Bundesgerichtshof Beschluss, 23. Okt. 2003 - V ZB 44/03
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens: 2.833,15
Gründe
I.
Mit am 11. März 2003 der Beklagten zugestelltem Urteil vom 7. März 2003 entschied das Amtsgericht K. zum Nachteil der Beklagten. Hierge-
gen legte die Beklagte am 10. April 2003 bei dem Landgericht B. Berufung ein. Am 9. Mai 2003 beantragte die Beklagte, die Berufungsbegründungs- frist über den 12. Mai 2003 hinaus bis zum 28. Mai 2003 zu verlängern. In Erwartung dieser Verlängerung erteilte der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten seiner Angestellten die Weisung, die neue Frist und eine Wiedervorlage der Akten auf den 21. Mai 2003 zu notieren, was auch geschah. Die Kammer verlängerte die Berufungsbegründungsfrist mit Verfügung vom 9. Mai 2003, jedoch nur bis zum 20. Mai 2003. Die Verfügung enthielt außer der Verlängerung nur den Hinweis, eine weitere Verlängerung sei nicht zu erwarten; der in dem verwendeten Verfügungsformular auch vorgesehene Hinweis auf eine teilweise Zurückweisung des Antrags war nicht angekreuzt. Diese Verfügung wurde am 13. Mai 2003 ausgeführt und erreichte den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten am 14. Mai 2003. Dessen Angestellten fiel nicht auf, daß die Frist nur bis zum 20. Mai 2003 verlängert worden war. Die Akten wurden deshalb wie notiert erst am 21. Mai 2003 vorgelegt.
Die Beklagte hat am 28. Mai 2003 die Berufungsbegründung eingereicht und darin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Sie hat vorgetragen, ihr Prozeßbevollmächtigter sei davon ausgegangen, daß die Frist antragsgemäß verlängert werde, zumal ihm die Geschäftsstelle der Kammer erklärt habe, mit der Fristverlängerung dürfte es keine Probleme geben.
Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II.
Das Berufungsgericht meint, die Berufungsbegründungsfrist sei nicht ohne Verschulden des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten versäumt worden. Dieser habe nicht mit einer Bewilligung der Fristverlängerung rechnen dürfen. Denn er habe weder erhebliche Gründe vorgetragen noch eine Zusage der Vorsitzenden der Kammer eingeholt. Daß er sich bei der Geschäftsstelle der Kammer erkundigt habe, sei unerheblich.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig. Sie hat auch Erfolg, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts den Anspruch der Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 20 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Die Voraussetzungen für die beantragte Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist liegen vor. Eine Verwerfung der Berufung als unzulässig scheidet deshalb aus.
1. Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381, 385; 88, 118, 123 ff; BVerfG FamRZ 2002, 533). Die Gerichte dürfen daher bei der Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften
die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (BVerfGE 40, 88, 91; 67, 208, 212 f.; BVerfG NJW 1996, 2857; 2000, 1636; BVerfG FamRZ 2002, 533, 534). Das Landgericht hat die Anforderungen in diesem Sinne überspannt.
2. Die Beklagte hat die Berufungsbegründungsfrist versäumt, weil ihrem Prozeßbevollmächtigten nicht auffiel, daß die Frist nicht bis zum 28., sondern nur bis zum 20. Mai 2003 bewilligt worden war. Das ist unter den hier gegebenen besonderen Umständen weder ihr noch ihrem Prozeßbevollmächtigten oder seiner Angestellten vorzuwerfen. Das Versagen der Fristkontrollmaßnahmen des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten beruht entscheidend darauf, daß das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung über die Fristverlängerung den Erfordernissen eines fairen Verfahrens nicht entsprochen hat.
