Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Juni 2011 - 5 StR 190/11
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
a) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit der Angeklagte in den Fällen II.1 bis 4 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
b) im gesamten Strafausspruch.
2. Die weitergehende Revision wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
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- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt (Einzelfreiheitsstrafen in den Fällen II.1 bis 4 je zwei Jahre, im Übrigen je ein Jahr) und zu Gunsten der Neben- und Adhäsionsklägerinnen S. und F. T. auf Schmerzensgeldzahlungen erkannt. Die Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Die auf die Fälle II.1 bis 4 der Urteilsgründe bezogenen Verfahrensrügen sind demnach unerheblich. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
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- 1. Der Senat bemerkt zu der ebenfalls erfolglos bleibenden Verfahrensrüge , die Vorschrift des § 229 Abs. 1 und 4 Satz 1 StPO sei verletzt, ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts das Folgende:
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- a) Der Rüge liegt zu Grunde:
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- Am zweiten Hauptverhandlungstag, dem 13. Oktober 2010 verlas die Vorsitzende der Jugendkammer ein ärztliches Attest, das der Zeugin M. L. bescheinigte, aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung nicht vor Gericht erscheinen zu können. Daraufhin traf die Vorsitzende folgende Verfügung:
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- „Weitere Termine zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung wer- den bestimmt auf: Montag, den 01.11.2010, 9.00 Uhr (Schiebetermin) Freitag, den 19.11.2010, 9.00 Uhr Dienstag, den 23.11.2010, 9.00 Uhr Die Zeugin M. L. ist erneut zu laden auf den 19.11.2010, 9.00 Uhr.“
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- Am 1. November 2010 wurde in der Zeit von 9.02 Uhr bis 9.05 Uhr die Hauptverhandlung fortgesetzt. Es wurde der den Angeklagten betreffende Auszug aus dem Bundeszentralregister verlesen, der keinen Eintrag enthielt.
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- b) Bei dieser Verfahrensgestaltung hat am dritten Tag der Hauptverhandlung eine Sachverhandlung stattgefunden. Eine solche liegt vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachverhaltsaufklärung betrifft (BGH, Urteil vom 11. Juli 2008 – 5 StR 74/08, BGHR StPO Sachverhandlung 9 mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 7. April 2011 – 3StR 61/11). Dies ist hier der Fall. Das Landgericht hat den Beweisstoff um den für den Rechtsfolgenausspruch relevanten Umstand erweitert, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist (vgl. BGH, Urteil vom 3. August 2006 – 3 StR 199/06, NJW 2006, 3077). Aus der von der Vorsitzenden am 13. Ok- tober 2010 vorgenommenen Qualifizierung der für den 1. November 2010 vorgesehenen Hauptverhandlung als „Schiebetermin“ folgt nichts Gegenteili- ges. Diese Bewertung war – weil der Inhalt der Hauptverhandlung vom 1. November 2010 offen geblieben ist – nur vorläufiger Natur und konnte im Blick auf die erfolgte Sachverhandlung keinerlei Bedeutung erlangen (anders der dem Beschluss des 3. Strafsenats vom 7. April 2011 – 3 StR 61/11 zugrunde liegende Sachverhalt).
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- 2. Der Schuldspruch hat hinsichtlich der Fälle II.1 bis 4 der Urteilsgründe keinen Bestand.
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- a) Das Landgericht hat sich aufgrund der Aussage der am 31. Mai 1981 geborenen Nebenklägerin Me. L. , der Tochter der Ehefrau des – die Taten bestreitenden – Angeklagten, davon überzeugt, dass der Angeklagte mit ihr zwischen dem 26. August 1993 und dem 30. Mai 1995 viermal den vaginalen Geschlechtsverkehr ausgeführt hat. Die Jugendschutzkammer hat die Bekundungen der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung , der Angeklagte habe sie bis ins Jahr 2007 vielfältig missbraucht , als glaubhaft bewertet und zur Begründung auf ein in der Hauptverhandlung erstattetes Gutachten einer Sachverständigen abgestellt. Diese habe „nachvollziehbar ausgeführt, dass die Geschädigte durchschnittlich in- tellektuell befähigt ist und eine uneingeschränkte Aussagefähigkeit besitzt. Die Sachverständige hat dargelegt, dass die Aussagequalität sehr oberflächlich sei und Angaben von Me. von Tathandlungen vor dem 18. Lebensjahr allein zu dürftig seien, als dass daraus allein auf deren Glaubwürdigkeit geschlossen werden könne. Zudem blieben Widersprüche bestehen und beeinträchtigten die Glaubwürdigkeit der Aussage im Ganzen, so z. B. zur Fra- ge vom Geschlechtsverkehr während der Menstruation (…). Die Widersprü- che oder Ungereimtheiten seien mit einer Art Aggravation zu erklären. Das bedeute, dass es sich um keine bewusste Falschaussage handele, sondern das übertriebene Betonen eines grundsätzlich stattgefundenen Ereignisses, um sich glaubhafter zu machen. Die Widersprüche um Menstruation oder, ob Analverkehr in der Dachgeschosswohnung stattgefunden habe, seien jedoch nicht restlos aufklärbar. Zudem seien alle Realkennzeichen, die gefunden werden könnten, für den angeklagten Zeitraum nicht zu spezifizieren und auch nach dem 18. Lebensjahr möglich. Die Sachverständige hat schließlich nachvollziehbar festgestellt, dass Übereinstimmungen in den Schilderungen der Schwestern Me. und M. dazu führten, dass die angeklagten Tathandlungen im 12. und 13. Lebensjahr erlebnisbasiert seien und somit eine Nullhypothese nicht in Betracht komme“ (UA S. 10 f.).
