Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Jan. 2010 - I ZB 34/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 3.000 € festgesetzt.
Gründe:
- 1
- I. Der Gläubiger betreibt aus einem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Göppingen vom 19. November 2008 die Räumungsvollstreckung gegen den Schuldner. Der Schuldner hat gegen die vom Gerichtsvollzieher auf den 22. April 2009 anberaumte Zwangsräumung Gewährung von Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO beantragt, weil bei ihm im Falle einer zwangsweise durchgeführten Räumung eine akute Suizidgefahr bestehe, die nur durch seinen Verbleib in dem zu räumenden Wohnhaus abgewendet werden könne. Der Gläubiger ist der beantragten Gewährung von Räumungsschutz entgegengetreten.
- 2
- Das Vollstreckungsgericht hat die Zwangsvollstreckung in Bezug auf das vom Schuldner genutzte Wohnhaus längstens bis zum 31. Juli 2009 eingestellt und dem Schuldner aufgegeben, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben oder eine solche fortzuführen und die Aufnahme der Behandlung unverzüglich sowie den Verlauf bis zum 29. Mai 2009 durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers ist erfolglos geblieben.
- 3
- Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde hat der Gläubiger zunächst seinen Antrag auf Zurückweisung des vom Schuldner nachgesuchten Räumungsschutzes weiterverfolgt. Im Blick auf den Ablauf der vom Vollstreckungsgericht angeordneten Befristung des Vollstreckungsschutzes haben die Parteien das Rechtsbeschwerdeverfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
- 4
- II. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden dem Gläubiger auferlegt.
- 5
- 1. Die Erledigung der Hauptsache kann auch noch in der Rechtsmittelinstanz erklärt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2004 - I ZR 30/04, WRP 2005, 126; zur übereinstimmenden Erledigungserklärung im Revisionsverfahren vgl. BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - I ZR 201/07 Tz. 9 m.w.N.). Da durch die übereinstimmenden Erklärungen der Parteien das Verfahren betreffend den Vollstreckungsschutzantrag des Schuldners vom 5. März 2009 insgesamt erledigt ist, ist über alle bisher entstandenen Kosten des Verfahrens gemäß der auch im Verfahren der Rechtsbeschwerde geltenden Vorschrift des § 91a ZPO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands zu entscheiden. Dabei ist der mutmaßliche Ausgang des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu berücksichtigen (BGH WRP 2005, 126).
- 6
- 2. Danach sind die Kosten des Vollstreckungsschutzverfahrens dem Gläubiger aufzuerlegen. Eine für den Gläubiger günstige Entscheidung über die Kosten des Räumungsschutzverfahrens könnte nur erfolgen, wenn die Rechtsbeschwerde nach dem Sach- und Streitstand bei Eintritt des erledigenden Ereignisses Erfolg gehabt und zu einer Zurückweisung des Antrags des Schuldners auf Gewährung von Vollstreckungsschutz geführt hätte. Dies ist hier nicht der Fall. Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde war zwar gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO zulässig. In der Sache hätte sie jedoch keinen Erfolg gehabt, weil das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Vollstreckungsgerichts vom 1. April 2009 mit Recht zurückgewiesen hat.
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- a) Die Vorschrift des § 765a ZPO ermöglicht den Schutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen , die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Die Anwendung von § 765a ZPO kommt nur dann in Betracht, wenn im Einzelfall die Zwangsvollstreckungsmaßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis für den Schuldner führen würde (vgl. BGHZ 161, 371, 374; 163, 66, 71 f.; Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 765a Rdn. 5; Musielak/Lackmann, ZPO, 7. Aufl., § 765a Rdn. 5 ff.; Scheuch in Prütting/ Gehrlein, ZPO, § 765a Rdn. 8).
- 8
- Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen (BGHZ 163, 66, 72 ff.; BGH, Beschl. v. 22.11.2007 - I ZB 104/06, NJW 2008, 1000 Tz. 8; Beschl. v. 13.3.2008 - I ZB 59/07, NJW 2008, 1742 Tz. 9). Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (BGHZ 163, 66, 74; BGH NJW 2008, 1000 Tz. 9; NJW 2008, 1742 Tz. 9).
- 9
- b) Nach diesen Grundsätzen erweisen sich die Interessenabwägungen sowohl des Vollstreckungsgerichts als auch des Beschwerdegerichts als rechtsfehlerfrei.
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- Das Beschwerdegericht ist in Übereinstimmung mit dem Vollstreckungsgericht aufgrund des schriftlichen Gutachtens der Amtsärztin Dr. O. vom 15. Januar 2009 und deren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung des Beschwerdegerichts am 27. April 2009 davon ausgegangen, dass der Schuldner im Falle einer Zwangsräumung ernsthaft suizidgefährdet ist. Aus dem schriftlichen Gutachten der Amtsärztin ergibt sich des Weiteren, dass die beim Schuldner bestehende Suizidgefahr durch seine Unterbringung nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker oder durch andere Maßnahmen jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts nicht beseitigt werden konnte.
