Bundesgerichtshof Beschluss, 17. Juni 2004 - IX ZB 208/03
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluß des 25. Zivilsenats des Kammergerichts vom 7. Juli 2003 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil der 36. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 19. November 2002 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und die Berufung als unzulässig verworfen worden ist.
Dem Beklagten wird wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Zur Verhandlung und neuen Entscheidung über die Berufung sowie über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Mit Urteil des Landgerichts wurde der Beklagte unter A bweisung seiner Widerklage verurteilt, an die Kläger zur gesamten Hand 7.041,42 € nebst Zinsen zu zahlen. Das Urteil wurde der damaligen Prozeßbevollmächtigten des Beklagten, Rechtsanwältin P. , am 28. November 2002 zugestellt. Der Beklagte beantragte beim Kammergericht am 30. Dezember 2002 die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe zur Einlegung der Berufung, die Beiordnung der erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten, die sich zur Übernahme des Berufungsmandats bereit erklärt habe, und die Gewährung einer Frist zur Ausarbeitung des Entwurfs einer Berufungsbegründung. Das Kammergericht bewilligte mit Beschluß vom 23. Januar 2003 Prozeßkostenhilfe. Mangels Anzeige der Vertretungsbereitschaft blieb die Beiordnung der Rechtsanwältin vorbehalten. Der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist wurde zurückgewiesen , weil er nicht von einem beim Kammergericht zugelassenen Rechtsanwalt gestellt worden war. Dieser Beschluß wurde dem Beklagten persönlich am 25. Januar 2003 und der erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten am 27. Januar 2003 zugestellt.
Am 7. Februar 2003 hat der Beklagte durch einen ande ren Prozeßbevollmächtigten , Rechtsanwalt J. , Berufung eingelegt. Zugleich hat er "gegen die Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist" Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Ferner hat er beantragt, ihm zur Begründung der Berufung eine Frist von einem Monat ab Zustellung des Wie-
dereinsetzungsbeschlusses, hilfsweise eine zweimonatige Frist ab Zustellung des Prozeßkostenhilfebewilligungsbeschlusses zu gewähren sowie, weiter hilfsweise, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. Schließlich hat er die Beiordnung seines neuen Prozeßbevollmächtigten beantragt. Mit Beschluß vom 7. Juli 2003 hat das Kammergericht den neuen Prozeßbevollmächtigten beigeordnet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist gewährt; den Antrag auf Wiedereinsetzung "gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist" hat es abgelehnt und die Berufung als unzulässig verworfen.
Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwer de. Durch Beschluß vom 12. Februar 2004 - zugestellt am 1. März 2004 - hat der Senat dem Beklagten Prozeßkostenhilfe bewilligt. Daraufhin hat dieser am 9. März 2004 wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Rechtsbeschwerde begründet.
II.
Dem Beklagten ist wegen der Versäumung der Frist zur Be gründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil ihn daran kein Verschulden trifft. Er ist zur Durchführung des Verfahrens erst seit der Bewilligung der Prozeßkostenhilfe durch den Senat in der Lage und hat rechtzeitig die Wiedereinsetzung beantragt und die Rechtsbeschwerde begründet.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4 ZP O) und zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Sie hat auch Erfolg, weil der Beklagte ohne sein Verschulden gehindert war, die Berufung innerhalb der gesetzlichen Frist (§ 520 Abs. 2 ZPO) zu begründen.
1. Das Berufungsgericht hat seine gegenteilige Auffassun g darauf gestützt , nach Zustellung der die Prozeßkostenhilfe bewilligenden Entscheidung hätte der Beklagte innerhalb der noch verbleibenden Zeit bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist die bereits mandatierte RechtsanwältinP. oder einen anderen Rechtsanwalt beauftragen können, einen Fristverlängerungsantrag zu stellen. Gegebenenfalls wäre die Frist mindestens um einen Monat verlängert worden.
