Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Aug. 2016 - 1 StR 334/16
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. August 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu Ziffer 2 auf dessen Antrag – beschlossen:
Gründe:
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- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 17 tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Herstellen von kinderpornographischen Bildaufnahmen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
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- 1. Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250 StPO durch Verlesung einer Stellungnahme einer Diplom-Psychologin, bei der die Geschädigte wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung war.
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- a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
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- Im Vorfeld der Hauptverhandlung ist auf Anordnung der Vorsitzenden die Stellungnahme der Diplom-Psychologin, die als Sachverständige nicht allgemein vereidigt war, dem Verteidiger zur Kenntnis gebracht worden. Diese Stellungnahme befasste sich mit dem Inhalt der Behandlung der Geschädigten in ihrer Praxis sowie den Diagnosen und Tatfolgen. Zugleich ist durch die Vorsit- zende mitgeteilt worden, dass das Gericht beabsichtige, „die Tatfolgen durch Verlesung der beigefügten Stellungnahme festzustellen“. In der Hauptverhandlung ist diese Stellungnahme sodann verlesen worden, ohne dass Erörterungen hierzu stattgefunden hätten. Eine Beanstandung als unzulässig erfolgte nicht. Von keinem Verfahrensbeteiligten ist ein Einverständnis zur Verlesung erteilt worden. Es ist weder ein Grund für die Verlesung angegeben, noch ist ein Beschluss hierzu gefasst worden. Die Diplom-Psychologin ist nicht in der Hauptverhandlung vernommen worden.
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- Im Urteil ist ausgeführt, dass die Feststellungen hinsichtlich der belastenden Tatfolgen für die Geschädigte auf dem Attest der Diplom-Psychologin beruhten und diese Folgen strafschärfend zu berücksichtigen seien.
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- b) Die Rüge ist zulässig. Der Angeklagte hat einen Sachverhalt vorgetragen , der es dem Revisionsgericht ohne weiteres ermöglicht, allein aufgrund seines Vortrags zu überprüfen, ob der gerügte Rechtsfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen werden (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2014 – 3 StR 167/14, wistra 2015, 148 und vom 29. April 2015 – 1StR 235/14, NStZ-RR 2015, 278; Urteil vom 15. Dezember 2015 – 1 StR 236/15). Damit sind die Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erfüllt. Insbesondere bedurfte es entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht des Vortrags, dass die vor der Hauptverhandlung erfolgte Mitteilung zur beabsichtigten Verlesung auch an Staatsanwaltschaft und Nebenklägervertreter erfolgt ist. Denn die Frage, ob eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vorlag, kann von der vor der Hauptverhandlung erfolgten und in dieser auch nicht wieder thematisierten bloßen Ankündigung, etwas verlesen zu wollen , nicht beeinflusst werden. Zumal diese Absichtserklärung ohne Angabe eines Verlesungsgrundes erfolgte.
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- c) Die Rüge zeigt auch einen Rechtsfehler auf. Die Verlesung der Stellungnahme im Wege des Urkundsbeweises war nicht zulässig. Die Voraussetzungen der die vernehmungsersetzende Verlesung ausnahmsweise gestattenden § 251 Abs. 1 StPO oder § 256 StPO lagen nicht vor; einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO bedurfte es nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585).
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- aa) Schon die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegen nicht vor. Ein Einverständnis mit der Verlesung ist weder vom Angeklagten oder seinem Verteidiger noch seitens der Staatsanwaltschaft ausdrücklich erteilt worden. Eine stillschweigende Zustimmung liegt nicht vor. Eine solche kommt überhaupt nur in Betracht, wenn auf Grund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst waren (BGH, Beschluss vom 12. Juli 1983 – 1 StR 174/83, NJW 1984, 65 f.; OLG Köln, Beschluss vom 15. September 1987 – Ss 450/87, NStZ 1988, 31; vgl. auch BGH, Urteil vom 17. Mai 1956 – 4 StR 36/56, BGHSt 9, 230, 232 f.; Löwe/Rosenberg-Sander/ Cirener, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Zu keinem Zeitpunkt ist eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte oder durch Einverständnis legitimierte Verlesung thematisiert worden. Auch ist die Anordnung entgegen § 251 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO vom Gericht nicht beschlossen und der Grund der Verlesung nicht bekanntgegeben worden. Damit konnte dem Angeklagten und dem Verteidiger aber unter keinen Umständen bewusst sein, dass es entscheidend auf ihre Zustimmung ankommen könnte. Allein ihr Schweigen auf eine Verlesung kann daher nicht dahin gedeutet werden, dass sie mit der Verlesung einverstanden gewesen wären.
- 10
- 2. a) Der Senat kann jedoch ein Beruhen des im Übrigen revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Schuldspruchs auf diesem Rechtsfehler ausschließen. Das Landgericht hat die Stellungnahme für seine diesbezügliche Überzeugung nicht herangezogen, sondern sich insoweit auf andere gewichtige Beweismittel, u.a. das weitreichende Geständnis des Angeklagten, gestützt.