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- b) Diese Erwägungen vermögen keine richterliche Überzeugung hinsichtlich 17 Jahre zurückliegender sexueller Handlungen des Angeklagten zu begründen, sondern belegen höchstens einen vagen Verdacht (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2001 – 5 StR 520/01, StV 2002, 235).
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- aa) Das Landgericht ist der Bewertung der Sachverständigen gefolgt, dass die Aussage der Nebenklägerin solche Qualitätsmängel enthalte, die zur gänzlichen Untauglichkeit ihrer Angaben führen („Nullhypothese“, UA S. 11). Dieser Umstand verbietet sachlogisch eine – in anderen Fallkonstellationen freilich gebotene (vgl. Brause NStZ-RR 2010, 329, 330 f.) – Heranziehung belastender Indizien aus anderen Handlungen des Angeklagten. Es konnte vorliegend nicht darum gehen, den Beweiswert bewiesener belastender Umstände durch solche aus anderen Zusammenhängen zu verstärken. Wegen des vollständigen Ausfalls der Bekundungen der Nebenklägerin Me. L. waren belastende Umstände hinsichtlich sexueller Handlungen des Angeklagten mit dieser vor deren 18. Geburtstag gar nicht vorhanden.
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- bb) Darüber hinaus hat das Landgericht Missbrauchshandlungen des Angeklagten zu Lasten der Schwester der Nebenklägerin, M. L. , nicht fehlerfrei festgestellt.
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- Die Glaubhaftigkeit von deren Angaben wird nach dem im Urteil wiedergegebenen Sachverständigengutachten ohne Begründung angenommen. Soweit das Landgericht daneben auf vom Angeklagten gefertigte und am 1. Mai 2007 auf dessen Rechner aufgefundene Bilder von einem Geschlechtsverkehr mit M. L. abstellt, wobei diese „nicht glücklich ausgesehen habe“ (UA S. 9), vermag auch dieser Umstand die gebotene Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin (vgl. Brause NStZ 2007, 505, 506 mwN) nicht zu belegen. Nachdem der Angeklagte die Ausübung von Geschlechtsverkehr mit dieser Zeugin – ersichtlich nach Vollendung von deren 18. Lebensjahr (UA S. 6) – eingeräumt hat und der Zeitpunkt der auf den Bildern zu erkennenden Handlungen offen geblieben ist, besteht auch im Hinblick auf die Aussage der zur Zeit der Hauptverhandlung 30 Jahre alten Zeugin die Beweissituation „Aussage gegen Aussage“ mit den daraus abzuleitenden gesteigerten Darlegungserfordernissen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.), die unerfüllt geblieben sind.
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- 3. Die Sache bedarf demnach insoweit neuer Aufklärung und Bewer- tung. Die bisher nur abstrakt dargestellten „Widersprüche oder Ungereimtheiten“ werdenzu näherer Betrachtung der Entwicklung sämtlicher Aussagen, auch derjenigen im Familienkreis, nötigen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 2011 – 5 StR 418/10 mwN).
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- 4. Die Aufhebung der vier Schuldsprüche führt zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe. Der Senat hat auch die übrigen sieben ausgeurteilten Freiheitsstrafen von je einem Jahr aufgehoben, um dem neuen Tatgericht Gelegenheit zu einer vollständig neuen und notwendig differenzierteren Strafzumessung zu geben. Die Adhäsionsentscheidungen bleiben unberührt.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
(1) Eine Hauptverhandlung darf bis zu drei Wochen unterbrochen werden.
(2) Eine Hauptverhandlung darf auch bis zu einem Monat unterbrochen werden, wenn sie davor jeweils an mindestens zehn Tagen stattgefunden hat.
(3) Hat eine Hauptverhandlung bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden, so ist der Lauf der in den Absätzen 1 und 2 genannten Fristen gehemmt, solange
- 1.
ein Angeklagter oder eine zur Urteilsfindung berufene Person wegen Krankheit oder - 2.
eine zur Urteilsfindung berufene Person wegen gesetzlichen Mutterschutzes oder der Inanspruchnahme von Elternzeit
(4) Wird die Hauptverhandlung nicht spätestens am Tage nach Ablauf der in den vorstehenden Absätzen bezeichneten Frist fortgesetzt, so ist mit ihr von neuem zu beginnen. Ist der Tag nach Ablauf der Frist ein Sonntag, ein allgemeiner Feiertag oder ein Sonnabend, so kann die Hauptverhandlung am nächsten Werktag fortgesetzt werden.
(5) Ist dem Gericht wegen einer vorübergehenden technischen Störung die Fortsetzung der Hauptverhandlung am Tag nach Ablauf der in den vorstehenden Absätzen bezeichneten Frist oder im Fall des Absatzes 4 Satz 2 am nächsten Werktag unmöglich, ist es abweichend von Absatz 4 Satz 1 zulässig, die Hauptverhandlung unverzüglich nach der Beseitigung der technischen Störung, spätestens aber innerhalb von zehn Tagen nach Fristablauf fortzusetzen. Das Vorliegen einer technischen Störung im Sinne des Satzes 1 stellt das Gericht durch unanfechtbaren Beschluss fest.