2. Diese Auffassung hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist die V orschrift des § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 ZPO, bei deren wortgetreuer Befolgung die Begründung des Rechtsmittels innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses für die Einhaltung der Frist nachzuholen wäre, verfassungskonform auszulegen (BGH, Beschl. v. 9. Juli 2003 - XII ZB 147/02, NJW 2003, 3275, 3276; v. 25. September 2003 - III ZB 84/02, NJW 2003, 3782; vgl. hierzu Deichfuß BGH-Report 2003, 1157, 1362). Danach kann, falls die im Sinne von § 114 ZPO arme Partei im Zeitpunkt der Entscheidung über die Prozeßkostenhilfe nicht nur die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels, sondern auch die Frist zu seiner Begründung versäumt hat, die Frist zur Begründung des Rechtsmit-
tels mit Zustellung der Prozeßkostenhilfeentscheidung neu beginnen. Alternativ wird erwogen, daß erst mit der Zustellung der die Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist gewährenden Entscheidung eine einmonatige Begründungsfrist beginnt.
b) Von diesen Fällen unterscheidet sich der vorliegende zwar dadurch, daß hier die Berufungsbegründungsfrist noch nicht abgelaufen war, als der Beklagte Kenntnis von der Bewilligung der Prozeßkostenhilfe erhielt. Auch ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht etwa deswegen abgelehnt worden , weil die Berufungsbegründung nicht innerhalb der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist eingereicht wurde, sondern weil der Beklagte es unterlassen hat, rechtzeitig durch einen postulationsfähigen Rechtsanwalt einen Fristverlängerungsantrag zu stellen.
Diese Unterschiede sind jedoch grundsätzlich nicht erheblich . Die Stellung eines Fristverlängerungsantrags erfordert im Regelfall zwar keinen besonderen Zeit- und Arbeitsaufwand; dies ändert jedoch nichts daran, daß unter Zugrundelegung der Auffassung des Berufungsgerichts der armen Partei die ursprüngliche Begründungsfrist weitgehend verloren ginge. Ihr würde angesonnen , in der ihr verbleibenden Zeit - hier: zwei Werktage - einen Prozeßbevollmächtigten zu finden, der bereit ist, sich beiordnen zu lassen und einen Fristverlängerungsantrag zu stellen, wofür er sich einen zumindest summarischen Überblick über den Verfahrensstand verschaffen müßte. Eine Partei, die im Zeitpunkt der Zustellung der die Prozeßkostenhilfe bewilligenden Entscheidung die Rechtsmittelbegründungsfrist noch nicht versäumt hat, darf grundsätzlich nicht schlechter gestellt werden, als wenn sie auch diese Frist bereits versäumt hätte. Andernfalls hinge der Zeitraum, der ihr zur Einreichung der
Rechtsmittelbegründung zur Verfügung stünde, und das Maß an Anstrengungen , welche die Partei zur Fristwahrung auf sich nehmen müßte, von dem zufälligen und von der Partei nicht beeinflußbaren Umstand ab, ob über ihr Prozeßkostenhilfegesuch vor oder nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist entschieden wird.
Ob die Lage anders zu beurteilen wäre, wenn dem Bekla gten von der ursprünglichen Berufungsbegründungsfrist nicht nur zwei Werktage, sondern ein Zeitraum von einer Woche oder mehr verblieben wäre, braucht der Senat nicht zu entscheiden.
c) Danach lief im vorliegenden Fall die Berufungsbegrü ndungsfrist frühestens zwei Monate nach Zustellung der Prozeßkostenhilfeentscheidung ab, mithin am 25. März 2003. Sie war noch offen, als am 7. Februar 2003 Rechtsanwalt J. für den Beklagten - neben der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist - die Verlängerung der zuletzt genannten Frist beantragte.