a) Die Beklagte durfte sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes darauf verlassen, daß die Fristverlängerung beim - wie hier - ersten Mal antragsgemäß bewilligt werde (BGH, Beschl. v. 5. Juli 1989, IVb ZB 53/89, BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung 3; Beschl. v. 2. November 1989, III ZB 49/89, BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung 4; Beschl. v. 23. Juni 1994, VII ZB 5/94 NJW 1994, 2957; Beschl. v. 24. Oktober 1996, VII ZB 25/96, NJW 1997, 400; Beschl. v. 11. November 1998, VIII ZB 24/98, NJW 1999, 430; Beschl. v. 21. September 2000, III ZB 36/00, BGHR ZPO § 233 Mandatsniederlegung 4; Beschl. v. 28. November 2002, III ZB 45/03, BGH-Report 2003, 459; Senatsbeschl. v. 20. Februar 2003, V ZB 60/02, NJW-RR 2003, 861, 862). Das gilt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch dann, wenn sich die Partei nicht um die Zusicherung einer Fristverlängerung durch den Vorsitzenden der Kammer oder des Senats bemüht. Mit der Möglichkeit, daß das Beru-
fungsgericht ihrem Antrag auf Fristverlängerung zwar entsprechen, aber eine deutlich kürzere Frist bestimmen würde, brauchte die Beklagte nicht zu rechnen. Sie hatte nur eine maßvolle Verlängerung der Berufungsgründungsfrist um 16 Tage beantragt. Die Kammer hatte keinen Termin bestimmt. Ein anderer sachlicher Grund, diese Frist zu verkürzen, war nicht ersichtlich. Diesem Vertrauen der Beklagten mußte das Berufungsgericht von Verfassungs wegen auch dann Rechnung tragen, wenn es der ihm zugrunde liegenden Rechtsprechung nicht folgen wollte (BVerfG, FamRZ 2002, 533, 534).
b) Die Beklagte mußte auch nicht damit rechnen, daß das Berufungsgericht die Berufungsbegründungsfrist um einen Zeitraum verlängerte, in dem die geltend gemachten ergänzenden Erkundigungen erkennbar nicht würden eingeholt werden können. Die Verlängerung der Berufungsfrist um nur etwas mehr als eine Woche konnte dem Prozeßbevollmächtigten der Beklagten nicht ausreichen , weil er Ermittlungen dazu anzustellen hatte, welche Abwasseranschlußmaßnahme Gegenstand des Abwasserbeitragsbescheids war, von dem die Beklagte den Kläger freistellen sollte, und ob diese endgültig abgeschlossen war. Das hatte er in seinem Antrag nur kurz umrissen. Mehr war aber auch nicht nötig, weil das Amtsgericht die Beklagte aus eben diesem Grund verurteilt hatte.
c) Ihre Entscheidung hat die Kammer der Beklagten in einer Weise bekannt gemacht, die diese irreleitete. In der Verfügung war nämlich der in dem dafür verwendeten Formular vorgesehene Textblock, mit dem auf die teilweise Zurückweisung des Antrags hingewiesen wird, nicht angekreuzt und darum in die Reinschrift auch nicht aufgenommen worden. So erweckte das Schreiben den Eindruck einer antragsgemäßen Fristverlängerung. Dieser Eindruck wurde
dadurch verstärkt, daß das Schreiben die Ankündigung enthielt, mit weiteren Fristverlängerungen sei nicht zu rechnen. Veranlassung, einen solchen Hinweis aufzunehmen, besteht gewöhnlich nur, wenn die beantragte Verlängerung antragsgemäß bewilligt wird. Bei einer teilweisen Zurückweisung ihres gestellten Antrags käme eine Partei nicht auf den Gedanken, sie könne mit einem weiteren Antrag eine weitergehende Fristverlängerung erreichen. Schließlich sprach auch der Zeitpunkt der Unterrichtung für eine antragsgemäße Verlängerung. Bei Eingang der Verfügung war der Beklagten die Beschaffung der zusätzlichen Unterlagen, um deretwillen sie Fristverlängerung beantragt hatte, praktisch nicht mehr möglich. Das ließ aus ihrer Sicht eine antragsgemäße Fristverlängerung erwarten.
d) Nichts anderes ergibt sich aus dem von dem Berufungsgericht hervorgehobenen Umstand, daß das Vertrauen in die Bewilligung einer Fristverlängerung nur schützenswert ist, wenn auch erhebliche Gründe für die Fristverlängerung vorgetragen werden (BGH, Beschl. v. 16. Juni 1992, X ZB 6/92 VersR 1993, 379). Auf diese Frage kommt es hier nicht an, weil das Berufungsgericht selbst die Gründe als ausreichend angesehen und die Frist zur Begründung der Berufung verlängert hat. Hier geht es allein um die zu verneinende Frage, ob die Beklagte damit rechnen mußte, daß die Frist kürzer als beantragt bewilligt werde.
3. Ist dem Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten stattzugeben, darf ihre Berufung auch nicht als unzulässig verworfen werden.
Tropf Krüger Lemke
Schmidt-Räntsch Stresemann
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Annotations
(1) Das Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozesshandlung zu verbinden. Das Gericht kann jedoch das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken.
(2) Auf die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und auf die Anfechtung der Entscheidung sind die Vorschriften anzuwenden, die in diesen Beziehungen für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Der Partei, die den Antrag gestellt hat, steht jedoch der Einspruch nicht zu.
(3) Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar.
(4) Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind.
(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.
(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass
- 1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, - 2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, - 3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und - 4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.