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- In einem solchen Fall ist eine befristete Einstellung des Zwangsvollstreckungsverfahrens grundsätzlich zu erwägen. Das Interesse des Gläubigers an der Fortsetzung des Verfahrens verbietet eine dauerhafte Einstellung, weil die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, nicht auf unbegrenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden kann (vgl. BGH, Beschl. v. 14.6.2007 - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719 Tz. 15; Beschl. v. 6.12.2007 - V ZB 67/07, NJW 2008, 586 Tz. 10). Die Einstellung ist zu befristen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen. Das gilt auch dann, wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Im Interesse des Gläubigers ist dem Schuldner zuzumuten, auf die Verbesserung seines Gesundheitszustands hinzuwirken und den Stand seiner Behandlung dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen (BGH NJW 2008, 586 Tz. 10).
- 12
- Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts. Es hat die Zwangsvollstreckung lediglich für die Dauer von vier Monaten einstweilen eingestellt und die Einstellung zudem auf die Räumung des Wohnhauses beschränkt. Ferner hat das Vollstreckungsgericht dem Schuldner aufgegeben , sich in ambulante oder - soweit erforderlich - stationäre fachärztliche Behandlung zu begeben und deren Aufnahme dem Vollstreckungsgericht unverzüglich nachzuweisen. Des Weiteren wurde dem Schuldner aufgegeben, den Verlauf der Behandlung durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen bis zum 29. Mai 2009 darzulegen. Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde des Gläubigers gegen die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts zurückgewiesen hat.
Bergmann Kirchhoff
Vorinstanzen:
AG Göppingen, Entscheidung vom 01.04.2009 - 1 M 379/09 -
LG Ulm, Entscheidung vom 05.05.2009 - 4 T 7/09 -
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Annotations
(1) Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Es ist befugt, die in § 732 Abs. 2 bezeichneten Anordnungen zu erlassen. Betrifft die Maßnahme ein Tier, so hat das Vollstreckungsgericht bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung die Verantwortung des Menschen für das Tier zu berücksichtigen.
(2) Eine Maßnahme zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen kann der Gerichtsvollzieher bis zur Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, jedoch nicht länger als eine Woche, aufschieben, wenn ihm die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 glaubhaft gemacht werden und dem Schuldner die rechtzeitige Anrufung des Vollstreckungsgerichts nicht möglich war.
(3) In Räumungssachen ist der Antrag nach Absatz 1 spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, dass die Gründe, auf denen der Antrag beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war.
(4) Das Vollstreckungsgericht hebt seinen Beschluss auf Antrag auf oder ändert ihn, wenn dies mit Rücksicht auf eine Änderung der Sachlage geboten ist.
(5) Die Aufhebung von Vollstreckungsmaßregeln erfolgt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 4 erst nach Rechtskraft des Beschlusses.
(1) Haben die Parteien in der mündlichen Verhandlung oder durch Einreichung eines Schriftsatzes oder zu Protokoll der Geschäftsstelle den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, so entscheidet das Gericht über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen durch Beschluss. Dasselbe gilt, wenn der Beklagte der Erledigungserklärung des Klägers nicht innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen seit der Zustellung des Schriftsatzes widerspricht, wenn der Beklagte zuvor auf diese Folge hingewiesen worden ist.
(2) Gegen die Entscheidung findet die sofortige Beschwerde statt. Dies gilt nicht, wenn der Streitwert der Hauptsache den in § 511 genannten Betrag nicht übersteigt. Vor der Entscheidung über die Beschwerde ist der Gegner zu hören.
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
- 1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder - 2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
(1) Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Es ist befugt, die in § 732 Abs. 2 bezeichneten Anordnungen zu erlassen. Betrifft die Maßnahme ein Tier, so hat das Vollstreckungsgericht bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung die Verantwortung des Menschen für das Tier zu berücksichtigen.
(2) Eine Maßnahme zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen kann der Gerichtsvollzieher bis zur Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, jedoch nicht länger als eine Woche, aufschieben, wenn ihm die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 glaubhaft gemacht werden und dem Schuldner die rechtzeitige Anrufung des Vollstreckungsgerichts nicht möglich war.
(3) In Räumungssachen ist der Antrag nach Absatz 1 spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, dass die Gründe, auf denen der Antrag beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war.
(4) Das Vollstreckungsgericht hebt seinen Beschluss auf Antrag auf oder ändert ihn, wenn dies mit Rücksicht auf eine Änderung der Sachlage geboten ist.
(5) Die Aufhebung von Vollstreckungsmaßregeln erfolgt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 4 erst nach Rechtskraft des Beschlusses.
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.