Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Nov. 2008 - 3 StR 433/08
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II. 4. der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) das vorbezeichnete Urteil aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in drei Fällen schuldig ist, bb) im Gesamtstrafenausspruch und zur Adhäsionsentscheidung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie im Adhäsionsverfahren zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Nebenklägerin verurteilt. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur teilweisen Einstellung des Verfahrens sowie zur Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs und der Adhäsionsentscheidung; im Übrigen bleibt es ohne Erfolg.
- 2
- 1. Für die Verurteilung des Angeklagten im Fall II. 4. der Urteilsgründe fehlt es an einer Verfahrensvoraussetzung; die geahndete Tat wird von der erhobenen Anklage nicht erfasst. Mit der - unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen - Anklageschrift vom 11. Januar 2008 war dem Angeklagten zur Last gelegt worden, im Zeitraum von Januar 2005 bis August 2006 zu nicht näher bestimmbaren Tatzeitpunkten die Nebenklägerin in drei Fällen aufgefordert zu haben, sich im Schlafzimmer auf das Bett zu legen, wo er ihr Hose und Unterhose ausgezogen, sie an ihrer Scheide gestreichelt und gerieben habe; die Nebenklägerin habe auf seine Veranlassung zunächst an seinem Penis gerieben und er sich alsdann mit der anderen Hand vor ihren Augen selbst befriedigt habe. In einem dieser drei Fälle habe sie auch seinen Penis in den Mund genommen. In einem weiteren Fall habe er sich zu ihr in das Kinderzimmer begeben , sie aufgeweckt und mit der Hand an ihrer Scheide gerieben.
- 3
- Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es zu zwei der angeklagten Übergriffe im Schlafzimmer sowie zu der Tat im Kinderzimmer. Darüber hinaus hat es im Fall II. 4. der Urteilsgründe festgestellt, der Angeklagte sei bei einer anderen, zeitlich nicht näher bestimmbaren Gelegenheit in der Zeit von August 2005 bis August 2006 mit der Nebenklägerin allein im Bad gewesen und habe ihr die Haare gemacht. Dabei habe er mit einer Hand an ihre nackte Scheide gefasst und daran gerieben.
- 4
- Das letztgenannte, von der Nebenklägerin - wie die Urteilsgründe mitteilen - erstmals in der Hauptverhandlung berichtete Geschehen weicht angesichts der Besonderheiten des der Anklageerhebung zugrunde liegenden Ermittlungsergebnisses so deutlich von den in der Anklageschrift geschilderten geschichtlichen Vorgängen ab, dass es sich nicht mehr als eine von der Anklage bezeichnete Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO darstellt. Zwar muss das Gericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden; dabei muss aber stets die Identität der Tat gewahrt bleiben (BGH NStZ-RR 1996, 203). Dies ist hier nicht der Fall.
- 5
- Die auf den Angaben der lernbehinderten, in zeitlicher Hinsicht nicht orientierten Nebenklägerin beruhenden Anklagevorwürfe konnten im Ermittlungsverfahren nur in Bezug auf den Tatort und die Tathandlungen konkretisiert werden , nicht aber in Bezug auf eine Tatzeit oder -häufigkeit. Diese Schwierigkeiten hatten die Staatsanwaltschaft veranlasst, hinsichtlich etwaiger weiterer Taten das Verfahren gemäß § 154 Abs. 1 StPO vorläufig einzustellen. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem von der Strafkammer festgestellten Übergriff des Angeklagten an einem anderen Tatort, mit anderen Tatmodalitäten und weiteren, in der Anklage nicht geschilderten Begleitumständen um ein anderes als das angeklagte Geschehen, so dass keine Tatidentität mehr vorliegt. Eine Nachtragsanklage ist nicht erhoben worden; der von der Kammer am letzten Tag der Hauptverhandlung erteilte Hinweis war nicht ausreichend (vgl. Engelhardt in KK 6. Aufl. § 266 Rdn. 2).
- 6
- Gemäß § 354 Abs. 1, § 206 a Abs. 1 StPO ist das Verfahren demgemäß in dem genannten Fall einzustellen; dies führt wegen des Wegfalls der insoweit verhängten Einzelstrafe zur Aufhebung der Gesamtstrafe und - weil sich die Strafkammer für die Zuerkennung des Schmerzensgeldes auf vier Fälle des sexuellen Missbrauchs gestützt hat - zur Aufhebung der Adhäsionsentscheidung.
- 7
- 2. Im verbleibenden Umfang der Verurteilung hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
- 8
- 3. Der neue Tatrichter wird bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen haben, dass das Urteil die Anklage nicht erschöpft, weil über den dritten angeklagten Fall des sexuellen Missbrauchs im Schlafzimmer eine Entscheidung nicht ergangen ist. Dies ist nachzuholen (vgl. BGH NJW 1993, 3338, 3339).
Becker Miebach Sost-Scheible
Hubert Schäfer
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Annotations
(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,
- 1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder - 2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.
(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.
(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.
(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.
(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.
(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.