche unzumutbare Erschwerung liegt vor, wenn Gerichte bei der Entscheidung über Verlängerungsanträge und über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verhalten als schuldhaft ansehen, das nach der Rechtsprechung eines Obersten Bundesgerichts eindeutig nicht zu beanstanden ist. Nur wenn dem betroffenen Rechtsanwalt bekannt sein muss, dass bei dem angerufenen Gericht eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein (BVerfGE 79, 372, 376; BVerfG, NJW 2000, 1634 und NJW 1998, 3703 m.w.N.).
6
2. Im vorliegenden Fall durfte sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers für die Entscheidung über seinen Berufungsbegründungsfristverlänge- rungsantrag auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verlassen , wonach seinem Verlängerungsantrag hätte stattgegeben werden müssen. Zwar muss der Rechtsmittelführer grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt. Der Rechtsanwalt kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im allgemeinen erwarten, dass einem ersten Verlängerungsantrag dann entsprochen wird, wenn ein erheblicher Grund vorgetragen wird (vgl. Senatsbeschluss vom 18. September 2001 - VI ZB 26/01 - VersR 2001, 1579; BGH, Beschluss vom 21. Februar 2000 - II ZB 16/99 - VersR 2000, 1433 und vom 1. August 2001 - VIII ZB 24/01 - VersR 2002, 1576; v. Pentz, NJW 2003, 858, 865; Born, NJW 2005, 2042, 2047). Vorliegend handelte es sich um die erstmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist; nach dem Inhalt des Antrags war er nach üblicher Praxis ausreichend mit dem Hinweis auf die Arbeitsüberlastung durch eine Vielzahl von Terminen begründet worden (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 7. Mai 1991 - XII ZB 48/91 - NJW 1991, 2080, 2081 und vom 5. Juli 1989 - IVb ZB 53/89 - NJW-RR 1989, 1280). Durfte der Klägervertreter hiernach die Bewilligung eines erstmals gestellten und ausreichend begründeten Gesuchs auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist erwarten, so ist ihm kein Vorwurf daraus zu machen, dass er sich nicht innerhalb des Laufs der Berufungsbegründungsfrist erkundigt hat, ob dem Verlängerungsantrag stattgegeben wurde.
7
Auch im Übrigen traf den Prozessbevollmächtigten keine Erkundigungspflicht , da er auf die Einhaltung der normalen Postlaufzeiten vertrauen durfte und deshalb damit rechnen konnte, dass sein Verlängerungsantrag rechtzeitig bei Gericht einging (vgl. Senatsbeschluss vom 30. September 2003 - VI ZB 60/02 - VersR 2004, 354). Über einen rechtzeitig bei Gericht eingegangen Fristverlängerungsantrag kann im Übrigen - was auch das Berufungs- gericht annimmt - auch noch nach Ablauf der Frist entschieden werden (BGHZ 83, 217, 219 ff.), so dass nicht entscheidend ist, ob der Antrag am letzten Tag der Frist tatsächlich bearbeitet worden wäre.
Müller Diederichsen Pauge Stöhr Zoll
Vorinstanzen:
AG Riedlingen, Entscheidung vom 22.03.2005 - 1 C 392/04 -
LG Ravensburg, Entscheidung vom 04.07.2005 - 6 S 15/05 -
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(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwer

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(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwer

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(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.

(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass

1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat,
2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat,
3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und
4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
Das Berufungsgericht oder der Vorsitzende hat zuvor die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Beschluss nach Satz 1 ist zu begründen, soweit die Gründe für die Zurückweisung nicht bereits in dem Hinweis nach Satz 2 enthalten sind. Ein anfechtbarer Beschluss hat darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten.

(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.

(1) Das Rechtsbeschwerdegericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.

(2) Der Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts unterliegen nur die von den Parteien gestellten Anträge. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die geltend gemachten Rechtsbeschwerdegründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, darf die angefochtene Entscheidung nur geprüft werden, wenn die Mängel nach § 575 Abs. 3 und § 574 Abs. 4 Satz 2 gerügt worden sind. § 559 gilt entsprechend.

(3) Ergibt die Begründung der angefochtenen Entscheidung zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

(4) Wird die Rechtsbeschwerde für begründet erachtet, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen. § 562 Abs. 2 gilt entsprechend. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Gerichts erfolgen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde liegt, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(5) Das Rechtsbeschwerdegericht hat in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Aufhebung der Entscheidung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Rechts auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist. § 563 Abs. 4 gilt entsprechend.

(6) Die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde ergeht durch Beschluss. § 564 gilt entsprechend. Im Übrigen kann von einer Begründung abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.