Daß der Beklagte und RechtsanwaltJ. davon ausging en, die Berufungsbegründungsfrist sei bereits versäumt, und deshalb vorerst davon absahen , die Berufung zu begründen, war nicht schuldhaft. Sie befanden sich im Einklang mit dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wonach diese verfassungskonform auszulegen ist, gab es noch nicht. In seiner Rechtsauffassung mußte sich Rechtsanwalt J. durch einen Hinweis des Berufungsgerichts vom 11. Februar 2003 bestätigt fühlen, wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist komme eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht, weil die nach Zustel-
lung der Prozeßkostenhilfeentscheidung verbliebene Zeit zumindest zur Stellung eines Fristverlängerungsantrags ausgereicht hätte. Immerhin hatte Rechtsanwalt J. dem Berufungsgericht den richtigen Weg gewiesen, indem er zusätzlich beantragt hatte, dem Beklagten eine einmonatige Frist zur Berufungsbegründung ab Zustellung des Wiedereinsetzungsbeschlusses, hilfsweise eine zweimonatige Frist ab Zustellung des Prozeßkostenhilfebeschlusses zu "gewähren".
Hinzu kommt, daß der Beklagte zunächst - mangels Beiordnu ng des Rechtsanwalts J. - noch gar nicht in der Lage war, seinen neuen Prozeßbevollmächtigten mit der Einreichung der Berufungsbegründung zu beauftragen. Nach dem unwiderlegten Vortrag des Beklagten war Rechtsanwalt J. vor seiner Beiordnung nur bereit, die Berufung einzulegen und die Wiedereinsetzungsanträge zu stellen, nicht aber, die Berufung zu begründen. In einem dem Anwaltszwang unterliegenden Verfahren wird das der Rechtsverfolgung entgegenstehende Hindernis der Armut erst mit der Beiordnung eines Rechtsanwalts beseitigt (BGH, Urt. v. 22. März 2001 - IX ZR 407/98, WM 2001, 1038, 1039). Die Beiordnung des Rechtsanwalts J. hat das Berufungsgericht indes mit Beschluß vom 28. März 2003 zunächst abgelehnt. Diese Entscheidung hat es erst auf die Gegenvorstellung des Beklagten hin mit dem weiteren Beschluß vom 7. Juli 2003 korrigiert.
Zwar hätte der Beklagte nunmehr durch Rechtsanwalt J. die Berufungsbegründung fertigen und einreichen können. Da das Berufungsgericht wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat, lief jedoch - selbst unter Zugrundelegung des alternativen Lösungsansatzes (vgl. oben a) - keine neue Frist, die der
Beklagte einhalten mußte. Die Frage, ob die Berufungsbegründungsfrist mit Zustellung der Prozeßkostenhilfebewilligung oder mit Zustellung der die Wiedereinsetzung bewilligenden Entscheidung zu laufen beginnt, kann deshalb auch hier offen bleiben.
IV.
Die angefochtene Entscheidung ist somit aufzuheben, sowei t sie dem Beklagten nachteilig ist. Dem Beklagten ist wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Zur Verhandlung und neuen Entscheidung über die Beru fung ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Kreft Ganter Raebel
Kayser Cierniak
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War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
(1) Der Berufungskläger muss die Berufung begründen.
(2) Die Frist für die Berufungsbegründung beträgt zwei Monate und beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist kann auf Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden, wenn der Gegner einwilligt. Ohne Einwilligung kann die Frist um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt.
(3) Die Berufungsbegründung ist, sofern sie nicht bereits in der Berufungsschrift enthalten ist, in einem Schriftsatz bei dem Berufungsgericht einzureichen. Die Berufungsbegründung muss enthalten:
- 1.
die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten wird und welche Abänderungen des Urteils beantragt werden (Berufungsanträge); - 2.
die Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt; - 3.
die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; - 4.
die Bezeichnung der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie der Tatsachen, auf Grund derer die neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 531 Abs. 2 zuzulassen sind.
(4) Die Berufungsbegründung soll ferner enthalten:
- 1.
die Angabe des Wertes des nicht in einer bestimmten Geldsumme bestehenden Beschwerdegegenstandes, wenn von ihm die Zulässigkeit der Berufung abhängt; - 2.
eine Äußerung dazu, ob einer Entscheidung der Sache durch den Einzelrichter Gründe entgegenstehen.
(5) Die allgemeinen Vorschriften über die vorbereitenden Schriftsätze sind auch auf die Berufungsbegründung anzuwenden.
(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe innerhalb der Europäischen Union gelten ergänzend die §§ 1076 bis 1078.
(2) Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.