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- b) Der gesamte Strafausspruch kann hingegen wegen des Rechtsfehlers keinen Bestand haben. Denn die Strafzumessung ist ausweislich der Urteilsgründe maßgeblich durch die Tatfolgen, wie sie sich nur aus der Stellungnahme der Diplom-Psychologin ergeben, beeinflusst.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer Erklärung ersetzt werden.
(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.
(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.
(1) Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten kann durch die Verlesung eines Protokolls über eine Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm erstellte Erklärung enthält, ersetzt werden,
- 1.
wenn der Angeklagte einen Verteidiger hat und der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte damit einverstanden sind; - 2.
wenn die Verlesung lediglich der Bestätigung eines Geständnisses des Angeklagten dient und der Angeklagte, der keinen Verteidiger hat, sowie der Staatsanwalt der Verlesung zustimmen; - 3.
wenn der Zeuge, Sachverständige oder Mitbeschuldigte verstorben ist oder aus einem anderen Grunde in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann; - 4.
soweit das Protokoll oder die Urkunde das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens betrifft.
(2) Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten darf durch die Verlesung des Protokolls über seine frühere richterliche Vernehmung auch ersetzt werden, wenn
- 1.
dem Erscheinen des Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen; - 2.
dem Zeugen oder Sachverständigen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann; - 3.
der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte mit der Verlesung einverstanden sind.
(3) Soll die Verlesung anderen Zwecken als unmittelbar der Urteilsfindung, insbesondere zur Vorbereitung der Entscheidung darüber dienen, ob die Ladung und Vernehmung einer Person erfolgen sollen, so dürfen Protokolle und Urkunden auch sonst verlesen werden.
(4) In den Fällen der Absätze 1 und 2 beschließt das Gericht, ob die Verlesung angeordnet wird. Der Grund der Verlesung wird bekanntgegeben. Wird das Protokoll über eine richterliche Vernehmung verlesen, so wird festgestellt, ob der Vernommene vereidigt worden ist. Die Vereidigung wird nachgeholt, wenn sie dem Gericht notwendig erscheint und noch ausführbar ist.
(1) Verlesen werden können
- 1.
die ein Zeugnis oder ein Gutachten enthaltenden Erklärungen - a)
öffentlicher Behörden, - b)
der Sachverständigen, die für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt sind, sowie - c)
der Ärzte eines gerichtsärztlichen Dienstes mit Ausschluss von Leumundszeugnissen,
- 2.
unabhängig vom Tatvorwurf ärztliche Atteste über Körperverletzungen, - 3.
ärztliche Berichte zur Entnahme von Blutproben, - 4.
Gutachten über die Auswertung eines Fahrtschreibers, die Bestimmung der Blutgruppe oder des Blutalkoholgehalts einschließlich seiner Rückrechnung, - 5.
Protokolle sowie in einer Urkunde enthaltene Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen, soweit diese nicht eine Vernehmung zum Gegenstand haben und - 6.
Übertragungsnachweise und Vermerke nach § 32e Absatz 3.
(2) Ist das Gutachten einer kollegialen Fachbehörde eingeholt worden, so kann das Gericht die Behörde ersuchen, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung des Gutachtens in der Hauptverhandlung zu beauftragen und dem Gericht zu bezeichnen.
(1) Die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises erfolgt durch den Vorsitzenden.
(2) Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht.
(1) Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten kann durch die Verlesung eines Protokolls über eine Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm erstellte Erklärung enthält, ersetzt werden,
- 1.
wenn der Angeklagte einen Verteidiger hat und der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte damit einverstanden sind; - 2.
wenn die Verlesung lediglich der Bestätigung eines Geständnisses des Angeklagten dient und der Angeklagte, der keinen Verteidiger hat, sowie der Staatsanwalt der Verlesung zustimmen; - 3.
wenn der Zeuge, Sachverständige oder Mitbeschuldigte verstorben ist oder aus einem anderen Grunde in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann; - 4.
soweit das Protokoll oder die Urkunde das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens betrifft.
(2) Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten darf durch die Verlesung des Protokolls über seine frühere richterliche Vernehmung auch ersetzt werden, wenn
- 1.
dem Erscheinen des Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen; - 2.
dem Zeugen oder Sachverständigen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann; - 3.
der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte mit der Verlesung einverstanden sind.
(3) Soll die Verlesung anderen Zwecken als unmittelbar der Urteilsfindung, insbesondere zur Vorbereitung der Entscheidung darüber dienen, ob die Ladung und Vernehmung einer Person erfolgen sollen, so dürfen Protokolle und Urkunden auch sonst verlesen werden.
(4) In den Fällen der Absätze 1 und 2 beschließt das Gericht, ob die Verlesung angeordnet wird. Der Grund der Verlesung wird bekanntgegeben. Wird das Protokoll über eine richterliche Vernehmung verlesen, so wird festgestellt, ob der Vernommene vereidigt worden ist. Die Vereidigung wird nachgeholt, wenn sie dem Gericht notwendig erscheint und noch ausführbar ist.